Selbstjustiz in Lateinamerika

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Die Geschichte der Selbstjustiz in Lateinamerika reicht bis in die Kolonialzeit zurück. Die in der Literatur gelegentlich auch als die "dunkle Seite der Demokratie" bezeichnete Selbstjustiz ist in der Gegenwart so häufig, dass sie ein ernsthaftes soziales und politisches Problem darstellt, zumal sie sich nicht selten auch gegen Vertreter des Staates richtet (z.B. als Versuch entrechteter Gruppen, einen aufkeimenden politischen Willen durchzusetzen).


Entwicklung

Die ersten Opfer von Selbstjustiz in Lateinamerika waren zu Kolonialzeiten Indianer und Sklaven, die sich gegen die soziale Ordnung und die ungleiche Verteilung von Eigentum wehrten. Die indigenen Gemeinschaften nutzten vor allem gesellschaftliche Zwangsmaßnahmen und öffentliche Beschämung als Bestrafungsmethoden. Doch wirtschaftliche Stagnation, anhaltende Korruption und wachsende Unzufriedenheit mit Demokratisierungsprozessen begünstigen immer gefährlicher werdende Maßnahmen der Selbstjustiz, bis hin zur öffentlichen Verbrennung oder Erhängen von Personen. Seit den 1990er Jahren ist eine Zunahme an populären Fällen von Lynchjustiz in Lateinamerika durch große Gemeinschaften gegenüber Verdächtigen Personen zu verzeichnen. So hat bspw. die UN Mission in Guatemala 482 Fälle von Lynchjustiz zwischen 1996 (Ende des Bürgerkrieges) und 2002 dokumentiert. Fast alle Fälle ereigneten sich in ländlichen Regionen mit ansonsten relativ geringen Kriminalitätsraten. Eine strafrechtliche Verfolgung von Selbstjustiz bleibt jedoch meistens aus, da in vielen Ländern Lateinamerikas kein geeigneter Rechtsrahmen vorhanden ist oder die geltenden Rechtsnormen von Teilen der Bevölkerung nicht anerkannt werden.

Ursachen

Politische Unzufriedenheit

Versteht man Selbstjustiz als Ausdruck eines Veränderungswillens von staatlichen Unzulänglichkeiten, als Herausforderung der staatlichen Legitimität und als Beitrag zur Anregung von Reformen der Justiz sowie die Stärkung von Bürgerrechten, so handelt es sich heute meist um politische Akte, die aus einem „bottom-up“ Prozess heraus entstehen. Und nicht mehr, wie historisch zu beobachten, um eine „top-down“ Selbstjustiz, also vom Staat gegenüber Bürgern, Landbesitzern gegenüber Bauern o.ä. Diese so genannte „dunkle Seite der Demokratie“ ist hauptsächlich ein Phänomen in armen und marginalisierten Gemeinschaften, die vom Profit des modernen demokratischen Staates ausgegrenzt sind, sowohl von der staatlichen Gewährleistung von Sicherheit als auch von der Aufteilung von Besitz und Eigentum. Selbstjustiz wird von diesen Gemeinschaften als Möglichkeit begriffen, nach jahrzehntelanger Unterdrückung und Überfällen durch staatliche Militärs, lokale Eliten, die globalisierte Wirtschaft und andere Gegner, die eigene Autonomie und Selbstbestimmung wiederzuerlangen. Selbstjustiz stellt folglich nicht zwingend den vordergründigen Versuch dar kriminelle Aktivitäten von einzelnen Personen zu bestrafen, sondern darüber hinaus als Gemeinschaft kollektiv den Status des Agierenden wiederzuerlangen und den des Opfers abzulegen. Das mangelnde Vertrauen in die Polizeikräfte, welches zumeist durch Korruption bedingt ist, der unzureichende Zugang zu formellen Institutionen der Justiz sowie kaum Bürgersicherheit sind hierbei begünstigende Faktoren, das „Recht in die eigene Hand zu nehmen“.

Mangelnde Sicherheit

Die zunehmenden Fälle von Selbstjustiz in Lateinamerika stehen also auch in Zusammenhang mit steigenden Kriminalitätsraten und dem Gefühl von mangelnder Sicherheit. Selbstjustiz ist nicht zwingend gegen den Staat gerichtet, doch setzt sie dessen Existenz voraus, um einen politischen Akt vollziehen zu können und als Ruf nach Rechtstaatlichkeit verstanden zu werden. Es ist ein Irrglaube anzunehmen, dass Selbstjustiz nur auftaucht, wenn die Polizei ihren Aufgaben nicht nachkommt, sondern auch dann, wenn das Vertrauen in rechtstaatliche Institutionen allgemein schwindet. Dieser allgemeine Vertrauensverlust drückt sich dann in dem Misstrauen gegenüber Polizisten und Justizbeamten aus, was durch Korruptionsfälle in der Polizei noch verstärkt wird. Das folglich aufkeimende Gefühl bestimmter, nicht geschützter und marginalisierter Gemeinschaften, mit dem Rücken zur Wand zu stehen und keine rechtliche Alternative zu haben, ist ursächlich für die zunehmenden Fälle von Selbstjustiz in Lateinamerika. Auf Gewalt und Unrecht wird mit Gegengewalt geantwortet. Zahlreiche internationale Organisationen sehen überdies die Existenz der Todesstrafe in einigen Ländern Lateinamerikas als Ursache für die Bereitschaft von Gemeinschaften, Verbrecher, die nicht vom Staat verurteilt wurden oder nicht angemessen, ebenfalls mit dem Tode zu bestrafen.

Länderbeispiel: Guatemala

Die meisten Fälle von Selbstjustiz ereignen sich in den Hochland-Regionen Guatemalas, doch auch in den restlichen Teilen des Landes ist eine verstärkte Eskalation der Gewalt zu verzeichnen. Doch wie auch in anderen Ländern Lateinamerikas besteht bei der genauen Anzahl der Fälle ein Datenproblem, da diese entweder bewusst nicht erfasst werden oder die Verschwiegenheit der Gemeinschaften eine Aufnahme der Fälle von vornherein verhindert. Nur die wenigsten Morde und Gewalttaten werden aufgeklärt oder bestraft, weshalb viele Dorfbewohner in Guatemala zur Selbstjustiz greifen. Der sechsunddreißig Jahre andauernde Bürgerkrieg (1960–1996) hat nach seinem Ende ein Machtvakuum hinterlassen, in dem Polizei und Justiz hilflos erscheinen oder durch Korruption auffallen. Selbstjustiz ist in diesem Land kein neues Phänomen, sondern hat im Gegenteil eine lange „Tradition“. Während des Bürgerkrieges organisierte die staatliche Armee zivile Patrouillen zur Selbstverteidigung (POC), die als äußerst brutal und gewaltsam galten. Nach der Auflösung der gefürchteten Truppen mit dem Ende des Bürgerkrieges fühlte sich keine Instanz mehr für die Sicherheit zuständig, beziehungsweise wurde nicht vom Staat beauftragt und ein Machtvakuum konnte entstehen. Die mit internationaler Hilfe neu geschaffene Zivilpolizei wird von der Regierung Guatemalas nur halbherzig unterstützt und ausgestattet, sodass in abgelegenen Dörfern keine Polizeiposten vorhanden sind sowie ein Mangel an Dienstfahrzeugen wie auch dem Zugang zu Gerichten fehlt. Von Selbstjustiz besonders betroffen sind Regionen, in denen die Armee während des Krieges die Zivilbevölkerung besonders stark tyrannisierte. Die Gewaltschwelle in diesen Regionen liegt besonders tief, gleichzeitig sind Frustration und Widerstand besonders stark ausgeprägt. Hier bestrafen Nachbarn Diebe oder Mörder in Eigenregie, aber in zahlreichen Fällen auch Vertreter des Staates wie Gemeindebeamte, Polizisten oder Gerichtsdiener. Die Zunahme an Selbstjustiz äußert sich in verschiedenen Formen: Bürger erzwingen die Absetzung eines korrupten Bürgermeisters durch Gewaltanwendung, weigern sich Gesetze anzuwenden, die ihre Gemeinschaft nicht hinreichend repräsentieren oder hindern die Polizei an Festnahmen innerhalb der Gemeinschaft. Brandstiftungen an Staatsgebäuden sind keine seltene Erscheinung. Nur selten kommt es zum Prozess, da kaum jemand der Gemeinschaft bereit ist gegen seinen Nachbarn o.ä. auszusagen. Außerdem greift die Polizei nur selten ein, sodass eine Aufnahme und Verfolgung der Fälle von vornherein ausgeschlossen ist.

Lösungsansatz

Ein Versuch, die Selbstjustiz in Guatemala einzuschränken und den bislang rechtlich unterrepräsentierten und marginalisierten Mayas verstärkten Zugang zu rechtlichen Instanzen zu ermöglichen besteht in der Einführung von sogenannten Indiovertretern. Hierbei handelt es sich um Strafverteidiger speziell für Indios, die in der entsprechenden Muttersprache mit den Mandanten kommunizieren können. So kann ein Großteil der Bevölkerung zumindest in Bezug auf die zuvor bestandene Sprachbarriere, rechtlich besser vertreten werden.

Literatur

  • Angelina Snodgras Godoy, When "Justice" Is Criminal: Lynchings in Contemporary Latin America, Theory and Society, Vol. 33, No. 6, Springer Verlag 2004, pp. 621-651
  • Daniel M. Goldstein, "In Our Own Hands": Lynching, Justice, and the Law in Bolivia, American Ethnologist, Vol. 30, No. 1, Blackwell Publishing 2003, pp. 22-43
  • David Kowalewski, Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002
  • Enrique Desmond Arias und Daniel M. Goldstein, Violent Democracies in Latin America, Duke University Press 2010
  • Peter Waldmann: Der Anomische Staat: Über Recht, öffentliche Sicherheit und Alltag in Lateinamerika, Leske + Budrich Verlag 2002.

Weblinks

Videos