Geschichte und Kriminologie

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Manche Wissenschaften sind undenkbar ohne die historische Dimension ihres Gegenstands. Literaturwissenschaft ohne Literaturgeschichte? Unmöglich. Musikwissenschaft ohne Musikgeschichte? Undenkbar. Andere Wissenschaften hingegen werden von der Gegenwart an der kurzen Leine gehalten, weil sie angesichts drängender Gefahren konkrete Vorschläge unterbreiten sollen: die Probleme des heutigen Menschenhandels, das globale Drogenproblem, die Herausforderung durch den internationalen Terrorismus - das sind einige der Themen der Kriminologie. Die Kriminologie versteht sich als Gegenwartswissenschaft. Sie beschreibt die Jugend- oder die Umwelt- oder die Wirtschafts- und Finanzkriminalität heute: diese will sie untersuchen - und die Wirksamkeit unterschiedlicher Maßnahmen der Bekämpfung vergleichen und damit einen Beitrag leisten zu deren Bewältigung. Das heißt nicht, dass die historische Dimension völlig unbedeutend ist: aber man kann sich die Kriminologie nicht nur ohne die Geschichte vorstellen - sie existiert auch weitgehend ohne Blick in die Vergangenheit. Man kann geradezu von einem "Nicht-Verhältnis" zwischen Geschichte und Kriminologie sprechen. Das war vor allem in der Frühzeit der Kriminologie der Fall. Inzwischen gab es eine Annäherung. Aber von dem potentiellen Traumpaar, als das ich mir die beiden Disziplinen vorstelle, kann die Rede noch nicht sein. Und auf absehbare Zeit wird sich das wohl auch nicht ändern. Wie und warum sich die Dinge so entwickelten und verhalten - das ist das Thema dieses Beitrags.

Aus der Sicht der Historiker sah das so aus, und ich zitiere Gerd Schwerhoff von der TU Dresden, einen der Protagonisten der historischen Kriminalitätsforschung:

Für die gegenwartsbezogenen Wissenschaften, nicht nur für die Jurisprudenz, sondern auch für die Gesellschaftswissenschaften, ist eine Beschäftigung mit Kriminalität seit Langem selbstverständlich, so selbstverständlich, dass sich mit der Kriminologie ein eigener Wissenschaftszweig entwickelt hat. Historiker taten sich allerdings meist schwer mit dem Thema ‚Kriminalität‘. Neben den Rechtshistorikern, die sich vor allem auf die Entwicklung der Rechtsnormen konzentrierten, die Rechtspraxis dagegen eher stiefväterlich behandelten und die sanktionierten Taten kaum betrachteten, waren es im deutschsprachigen Raum bis in die jüngere Vergangenheit eher wenige Exoten, die sich mit Kriminalität beschäftigten.

Und wie sah es aus der Sicht der Kriminologie aus? Warum interessierte sie sich nicht für die Geschichte der Kriminalität und der Strafen - und, wie wir sehen werden, nicht wirklich für die Geschichte des eigenen Fachs? Auf die Frage der Fachgeschichte kommen wir später noch zurück, aber ein Gesichtspunkt ist natürlich naheliegend: der Begriff der Kriminologie stammt aus dem Jahre 1885. Die Etablierung der Kriminologie als Wissenschaft an den Universitäten begann erst im 20. Jahrhundert. Da hat sich noch nicht so viel Geschichte angehäuft, dass eine Fach-Historiographie sich von selbst aufdrängte.

Warum aber interessierte sich die Kriminologie nicht für die Geschichte von Verbrechen und Strafen? Der Hauptgrund dafür dürfte darin gelegen haben, dass sie von Anfang an von einer ganz anderen Bezugsdisziplin fasziniert war, nämlich der biologischen Evolutionstheorie von Charles Darwin und den Folgerungen, die man aus dieser für die Erklärung des Verbrechens ziehen konnte. Zwar wird mit Recht immer wieder darauf hingewiesen, dass die Theorien des Turiner Arztes, Psychiaters und Kriminalanthropologen Cesare Lombroso mehrheitlich auf Ablehnung stießen (Baer, Näke, v. Liszt), doch ist ebenso eindeutig nachweisbar, dass die Kriminologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sich auf die eine oder andere Weise doch ganz überwiegend auf der Suche nach Tätertypen befand und dass der Gedanke an biologisch (oder anders) prädeterminierte Delinquenz den Diskurs der Disziplin in diesen Jahrzehnten dominierte - und dies zu einem Großteil übrigens selbst bei den Kritikern Lombrosos, so dass es sich doch lohnt, einen Blick auf seine Theorien zu werfen.

Lombroso, der seine wichtigsten Werke zwischen 1876 und 1909 veröffentlichte, war zu der Überzeugung gelangt, dass manche Menschen zwar aufgrund von sozialen Umständen oder Zufällen zu Straftätern würden, dass aber die wirklichen Verbrecher von der Natur dazu bestimmt worden seien. Die "geborenen Verbrecher" (Enrico Ferri) unterschieden sich von normalen Menschen durch körperliche Merkmale. Biologisch sei der homo delinquens, bzw. der homo criminalis eine Unterart des homo sapiens, und zwar Vertreter einer früheren Entwicklungsphase des Menschengeschlechts, bzw. eines evolutionären Rückschlags, auch Atavismus genannt. Nach seiner eigenen, später von seiner Tochter und Mitarbeiterin Gina noch ausgeschmückten, Darstellung machte Lombroso diese Entdeckung im Jahre 1872, als er die Hirnschale eines damals berühmt-berüchtigten Räubers namens Giuseppe Villella in Händen hielt. Dieser Totenschädel war anders als die anderen: da waren "die enormen Kiefer, die hohen Backenknochen", wie sie nur "bei Verbrechern, Wilden und Affen gefunden werden", das alles wiederum gepaart mit dem, was man über die Verbrecher sowieso schon wusste, sich aber nicht erklären konnte: "die Fühllosigkeit gegen Schmerzen, (...) und die unwiderstehliche Begierde nach Bösem um seiner selbst willen" - all dies fügte sich beim Anblick dieses Verbrecherschädels zu einer neuartigen Erkenntnis: "Beim Anblick dieser Hirnschale glaubte ich ganz plötzlich, das Problem der Natur des Verbrechens zu schauen. Ein atavistisches Wesen, das in seiner Person die wilden Instinkte der primitiven Menschheit und der niederen Tiere wieder hervorbringt." Lombroso und seinen Mitstreitern gelang es sogar, den Typus des Diebes vom Typus des Vergewaltigers und diesen vom Typus des Mörders aufgrund körperlicher Merkmale zu unterscheiden. Ich zitiere aus der deutschen Übersetzung des Uomo delinquente von 1894 (S. 229-231)): „Diebe haben im allgemeinen sehr bewegliche Gesichtszüge und Hände; ihr Auge ist klein, unruhig, oft schielend; die Brauen gefältet und stoßen zusammen; die Nase ist krumm oder stumpf. Der Bart spärlich, das Haar seltener dicht, die Stirn fast immer klein und fliehend, das Ohr oft henkelförmig abstehend (...). - Die Mörder haben einen glasigen, eisigen, starren Blick, ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtsnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich, die Lippen dünn, die Eckzähne groß (...). - Im allgemeinen sind bei Verbrechern von Geburt die Ohren henkelförmig, das Haupthaar voll, der Bart spärlich, die Stirnhöhlen gewölbt, die Kinnlade enorm, das Kinn viereckig oder hervorragend, die Backenknochen breit – kurz ein mongolischer oder bisweilen negerähnlicher Typus vorhanden.“

Die Vorstellung, dass äußere Merkmale wie eine bestimmte Schädelform oder zusammengewachsene Augenbrauen auf eine atavistische, d.h. niedrigere und gewalttätigere Anlage zum Verbrecher hindeuteten, und dass Verbrecher mit den aggressiveren, nicht kulturell domestizierten Vorfahren des heutigen Menschen durch eine direkte Verwandtschaft verbunden seien, fördert nun offensichtlich nicht gerade das Interesse an der Geschichte im Sinne einer idiographischen Wissenschaft, also Ereignisgeschichte, die es "mit individuellen Vorgängen und Zuständen der geschichtlichen Welt" (Wieacker 1967: 17) zu tun hat. Die Geschichte, für die sich die damalige Kriminologie interessierte, war einzig und allein die Geschichte der Entstehung der Arten im Sinne von Darwins On the Origin of Species (1859).

So sprach denn auch Lombroso zeitlebens, wenn er die von ihm mitbegründete und mit-angeführte Wissenschaft meinte, nicht von der "Kriminologie" oder der "Wissenschaft vom Verbrechen" (Mergen 1961; Baumann 2006: 16), sondern immer nur von der Wissenschaft vom Verbrecher - und die nannte er, um keinen Zweifel an der Leitfunktion der Anthropologie aufkommen zu lassen, ganz bewusst "Kriminalanthropologie" (antropologia criminale, anthropologie criminelle). Gewiss gab es daneben noch konkurrierende Ideen - man denke etwa an die seit 1857 von Bénédict Auguste Morel propagierte Degenerationstheorie - oder an Enrico Ferris Kriminalsoziologie, die das Verbrechen ausdrücklich als soziale Erscheinung (1883) untersuchen wollte. Doch so wie einerseits Lombroso durchaus bereit war, auch sozialen Faktoren einen Einfluss zuzugestehen, so war andererseits auch sein Schüler und Freund Ferri - übrigens zugleich Chefredakteur der sozialistischen Parteizeitung Avanti! und als römischer Professor für ein Dutzende Jahre das Opfer eines politisch motivierten Berufsverbots, das er freilich produktiv zu nutzen wusste - alles andere als ein Kritiker der anthropologischen Schule. Im Gegenteil: er war überzeugt, allein durch den Anblick der Gefangenen, die sich in einem Gefängnishof aufhielten, die Diebe von den Vergewaltigern und diese von den Mördern unterscheiden zu können. So etabliert und so unangreifbar erschien seinerzeit die Lehre von der Existenz eines homo criminalis, bzw. uomo delinquente, also Verbrechermenschen, dass sich niemand mehr über die vielen gedruckten Schautafeln in den Lehrbüchern wunderte, auf denen eine Seite den typischen Betrügern, die nächste den Taschendieben und eine dritte den Mördern gewidmet war.

Ob man den Verbrecher nun mit Morel als ein Wesen ansah, bei dem sich die typischen Fähigkeiten des Menschen degenerativ zurückentwickelt hätten, oder aber als Wesen, das im Gegensatz zu seinen unmittelbaren Vorfahren durch eine Laune der Natur so aussah, als stamme es direkt von Vorfahren von einer längst überwundenen Stufe der Evolution ab - in beiden Fällen handelte es sich für die damaligen Zeitgenossen bei der Kriminalität nicht um ein Phänomen der Kultur, sondern der Natur und mithin eben nicht um eine Angelegenheit der Historiographie.

Die prinzipiell anderen Zugänge zur Kriminalitätsfrage in den frühen Jahren der Kriminologie - zu denken ist an Gabriel Tarde (1843-1904) und Alexandre Lacassagne (1843-1924), dessen Ausspruch "Die Gesellschaften haben die Verbrecher, die sie verdienen" ihn jedenfalls in vielfältigen Variationen bis heute überlebte - waren zu schwach, um dem Gedanken an historische Forschungen den Raum und die Gelegenheiten zu verschaffen, praktisch zu werden.


Geschichte des Gegenstands

So war denn die Beziehung zwischen Geschichte und Kriminologie während der längsten Zeit immer noch am treffendsten als Nicht-Verhältnis zu charakterisieren. Und so waren es auch weder die Geschichtswissenschaft stricto sensu noch die Kriminologie, die historische Forschungen über Verbrechen und Strafen zu Beginn des 20. Jahrhunderts voranbrachten. Wer sich solcher Themen gelegentlich annahm, war eher die Rechtsgeschichte. Man denke da an den Kölner Professor für Strafrecht, Zivil- und Strafprozessrecht und zeitweiligen Rektor der Albertus-Magnus-Universität, Gotthold Bohne (1890-1957) und seine 1922 und 1925 veröffentlichte Habilitationsschrift über die Freiheitsstrafe in den italienischen Stadtrechten des 12. bis 16. Jahrhunderts - oder an Gustav Radbruch und seine postum 1951 von Heinrich Gwinner publizierte Geschichte des Verbrechens mit dem Zusatztitel: Versuch einer historischen Kriminologie.

Diese historische Kriminologie befand sich damals und dann noch für längere Zeit in statu nascendi. Die Geburtsmetapher liegt auch wegen der Merkwürdigkeit nahe, dass zwei wichtige Werke sie in ihrem Titel bzw. Zusatztitel selbst verwenden. Nämlich im Jahre 1951 das Buch "Geburt der Strafe" des Kölner rechtswissenschaftlichen Privatdozenten und späteren außerordentlichen Professors Viktor Achter, in dem es um den Übergang von der Automatik der Sühne zur Bestrafung des Täters (im Hochmittelalter in Südfrankreich) ging - und dann, mit einem ganz anderen Donnerschlag, im Jahre 1975 das Buch "Überwachen und Strafen" des Philosophen und Psychologen Michel Foucault, dessen Zusatztitel bekanntlich "Die Geburt des Gefängnisses" lautete. Es war im Anschluss an den epochalen Erfolg dieses Werkes, dass sich Quantität und Qualität im Diskurs der historischen Kriminologie auf höchst erfreuliche Art zu mausern begannen. Wobei dahingestellt bleiben muss, inwiefern post hoc hier auch tatsächlich auf ein propter hoc verweist.

Jedenfalls begann nun eine Zeit zunehmender Bereicherung der historischen Kriminologie durch eine ganze Fülle von Arbeiten. Die Initialzündung kam wohl durch die Rezeption ausländischer Forschungen. Gerd Schwerhoff schreibt über diese Umbruchszeit:

Während im englisch- und französischsprachigen Raum Forschungen zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kriminalität blühten, tat sich im deutschsprachigen Raum wenig. Heute dagegen ist die historische Kriminalitätsforschung eine etablierte Subdisziplin der Geschichtswissenschaft, deren Ergebnisse und Fallstudien weithin anerkannt sind und, noch wichtiger, mit anderen sozial- und kulturhistorischen Forschungsfeldern eng vernetzt sind.

Wichtige Meilensteine waren für Schwerhoff die Jahre 1985 und 1991. Er schreibt:

Ein Arbeitskreis an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, der von 1991 bis 2010 zwanzig Zusammenkünfte in Stuttgart-Hohenheim veranstaltete, hat sehr wesentlich zu dieser Etablierung beigetragen. Die ersten Anstöße kamen dabei aus dem Kreis der Hexenforscher, die bereits 1985 einen eigenen Arbeitskreis (AK für Interdisziplinäre Hexenforschung) gegründet hatten. Auch Hexerei war, jedenfalls in der Frühen Neuzeit, ein Kriminaldelikt, und viele Diskussionen, die unter Hexenforschern geführt wurden, waren grosso modo auch für Kriminalitätshistoriker interessant. Gemeinsam war allen die Faszination für Gerichtsakten, für Quellen mithin, die nicht nur über die Rechtswirklichkeit Auskunft gaben, sondern die darüber hinaus als Schlüssellöcher taugten, um Blicke in die komplexe Alltagswelt vergangener Zeitalter zu riskieren. - Mit Andreas Blauert gab ein Hexenforscher die Anregung für ein erstes Treffen der „Krimi“-Historiker, eine Anregung, die Dieter R. Bauer als Geschichtsreferent der Akademie bereitwillig aufnahm. Über 20 Personen kamen Anfang Juni 1991 in Hohenheim zusammen, um Vorträge zu hören (z. T. konkrete Fallstudien, z. T. sehr programmatische Beiträge) und vor allem: um sich die Köpfe heißzureden und zu diskutieren! Darunter waren wenige Privatdozenten, viele mehr oder weniger frisch Promovierte und etliche Doktorandinnen und Doktoranden – jedoch kein etablierter Professor!

Ich selbst erinnere mich vor allem an die Rezeption entsprechender Arbeiten der britischen social historians. Mich faszinierten die von Edward P. Thompsons 1975 in England erschienenen "Whigs and Hunters" und sein Sammelband "Albion's Fatal Tree"; erst darüber wurde ich darauf aufmerksam, dass es auch einen schon länger in deutscher Übersetzung vorliegenden Eric J. Hobsbawm gab (seine Primitive Rebels von 1959 erschienen 1962 als "Sozialrebellen. Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert. Luchterhand, Neuwied/Berlin" - 1979 erneut im Focus-Verlag, Gießen; seine "Bandits" von 1969 erschienen 1972 als "Die Banditen. Suhrkamp, Frankfurt" - 2007 erneut unter dem Titel "Die Banditen. Räuber als Sozialrebellen" bei Hanser in München).

Die historische Kriminologie weist mehrere Schwerpunkte auf:

  1. Geschichte der Gerichtsverfahren und des Strafens: neben "Suveiller et punir" ist da vor allem Richard van Dülmen (1985) mit seinem Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, München: C.H. Beck 1985 zu nennen (sowie der von ihm herausgegebene Band über Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle. Frankfurt: Fischer 1990. Dann kam bereits 1988 die 1987 in Paris veröffentlichte Arbeit des Kunsthistorikers Daniel Arasse (1987) über die Guillotine. Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit (Rowohlt, Reinbek 1988)heraus (La Guillotine et l’imaginaire de la Terreur, éd. Flammarion, 1987). Zahlreiche Veröffentlichungen über die Geschichte von Zucht- und Arbeitshäusern, von Gefängnissen und von einzelnen Strafen - man denke auch an Pieter Spierenburg (Asouade) - kulminierten dann gewissermaßen in Richard Evans modernem Klassiker über die Rituale der Vergeltung, nämlich über vier Jahrhunderte der Todesstrafe in Deutschland(2001)
  2. Geschichte der Kriminalpolizei, besonders im Dritten Reich: Patrick Wagner über "Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte. Bd. 34). Christians, Hamburg 1996, ISBN 3-7672-1271-4; dann ebenfalls von Patrick Wagner: ,Hitlers Kriminalisten. Die deutsche Kriminalpolizei und der Nationalsozialismus zwischen 1920 und 1960 (= Beck'sche Reihe 1498). Beck, München 2002, ISBN 3-406-49402-1. Nicht nur, aber auch zur Polizei forschten natürlich auch sehr vielseitig und schon gleichsam eine Generation vor Wagner: Alf Lüdtke und Herbert Reinke.
  3. Geschichte des Entstehens von, des Umgangs mit und des Vergehens von Einzeldelikten wie z.B. der Hexerei oder der Blasphemie (Schwerhoff). Wo die Geschichte von den Einzeldelikten zu Deliktsgruppen und der Kriminalität insgesamt übergeht, wo dann lange, sich über Jahrhunderte oder Jahrtausende erstreckende Entwicklungen etwa der Gewalt und der Gewaltkriminalität ins Auge gefasst werden, da wenden sich Historiker meist schaudernd ab und überlassen das Feld gerne den Generalisten wie z.B. Steven Pinker mit seiner kürzlich erschienenen The Better Angels of Our Nature: Why Violence Has Declined (2011) - auf Deutsch: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit.

Es geht hier nicht um die Vollständigkeit der Aufzählung, sondern um Schlaglichter auf die Konjunktur der historischen Kriminalitätsforschung, die man - auch das sei gesagt - nicht ohne weiteres gleichsetzen kann mit historischer Kriminologie, was ja eine gewisse Leitfunktion speziell kriminologischer Theorien und Fragestellungen implizierte; dennoch bitte ich vorsorglich um Verzeihung für Auslassungen, Lücken und Nichterwähnungen aller Art. Auf jeden Fall zeigt diese kleine Aufzählung aber schon eines: dass es Historiker waren, die sich die historische Kriminalitätsforschung eroberten und die damit den Löwenanteil der Annäherung zwischen Geschichte und Kriminologie leisteten. Das heißt nicht, dass Kriminologen absolut untätig geblieben wären - ich denke da an die ausgesprochen illuminierende kleine Arbeit über "Die ursprüngliche Erfindung des Verbrechens" von Henner Hess und Johannes Stehr (1987) - aber insgesamt ist doch ein ganz gewaltiges Übergewicht der Historiker zu verzeichnen.

Aus der Sicht der Kriminologie ist dieses Ungleichgewicht auch ein bisschen schade. Warum? Man könnte ja froh sein, dass die anderen die Arbeit machen und man selbst das Vergnügen hat, in den Ergebnissen zu schmökern. Die Geschichte geht im wesentlichen idiographisch vor, das heißt sie befasst sich mit Einzelereignissen. Wie anders die durch und durch nomologisch orientierte Kriminologie. Sie klassifiziert, typisiert und systematisiert gesellschaftliche Prozesse im historischen und internationalen Vergleich - immer auf der Suche nach (einst) eher deterministisch eingefärbten, heutzutage (hingegen) durchweg eher bescheiden auf probabilistische Relationen zurechtgestutzten Wenn-Dann-Gesetzmäßigkeiten. Die Frage „Warum tritt dieses oder jenes Phänomen auf?“ wird aufgefasst als Frage „Aufgrund welcher allgemeinen Gesetze und konkreten Vorbedingungen tritt dieses oder jenes Phänomen auf? - Und dies bezogen auf die Vergangenheit (Erklärung) wie auf die Zukunft (Prognose)" (vgl. Hempel/Oppenheim 1948: 136). Derlei Fokussierung unter dem Gesichtspunkt der Erklärung durch Gesetzmäßigkeiten und der Weiterentwicklung der Theorien, die sich mit den Entwicklungen von Kriminalität und Kontrolle befassen, kommt dann leicht zu kurz.

Die Historiker die Arbeit machen zu lassen hat also nicht nur Vorteile, sondern auch einen nicht zu unterschätzenden Nachteil für die Kriminologie. Zugespitzt könnte man behaupten: die historische Kriminalitätsforschung hat ihren Ausgangspunkt in Fragestellungen der Historiographie, nicht der Kriminologie. Das ist der wichtigste Grund dafür, dass ihre Ergebnisse auch im Wesentlichen innerhalb der Geschichtswissenschaft und ihrer spezifischen Öffentlichkeit verbleiben, aber in der Kriminologie kaum rezipiert werden. Oder: sie geht nicht von der Kriminologie aus und sie kommt in der Kriminologie nicht an. Die Kriminologie - ausweislich ihrer Lehrbücher und Monographien, ihrer Curricula und ihrer Schwerpunkte - bleibt auf eine seltsame Weise fast unberührt von der reichen Ernte, die von der historischen Kriminalitätsforschung eingebracht wurde.

Geschichte des Fachs

Ganz ähnlich verhält es sich mit der Aufarbeitung der Geschichte der Kriminologie als Wissenschaft. Auch was die Fachgeschichte betrifft: zunächst eine Phase des allgemeinen Desinteresses. Weder die Kriminologie selbst noch die Geschichtswissenschaft interessiert sich für die Geschichte des Faches Kriminologie.

Dann eine Phase der Annäherung; wobei vor allem die bewegte Fachgeschichte der Kriminologie in Deutschland internationale Aufmerksamkeit auf sich zieht (jur: Schütz 1972; Dölling 1989, Streng 1993). Kein Wunder, wenn man an die engen Beziehungen zwischen Kriminologie und kriminalpolitischer Praxis denkt und an die schnelle Abfolge unterschiedlichster und zum Teil extremer Regime in Deutschland zwischen 1870 und 1990: da gab es die deutschen Kleinstaaten und den Norddeutschen Bund, dann das Deutsche Kaiserreich von 1871, die Revolution von 1918, die Weimarer Republik, den NS-Staat von 1933 bis 1945, die deutsche Teilung in Bundesrepublik einer- und und Deutsche Demokratische Republik andererseits, und schließlich die Wiedervereinigung von 1990 durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Mit jedem Schritt änderten sich Regierungsformen, Verfassungen und/oder einfache Gesetze, Paragraphen des Strafgesetzbuchs, vorherrschende Anschauungen und die Grenzen zwischen erlaubt und verboten, legal und strafbar, sagbar und unsagbar. Und die Kriminologie als Wissenschaft aus der Praxis und für die Praxis der Bekämpfung von Kriminalität hatte es mit einem ständig wechselnden Begriffsinhalt ihres Gegenstands zu tun: was tun mit der Ursachenforschung, mit den Statistiken und den Langzeitverläufen von Kriminalität, wenn sich das, was darunter verstanden wurde, immer wieder und nicht selten auch grundlegend änderte? Was bedeutet das für die Kriminologie als Erkenntnissystem einerseits, wenn man alle Naslang unter völlig veränderten Bezugsrahmen zu forschen hat - und was für die Kriminologie als soziales System, in dem einzelne Professoren ihre Theorien zwischen Kaiserreich, Weimar, Nationalsozialismus und Bundesrepublik immer wieder anzupassen hatten - jedenfalls dann, wenn sie, was der Normalfall war, das oberste Ziel verfolgten, über alle Zeitläufte hinweg in erster Linie ihre Lehrstühle und ihren Status innerhalb der scientific community zu bewahren? Möglicherweise gibt es keine andere Disziplin, in der sich die Anpassungsprozesse von Wissenschaft(lern) an die politische Herrschaft besser untersuchen lässt als eben die Kriminologie. Insofern ist es schade, dass der Arbeit von Walter Fuchs (2008) über Franz Exner (1881-1947) und das Gemeinschaftsfremdengesetz: Zum Barbarisierungspotenzial moderner Kriminalwissenschaft, der mit großem Gewinn die Klassifikation von Dieter Langewiesche (1997) verwendete, noch keine Nachfolger gefunden hat, die einmal die gesamte Professorenschaft der Kriminologie unter dem Gesichtspunkt untersuchte, wie diese sich auf die vier Verhaltenstypen von (1) fachwissenschaftlicher und institutioneller Selbstbehauptung durch Distanz zur Politik; (2) illusionärer Selbstgleichschaltung; (3) nachholender Selbstgleichschaltung; (4) identifizierender Selbstgleichschaltung durch fachwissenschaftliche Vorausplanung nationalsozialistischer Programme und Praxis verteilten.

Ich nenne nur

  • 1999: Jan Telp: Ausmerzung und Verrat. Zur Diskussion um Strafzwecke und Verbrechensbegriffe im Dritten Reich. (Rechtshistorische Reihe; Bd. 192). Lang, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-631-34170-9; Zugl. München, Univ., Diss., 1998, insbesondere S. 161-206
  • 2000: Gerit Thulfaut:, Kriminalpolitik und Strafrechtslehre bei Edmund Mezger (1883-1962). Nomos, Baden-Baden 2000 (Munoz-Conde ... )
  • 2000: Wetzell, Richard F. (2000) Richard Wetzells Geschichte der deutschen Kriminologie von 1880 bis 1945 Inventing the Criminal: A History of German Criminology, 1880-1945. Chapel Hill & London: University of North Carolina Press (von demselben: "Gustav Aschaffenburg: German Criminology." In Enyclopedia of Criminological Theory, edited by Francis T. Cullen and Pamela Wilcox, 58-62. Los Angeles: Sage, 2010; "Die Rolle medizinischer Experten in Strafjustiz und Strafrechtsreformbewegung: Eine Medikalisierung des Strafrechts?" In Experten und Expertenwissen in der Strafjustiz von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne, edited by Alexander Kästner and Sylvia Kesper-Biermann, 57-71. Leipzig: Meine-Verlag, 2008; "Der Verbrecher und seine Erforscher: Die deutsche Kriminologie in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus." Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 8 (2006/2007): 256-279.
  • 2002: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Vandenhoeck und Ruprecht Verlag, Göttingen 2002 von Peter Becker, der bekanntlich auch noch mit einer Geschichte der Kriminalistik aufwartete
  • 2004: Silviana Galassis Kriminologie im Deutschen Kaiserreich. Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung (auch 2004: Christian Müller: Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat: Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsform in Deutschland. 1871-1933. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht).
  • 2006: Imanuel Baumanns (2006) Geschichte der Kriminologie und Kriminalpolitik in Deutschland von 1880 bis 1980

Aber auch hier gilt: die Erträge der Aufarbeitung der Fachgeschichte bleiben der Kriminologie äußerlich. Sie finden keinen Eingang in das Selbstverständnis, in die Lehrbücher, in die Selbstreflexion des Faches - sie verändern den Charakter der Kriminologie in keiner Weise. Es ist, als gäbe es sie nicht.

Ornamentaler Gebrauch der Geschichte

Die Geschichte gehört nach Nietzsche dem Leben und den Lebenden. Sie tut dies als monumentalische, als antiquarische und als kritische Historie. Die monumentalische gehört den Tätigen, den Strebenden, denen, die große Leistungen vollbringen wollen: sie liefert die Vorbilder, die Mut machen und Orientierung geben. Die antiquarische verleiht das Wissen um die eigene Herkunft, um die Wurzeln des Daseins, die Leistungen der Vorfahren und vermittelt auf diese Weise Geborgenheit und Identitätsgefühl, sie schützt und sie macht dankbar und schafft eine intergenerationelle Verantwortung. Die kritische Historie wiederum geht den Ursachen für die heutige Ungerechtigkeit und das heutige Leiden auf den Grund: sie gehört den Leidenden und den der Befreiung Bedürftigen.

Wenn wir uns die Rolle ansehen, die die Geschichte im harten Kern des kriminologischen Diskurses spielt, dann sehen wir hauptsächlich Monumentalisches und Antiquarisches, kaum aber Kritisches. Monumentalisch ist der andauernde Bezug auf die großen Männer des Faches: die Protagonisten und die Antagonisten, die großen Helden und die großen Schurken.

Was David Garland (1997) für den englischsprachigen Diskurs der Kriminologie beschrieb, hat auch für Deutschland Gültigkeit. Geschichte hat in den Lehrbüchern der Kriminologie einen festen Platz. Und dieser befindet sich in der Einleitung. Dass man auf die Geschichte eingeht, gehört zur Konvention. Wie geht man auf sie ein? Sehr komprimiert auf wenigen Seiten, sehr standardisiert nach immer demselben Strickmuster, vor allem aber sehr lustlos. Warum geht man überhaupt auf die Geschichte ein? Die Antwort lautet: einfacher lässt sich nicht beginnen. Zumal das Publikum in das Thema eingeführt wird: schon lange hat man über Kriminalität und Strafe nachgedacht, und der aktuelle Text, den ich, der Autor, hier vorlege, steht selbst in dieser langen Tradition.

Regelmäßig verfolgen die lustlos und routiniert hingeschriebenen Hinweise auf die Geschichte der Kriminologie keinen anderen erkennbaren Zweck als den, dass es eben üblich ist, auf die Ursprünge der Disziplin hinzuweisen - und dass man weiß, dass die Leserschaft solche Bemerkungen auch erwartet. Unbefangene Leser denken sich denn auch nichts bei der Lektüre, außer, dass es also offenbar Vorläufer und Gründer gab, dass es einen Konflikt zwischen der klassischen Schule einer- und der positiven Schule andererseits gab und dass man heute weiter ist.

Ironischerweise, so Garland, hat aber genau diese mantramäßige Routine-Wiederholung überkommenen Wissens ganz unabhängig von ihrer wissenschaftlichen Qualität einen durchaus realen Einfluss.

  • Initiation. Das standardisierte Wieder-Erzählen einer Geschichte des Faches dient der Einführung junger Studierender in das Wissen, dass es die Kriminologie gibt, dass es sich um ein ehrwürdiges Fach handelt, und dass - was auch sonst immer streitig und unklar oder konturlos sein mag - zumindest die Geschichte ein stabiles und unerschütterliches Fundament dieser Disziplin darstellt. Woran erkennt man einen Kriminologen: daran, dass er die Namen Beccaria, Quetelet, Lombroso und Ferri kennt und einordnen kann.
  • Wenn es aber einen bescheidenen Anfang der Kriminologie gab, dann gibt es auch eine Linie vom Früher zum Heute, und der Weg von A nach B ist eine Linie fortschreitenden Wissens. Das, zumindest, scheint dann klar. Und das wiederum ist gut für die Identität als Kriminologe.
  • Die typische Abfolge von Schulen (man gebe "klassische Schule Kriminologie" in eine Suchmaschine ein: [1] lautet: klassische Schule, positive Schule, moderne Schule. Die Abfolge von großen Männern in der Geschichte der Kriminologie lautet: zuerst war da die klassische Schule mit ihrem Repräsentanten Cesare Beccaria und dessen Hauptwerk Über Verbrechen und Strafen aus dem Jahre 1764. Dann kamen Adolphe Quetelet und die sogenannten Moralstatistiker, als Datum kann man sich vielleicht merken 1833 als Erscheinungsdatum von André Michel Guerry's Essai sur la statistique morale de la France. Manchmal werden die Moralstatistiker auch übersprungen und auf die klassische Schule folgt sofort die positive Schule mit dem Dreigestirn aus Cesare Lombroso, Enrico Ferri und Raffaele Garofalo. Manchmal endet die Geschichte dann mit Hinweisen auf Émile Durkheim oder andere sozialwissenschaftlich orientierte Denker - auch Marx und Engels sind möglich - um eine Brücke zur Gegenwart zu schlagen. An dem Minimalprogramm "klassische Schule, positive Schule" führt aber nichts vorbei. Das ist der harte Kern der Fachgeschichte.
  • Gelegentlich bieten Kriminologen allerdings auch etwas pointiertere Darstellungen. Die holen manchmal auch etwas weiter aus, bieten aber auch ein sichtlich tendenziöses Narrativ, das als eine Art Vorwegnahme nachfolgender Argumente dient. Geschichte wird in solchen Momenten eine Möglichkeit, theoretische oder wissenschaftspolitische Kontroversen mit anderen Mitteln zu bestreiten. Meist geht es dabei um die Frage, welcher Wissenschaft es gebührt, als Leitdisziplin für die Kriminologie anerkannt zu werden. In der Kriminologie gab und gibt es ja hegemoniale Ansprüche von so verschiedenen Disziplinen wie der Psychiatrie (Zurechnungsfähigkeit, Schuld, Behandelbarkeit), der Psychologie (Tätertypen, Tätermotivation, ...), der Genetik und der Anthropologie, aber auch der Soziologie (Milieu und Kriminalität). Der verbissen und polemisch geführte Kampf gegen den sog. Lombrosianischen Mythos durch Lindesmith und Levin, durch Sutherland und durch die soziologisch inspirierte kritische Kriminologie der 1970er und 1980er Jahre lässt sich aus den blassen Argumenten, die da gewechselt wurden, allein nicht erklären. Verstehen kann man ihn allerdings sofort, wenn man in Betracht zieht, dass der Besitz der Geschichte die beste Legitimation für die Domination der Kriminologie in der Gegenwart ist. Wenn sich die Behauptung durchsetzen lässt, dass nicht der Anthropologe Lombroso der wahre Begründer der Kriminologie war, dann ist die Psychiatrie als Leitdisziplin damit schon halb delegitimiert. Wenn man zeigen kann, dass der wahre Gründer Kriminologie ein Strafrechtsreformer, ein Aufklärer oder ein Soziologe war, dann kann man die Neuorientierung der Kriminologie entlang dieser Linie als Aufgabe der Wiederherstellung einer verlorenen theoretischen Tradition ausgeben. Diese Vaterschaftsstreitigkeiten betreffen in erster Linie die drei Herren Beccaria, Quetelet und Lombroso. War Beccaria der Begründer oder nur ein Vorläufer? War der Gründervater Lombroso oder nicht doch, einige Jahrzehnte zuvor, Adolphe Quetelet und die weiteren Moralstatistiker? Kurzum: ist die Kriminologie eigentlich eine Sache der Aufklärung und der illuminierten Kriminalpolitik? Oder handelt es sich eigentlich um eine Wissenschaft von den schlechten genetischen Anlagen der Verbrecher - oder um eine Gesellschaftswissenschaft, die die Ursachen der Kriminalität in den Strukturen des Sozialen selbst sucht? "Klagt nicht die menschliche Natur an, wenn ihr Bosheit, Dummheit, Niederträchtigkeit, Unglück und jede Art von Elend in unserer Gesellschaft findet - klagt die unmenschlichen Verhältnisse an, die das beste, humanste, tätigste Geschöpf in Elend und Laster stürzen können" (Moses Hess, Über die Not in unserer Gesellschaft und deren Abhülfe). Müssen wir das Böse dingfest machen oder die Gesellschaft verändern? Hier verstärken sich die Ressortegoismen der akademischen Disziplinen und allgemein-politische Positionierungen (links vs. rechts vs. liberal) gegenseitig. Die besondere Heftigkeit, mit der in der Kriminologie Ansprüche und Gegenansprüche über die wahren "Gründer" der Disziplin aufeinanderprallen, sind anders als durch Statuskonflikte der Professionen nicht zu erklären. Das Thema Geschichte der Kriminologie wird auf diese Weise in aktuelle Kontroversen einbezogen und macht es zur Pflicht für jeden Neuankömmling in der Disziplin, sich für die eine oder die andere Seite zu entscheiden.
  • Gelegentlich ist die Geschichte nicht Einleitung, sondern zentraler Gegenstand von Publikationen. So etwa bei Hermann Mannheim (Pioneers in Criminology, 1960)oder bei Leon Radzinowicz (Ideology and Crime, 1966). Deren Ziel ist dann meist ressortegoistisch: es geht den Autoren darum, die Disziplin zu konstituieren und im akademischen Überlebenskampf konkurrenzfähig zu machen, die Reputation des Faches zu stärken und so weiter ("discipline-building"). Die Kriminologie hat nicht den besten Ruf. Zum einen färbt der soziale Status des Gegenstands ab (Prostituierte, Drogensüchtige, jugendliche Straftäter, Mörder, Vergewaltiger...), zum anderen fehlt das Geld aus interessierten Kreisen des Wirtschafts- oder Staatslebens (Chemie, Physik, Informatik, Jura). Drittens fehlt aber auch ein stabiler Gegenstandsbereich - der Inhalt dessen, was unter Kriminalität verstanden wird, ändert sich laufend und manchmal auch radikal. Und es fehlen, last not least, ein starker eigener theoretischer und methodischer Kanon. Man pickt sich eklektisch aus zahlreichen Bezugsdisziplinen das heraus, was man verwenden kann. Die Geschichtswerke dienen dann der Verbesserung des Selbstbildes und Fremdbilds einer Disziplin von zweifelhaftem Ansehen.
  • Die Methode der Ruf-Aufbesserung ist einfach: man schreibt der Kriminologie die Rolle einer Missionarin zu, die in einer Welt aus Niedertracht und Verbrechen, aber auch aus barbarischem Aberglauben und aus brutalen Strafpraktiken (man denke an die mittelalterlichen Foltern und Todesstrafen) das Licht der Humanisierung und des Fortschritts zu immer effektiveren und humaneren Praktiken voran trägt - die Kriminologie zeigt den Weg zu einer besseren Welt und hofft, dass man ihr zuhört und ihre Ratschläge befolgt.
  • Neue Generationen von Kriminologen brauchen neue Geschichtsbilder, die mehr im Einklang sind mit aktuellen Interessen und Auffassungen. Die überkommene Fachgeschichte ist eine Narration aus Symbolen und Dämonen (Beccaria, Lombroso, .... ) und ein paar wichtigen Unterscheidungen (Klassizismus, Positivismus, Radikalismus, ...). Eine übergreifende Erzählung vereinfacht den Gang der Dinge und zeichnet ein schönes Fortschrittsbild: z.B. beginnend mit dem Mythos des geborenen Verbrechers und endend in seiner Entlarvung und Überwindung). Das spielt eine kleine, aber wichtige Rolle in der Gestaltung der Horizonte und Bezugspunkte der zeitgenössischen Kriminologie.
  • Praktikern verschafft die Geschichte der Disziplin ein Gefühl für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und damit eine Art Navigationshilfe, die nicht nur die Lokalisierung im Hier und Jetzt erlaubt, sondern auch die Richtung angibt, die von hier aus einzuschlagen ist, wer die Vorbilder sind, denen man nachahmen kann, und was unbedingt vermieden werden muss. Die überkommene Geschichte liefert vor allem eine Art Standard-Ausrüstung mit Informationen, Wertvorstellungen und kriminalpolitischen Einstellungen. So würde sich zum Beispiel jeder, der sich über die Kriminologie aus den Lehrbüchern und Aufsätzen der 1970er und 1980er Jahre informierte, es schwer haben, sich mit dem "Positivismus" zu identifizieren - auch wenn dieser Begriff weit genug ist, um nahezu die gesamte Disziplin bis zum Labeling Approach zu umfassen.
  • Die Standard-Erzählung beginnt mit den Schriften des Strafrechts-Reformers der Aufklärung - Cesare Beccaria und seinen Geistesverwandten. Diesen Autoren wird zugeschrieben, dass sie den Täter als rational, mit freiem Willen ausgestatteten Akteur sehen, der dann Verbrechen begeht, wenn es sich für ihn lohnt, und der daher abgeschreckt werden muss mit Strafen, die ihn mehr abschrecken, als das Verbrechen ihn anlockt. Diese "klassische Schule der Kriminologie", wie es gewöhnlich genannt wird, wurde in der Folge angefochten von den Schriftstellern der "positivistischen Schule '(Lombroso. Ferri und Garofalo), die sich dem Thema Kriminalität empirisch annähert und "die Verbrecher" mit den Techniken der Psychiatrie, Anthropologie, Anthropometrie und anderer neuer Humanwissenschaften untersucht. Die positive Schule behauptet, dass sie Beweise für die Existenz von "kriminellen Typen" habe, deren Verhalten vorbestimmt statt von den Tätern selbst gewählt wurde und die zu bestrafen deshalb wenig Sinn macht, weil sie keine Schuld trifft. Spätere Forschung widerlegt oder modifiziert die meisten der spezifischen Ansprüche von Lombroso und restauriert die Glaubwürdigkeit der einige der "klassizistischen" Ideen, auf deren Ablehnung aber das ganze Projekt einer wissenschaftlichen Kriminologie gegründet worden war. Dieses Standard-Narrativ der Kriminologiegeschichte ist natürlich, im Großen und Ganzen, einigermaßen richtig. Und es wäre sehr verwunderlich, wenn es das nicht wäre. Aber der grobe Pinselstrich dieser Erzählung und die durchschlagende Einfachheit ihrer Oberbegriffe kann auch sehr in die Irre führen, wenn sie als wahre historische Geschichte dargestellt wird und nicht - was adäquater wäre - als eine Art Gründungsmythos für heuristische anstatt historische Zwecke.

Irreführende Kategorien

Ein großer Mangel dieser Geschichten ist ihre unkritische Verwendung von Schlüsselbegriffen. Der Begriff 'Klassizismus', um ein wichtiges Beispiel zu nehmen, wird als Oberbegriff für die Kriminologie von Beccaria und Bentham und Gedanken des 18. Jahrhunderts insgesamt benutzt. Er wird auch verwendet, um die Idee des freien Willens und der Rationalität der Täter zu beschreiben (Roshier 1989). Die unbekümmerte Redeweise von der klassischen Schule in der Kriminologie ist aber durch und durch unpräzise, um es milde auszudrücken. Es macht nämlich erstens wenig Sinn zu behaupten, dass diese Denker des achtzehnten Jahrhunderts eine "Kriminologie" betrieben, und zweitens noch weniger, dass sie eine Schule bildeten. Die angeblichen Mitglieder der klassischen Schule machten erstens keine allgemeine Unterscheidung zwischen den Eigenschaften von Kriminellen und Nicht-Kriminellen, zweitens waren Kriminelle nicht einmal ihr Hauptinteresse und drittens hatte niemand von ihnen auch nur die geringste Lust, sich speziell mit der Erforschung von Verbrechen und Verbrechern zu befassen. Sie hätten an eine Personenverwechslung geglaubt und sich nicht gemeint gefühlt, wenn man sie zu ihrer Zeit als Kriminalitätsforscher oder gar Kriminologen angesprochen hätte.

Die Verwendung des Begriffs "klassische Schule" ist nicht nur keine Selbstbezeichnung der Akteure, sie ist sogar eine erst in späterer Zeit erfundene Kunstbezeichnung: erdacht von den Gegnern dieser Art von Gedanken, um sich vor diesem Hintergrund in ein besseres Licht zu setzen, erfunden von denen, die sich dem Positivismus verschrieben hatten und der empirischen Wissenschaft. Sie beschrieben ihr Projekt als Fortschritt zu Früher, und dieses Früher fassten sie unter dem Wort "klassische Schule" zusammen.

Heute so zu tun, als habe es historisch tatsächlich eine klassische Schule und dann eine positive Schule gegeben, ist eine ernsthafte Entstellung des wahren Charakters dieser Schriften und sperrt sie künstlich in ein Denkschema ein, das erst ein Jahrhundert später entstand. Die Vorstellung, dass diese verschiedenen Autoren auch alle Akteure als gleichermaßen rational und frei ansahen, ist ebenfalls eine Verzerrung, die auf die Polemik des späten neunzehnten Jahrhunderts seitens der Positivisten zurückgeht.

Man denke an die großen Unterschiede in den Einstellungen von Autoren wie Bentham und Howard zu Frgen der menschlichen Natur und des freien Willens - ganz zu schweigen von dem guten Locke-Schüler Beccaria, der durchaus wusste, wie stark der Mensch durch Sinneindrücke und Gewohnheiten geprägt wird. Wieder andere Schriftsteller des 18. Jahrhunderts näherten sich der Frage aus einer ganz anderen Perspektive und betonten die Relevanz der sozialen Bedingungen für menschliche Handlungsweisen. Der beschriebene Begriff von 'Klassizismus' tendiert deshalb dazu, sich aufzulösen, wenn man ihn auch nur etwas unter die Lupe nimmt. Die Kohärenz, die er suggeriert, entspringt nicht den Tatsachen des 18. Jahrhunderts, sondern dem Bedürfnis einer späteren Epoche nach einem Pappkameraden. Mehr Sinn macht es da schon, von der "positiven Schule" zu sprechen: das wr immerhin eine Selbstbeschreibung von Leuten, die sich tatsächlich an der "philosopophie positive" orientierten und auch wirklich das Studium von Kriminellen und Kriminalität zu ihrer wissenschaftlichen Aufgabe gemacht hatten.

Der Gegenstand der Untersuchung

Was gehört eigentlich zur Geschichte der Kriminologie - und was gehört nicht dazu? Das ist eine schwierige Frage bei jeder Art von Geschichtsschreibung.

In kriminologischen Lehrbüchern finden wir drei verschiedene Wege, mit dieser Frage umzugehen. Die meisten Kriminologie-Einführungen und Lehrbücher machen es sich leicht. Sie beginnen ohne Begründung mit Beccaria und seiner klassischen Schule, gehen dann zu Lombroso und seiner positiven Schule über und verbinden die Kritik daran meist mit einem Hinweis auf soziologische oder moderne Schulen. Das ergibt einen leicht zu merkenden Dreischritt: klassische Schule, positive Schule, moderne Schule. Die Namen dazu sind dann: Beccaria, Lombroso und - je nach Erscheinungsort - von Liszt, Prins, van Hamel, Alexandre Lacassagne oder Edwin H. Sutherland. Der harte Kern besteht aus den beiden Epochen der Klassik (Beccaria) und des Positivismus (Lombroso). Diese Vorgehensweise hat sich so lange schon bewährt und eingebürgert, dass sie nach Ansicht der Autoren regelmäßig auch gar keiner Begründung für wert befunden wird. Nach dem Motte: so war es eben. Was soll man daran begründen?

War es aber wirklich so? Eher wohl nicht. Denn eine klassische Schule der Kriminologie gab es nicht. Beccaria war kein Kriminologe und wollte keiner sein. Seine Werke behandelten alle möglichen Themen, darunter auch Verbrechen und Strafen. Aber das, was er darüber sagte, tat er nicht als Kriminologe, sondern als Essayist, der sich anderen Fragen widmete wie z.B. dem Münzsystem der Lombardei, den Maßen und Gewichten und der allgemeinen Ausbildung von Verwaltungsbeamten. Sein Anspruch bestand niemals in der Suche nach den Ursachen der Kriminalität, schon gar nicht nach wissenschaftlichen Methoden oder auf der Basis oder mit dem Ziel theoretischer Aussagen. Noch weniger wäre es ihm in den Sinn gekommen, sich für die Bildung von wissenschaftlichen Zeitschriften, Instituten oder sonstwie für die Etablierung einer akademischen Disziplin stark zu machen, die sich mit den Ursachen und der Bekämpfung von Kriminalität zu befassen hätte.

Der Ausdruck "klassische Schule" würde Beccaria erstaunen lassen. Er hat sich weder als "klassisch" empfunden noch je an die Bildung einer Schule gedacht. Der Ausdruck war nie eine Selbstbezeichnung, sondern eine Erfindung, die mehr als ein Jahrhundert später als Etikett von Lombroso und den Seinen verwandt wurde, um das eigene Denken und Streben - basierend auf dem Positivismus - möglichst schroff gegenüber der Vergangenheit abzuheben.

Versteht man unter der Geschichte der Kriminologie die Entwicklung der akademischen Disziplin, dann müßte man entweder mit der "positiven Schule" von Lombroso, Ferri und Garofalo beginnen, also im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts (und nicht in der Mitte des 18. Jahrhunderts) - oder man würde auf die Moralstatistiker im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zu sprechen kommen. Wer diesen Weg geht, will meist den Anspruch untermauern, dass die Kriminologie - richtig verstanden - von Anfang an eine gesellschaftswissenschaftliche, soziologische Angelegenheit gewesen sei, und dass es gelte, diese Wurzeln wieder freizulegen und die Kriminologie demenstprechend umzuorientieren. Er müßte allerdings auch mit dem Einwand zurechtkommen, dass es gerade nicht diese soziologischen "Wurzeln" waren, aus denen dann die akademische Disziplin entsprang, sondern eben doch die Kriminalanthropologie Lombrosos und seiner Mitarbeiter und Schüler.

Oder ließe sich die traditionelle Ahnenreihe - Beccaria, Lombroso, Moderne - vielleicht unter einem anderen Gesichtspunkt legitimieren? Unter dem nämlich, dass man unter "Geschichte der Kriminologie" nicht die Entwicklung der akademischen Disziplin strictur senso versteht, sondern eine Art "Geschichte von Äußerungen über Verbrechen und Strafen im Wandel der Zeiten". Gedanken und Äußerungen über diese Themen sind bekanntlich von Homer über Seneca bis zu Shakespeare und Goethe zu finden wie Sand am Meer. Diese Vorgehensweise ist keineswegs ungewöhnlich. Aber sie ist kaum geeignet, den Dreischritt Beccaria-Lombroso-Moderne zu legitimieren, denn sie könnte keinen plausiblen Grund dafür liefern, die Ahnenreihe so plötzlich im 18. Jahrhundert abreißen zu lassen. Wer alles für Kriminologie hält, was sich mit Verbrechen und Strafe befasst, findet ja kein Argument, irgend jemanden auszuschließen. Die Folge ist eine Art eklektischer Quasi-Paläontologie verbrechens- und strafbezogenen Denkens. Israel Drapkin (1983) verfolgt die Spuren kriminologischen Denkens historisch weit zurück (Encyclopedia of Crime and Justice; vgl. auch Bonger 1936 und Vold 1958): von der Neuzeit über das Mittelalter bis in die klassische Antike und in die "Urzeit". Das Problem ist hier, dass die Auswahlkriterien hoffnungslos vage sind: zur Geschichte der Kriminologie gehört alles, was jemals in Bezug auf Gesetzesbrecher gesagt oder gedacht oder getan wurde. Ob und ggf. welche Verbindungen es zwischen dieser amorphen Vergangenheit und der Wissenschaft der Kriminologie gibt, bleibt unbestimmt. Schlimmer noch wird es, wenn Schriften der antiken und mittelalterlichen Autoren auf der Suche nach 'kriminologischen' Aussagen und Argumenten durchwühlt werden, ganz so, als ob sie dieselben Fragen in der gleichen Weise wie die modernen Kriminologen behandelten. So stellt man dem Publikum dann so anachronistisch Kreaturen vor wie zum Beispiel einen "frühen modernen Kriminologen" namens Thomas von Aquin mit dessen bemerkenswerter 'Analyse kriminogener Faktoren' (Drapkin 1983 550).

Dieser Stil der "Kriminologie im Wandel der Zeiten" ist aus einer ganzen Reihe von Gründen nicht unproblematisch. Zunächst einmal wird er Thomas von Aquin nicht ganz gerecht; dann verschleiert er die Tatsache, dass seine Aussagen, von institutionellen Kontexten und kulturellen Verpflichtungen ganz zu schweigen, prinzipiell anders strukturiert sind als diejenigen der modernen Kriminologie. Er vermittelt zudem den falschen Eindruck, dass unsere moderne Kriminologie die Antwort sei auf zeitlose und unveränderliche Fragen, über die frühere Denker genauso nachgedacht hätten wie wir heute - nur mit deutlich weniger Erfolg. Diese whig interpretation of history sieht alles als unvollkommenen Vorläufer einer mehr oder minder zur wahren Erkenntnis gelangten Wissenschaftsgeschichte. Was dabei übersehen wird, ist die Tatsache, dass die Kriminologie eine sozial konstruierte und historisch spezifische Organisation von Wissen und Ermittlungsmethoden darstellt: einen bestimmten Stil des Denkens im Kontext einer spezifischen Lebensform, dazu eine historische Koinzidenz inmitten einer Konfiguration von bestimmten Institutionen.

Eine historische Linie von Aristoteles bis zu Travis Hirschi und Michael Gottfredson zu ziehen schafft eine trügerische Linearität, die alle möglichen produktiven "Problematisierungen" (wie Foucault sie nennen würde) abschnitte - und insbesondere die Erkenntnis verbauen würde, dass unsere eigenen Wege, "Verbrechen" und "Abweichung" zu konstituieren, auf Konventionen beruhen anstatt auf unanfechtbaren Wahrheiten zu gründen.

Ein wichtiger Zweck von Geschichtsschreibung ist es, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass und wie Konventionen (soziale Tatsachen, kulturelle Tatsachen) hergestellt werden, sich herausschälen und im Laufe der Zeit verändert werden - und wie die gewandelten kulturellen Konzepte dann wieder wie naturgegeben erscheinen. Das kann und sollte ein kritisches Selbst-Bewusstsein und eine Distanz gegenüber unseren eigenen Fragen und Annahmen in der Gegenwart schaffen.

Der Mythos von der aufsteigenden Erkenntnis in der Kriminologie: von alten Fehlern zur modernen Wahrheit, trägt wenig zu einem besseren Verständnis der Vergangenheit oder der Gegenwart bei.

Das alles ist eine Kritik der Fachgeschichtsschreibung durch Kriminologen. In letzter Zeit haben sich aber nun eine ganze Reihe von "Außenseitern" auf diesem Gebiet engagiert, die durch keinen Schwur auf die kriminologische Verfassung behindert waren und durch deren Arbeiten unser Verständnis des Themas ganz erheblich erweitert wurde. Man denke an Michel Foucault (1977), Robert Nye (1984), Daniel Pick (1989) und Martin Wiener (1990)

Das Potential

Die historische Dimension der Kriminologie aus der Sicht des Faches Die Befassung mit der historischen Dimension der gesellschaftlichen Strukturen ist ein Gegenmittel zu den epistemologischen Verkürzungen, den Reifizierungen des rein gegenwartsbezogenen Denkens.

Eine historische Perspektive auf die eigendynamischen geschichtlichen Prozesse, die zur konkreten Ausgestaltung heutiger sozialer Praktiken, Institutionen und Wertvorstellungen geführt haben, sind wesentlich für das Verständnis und die Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft.

Wie könnten sich die beiden Disziplinen auf die bestmögliche Weise gegenseitig stützen, befruchten und uns zu neuen Fragestellungen, originellen Vorgehensweisen und zur Entdeckung bislang unbekannter Zusammenhänge führen? Eines ist klar: indem sie besser miteinander kooperieren und ineinander verschränken. Aber was bedeutet das konkret? In der Konkretion liegt der Hase im Pfeffer. Was heißt "besser"? Besser soll hier aus der Perspektive der Kriminologie heißen: förderlich für die Kriminologie als Erkenntnissystem. Erkenntnisfördernd im Hinblick auf die Geschichte des Faches, auf die Geschichte der Kontrolle und auf die Geschichte der Kriminalität. Geschichte kann in der Kriminologie aufklärend wirken, indem sie die Kriminologie aus dem Kerker der Gegenwartsbezogenheit befreit. Denn der unverwandte Blick auf die Gegenwart, der die Kriminologie kennzeichnet, stellt eine Art von Gedankengefängnis (Quensel 1980) dar. Obwohl es sich bei den Phänomenen, mit denen sich die Kriminologie befasst, durchweg um Entstandenes, Gemachtes und um Prozesshaftes handelt, das auch wieder vergehen kann und wird, ist doch das Denken, Sprechen und Schreiben in der Kriminologie durch eine unübersehbare Tendenz zur Reifizierung gesellschaftlicher Verhältnisse gekennzeichnet. Der Diskurs der Kriminologie ist durch die Gegenwart borniert: er scheint auf der unhinterfragten Prämisse zu beruhen, dass sich zwar die Kriminalität bewegt - sie nimmt neue Formen an wie die Computerkriminalität oder die Finanzmarktkriminalität, sie nimmt außerdem ab (selten) oder zu, die Täter werden immer älter (selten) oder jünger (das ist die Regel) und so weiter und so fort. Aber die Kriminalität als solche erscheint unwandelbar: Kriminalität gibt es nun einmal, es gab sie immer schon und es wird sie immer geben, bis alle Menschen Engel werden oder aber bis es überhaupt keine Menschen mehr auf Erden gibt (Schmidhäuser). Hatte nicht schon Kain seinen Bruder Abel erschlagen, also ein Verbrechen begangen? Und zogen Verbrechen nicht schon immer Strafen nach sich? So war es doch schon immer, so ist es noch heute und so wird es nun einmal auch künftig sein (müssen). Man kann die Strafen humaner machen, neue und alternative Strafen ausprobieren, aber letztlich wird man an der Tatsache der Strafe als solcher nichts ändern können. Oder sollen. Die Dinge sind nun einmal so, wie sie sind.

Eine historisch informierte Kriminologie würde den Realismus, der aus derlei Überzeugungen sprich, als Schein entlarven, als scheinbar realistische Attitüde, aus der nichts anderes als ein Mangel an Wissen um die Bandbreite des bereits Dagewesenen und damit auch das künftig Möglichen spricht. Vieles, was man sich als gegenwartsfixierter Kriminologe gar nicht vorstellen kann, weil die Phantasie einfach nicht reicht, kann man über die historische Perspektive lernen: man kann erfahren, dass vieles, was die eigene Vorstellungskraft von dem, was möglich ist, bei weitem übersteigt, tatsächlich schon einmal existierte - und dass es also möglich ist, obwohl man es für unmöglich halten würde.

  1. Gab es immer schon Verbrechen? Die historisch informierte Antwort müßte lauten: nein. Es gab immer schon Schädigungen, Verletzungen, Tötungen - aber ihre Klassifikation als Verbrechen ist keineswegs zwangsläufig. Die Kategorie des Verbrechens musste erst erfunden werden - und vorher war die Wahrnehmung solcher Phänomene eine andere, genau wie der Umgang mit ihnen ein anderer war. Lucy Mair. Herrschaftswiderspruch. Akephale Gesellschaften.
  2. Gab es immer schon Strafen? Die historisch informierte Antwort müßte lauten: nein. Kompositionensystem. Leopardenfellmann. Ausgleich und Zukunftsorientierung.
  3. Gab es immer schon Strafrecht? Nein. Die Durkheimsche Idee, dass bei den primitiven Völkern alles Recht im Grunde Strafrecht war, ist längst - spätestens seit Malinowski (1948) - widerlegt.
  4. Man kann das weiter durchdeklinieren. War Raub schon immer als gravierender eingeschätzt worden als Diebstahl? Nein. War Drogenkonsum immer schon mit Suchtproblemen einhergegangen? Nein. War der Konsum von Opium, Heroin, Kokain usw. immer schon als soziales Problem angesehen und mit den Mitteln des Strafrechts bekämpft worden? Nein. Gab es damals deshalb mehr Probleme mit Drogen? Nein. Gab es andere Kontrollen? Ja. Waren sie genau so wirksam oder wirksamer als die heutigen? Ja. Drogenkriminalität: werden die Dealer immer skrupelloser? Früher hatte man das Suchtpotential nicht erkannt und die Drogen nur leicht bestraft. Heute weiß man mehr und ist aufmerksamer geworden. Die historische Perspektive könnte zeigen: es ging auch anders und zivilisierter ohne Strafverfolgung.
  5. Gefängnis. Das Gefängnis gilt als Höhepunkt und Endpunkt der Reaktion auf Verbrechen. Die Todesstrafe wird als Vergleichsfolie benutzt: da ist doch die Freiheitsstrafe ein Riesenfortschritt. Fortschritt gibt es also, aber heute ist er nicht mehr als Fortschreiten von der Freiheits- zu anderen Strafen vorstellbar, sondern allenfalls als Fortschritt innerhalb des Gefängnissystems. Früher, noch vor 100 Jahren, hatte eine Einzelzelle 5 qm, ausgestattet mit einem ausklappbaren Bett, das in Gebrauch fast den ganzen Raum einnimmt, einer einfachen Toilette, einem Holztisch mit Hocker und einem kleinen Regal. Gewiss gab es auch etwas vor der Freiheitsstrafe. Die Todesstrafe. Oder die anderen Schandstrafen: Pranger, Prügelbock, Schandgeige. - Welch Glück, dass es heute besser ist. Etwas besseres als die heutige Freiheitsstrafe, den Behandlungsvollzug, kann man sich aber nicht vorstellen.
  6. Die Geschichte könnte darauf hinweisen, dass es vor den peinlichen Strafen in den germanischen Volksrechten das sog. Kompositionensystem gab: wobei die compositio für eine ritualisierte (ggf. unter Beteiligung eines Vermittlers herbeigeführte) außergerichtliche oder vor Gericht getroffene Einigung zwischen Täter- und Opferseite mit dem Inhalt steht, den durch das Unrecht ausgelösten Konflikt beizulegen (Konfliktbewältigung), indem die Opferseite auf Rache und Fehde (faida) verzichtet und die Täterseite das Unrecht durch Zahlung einer Geldsumme (Buße, Wergeld) ausgleicht. Die Geldbuße sollte einerseits den verletzten Rechtsfrieden wieder herstellen und einer Fehde vorbeugen, andererseits Strafwirkung auf den Schädiger haben. Neben der als Schadensersatz geltenden Summe war ein Teil der Buße als Strafe an den Vermittler oder Richter zu zahlen.
  7. Strafe ist die natürliche Reaktion auf Verbrechen. Verbrechen verlangen nach Strafe: begriffsnotwendig und um der Gerechtigkeit halber. Strafe muss sein (Hassemer). Strafe muss human und zweckmäßig sein und der Besserung des Straftäters dienen. Deshalb ist es gut, dass die Todesstrafe überwunden wurde und wir jetzt die Freiheitsstrafe haben. Die Freiheitsstrafe ist immer humaner geworden. Ludwigsburg. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sahen die Zellen so aus:
  8. Die Geschichte ..
  9. Das Verbrechen gilt als natürliches Übel. Und als ahistorische anthropologisch begründete Konstante: seit es Menschen gibt, gibt es Verbrechen und Strafen. Daran wird sich auch nichts ändern, solange es noch Menschen gibt (Jürgen Baumann).
  10. Nun erschöpft sich die Kriminologie noch lange nicht in der Erkundung der Erscheinungsformen des Verbrechens und der Häufigkeit, bzw. dem Umfang der Kriminalität. Sie will auch wissen, was Kriminalität verursacht und was für die jeweils unterschiedlichen Viktimisierungsrisiken an verschiedenen Orten oder in verschiedenen Bevölkerungsgruppen verantwortlich gemacht werden kann. Auch hier könnte man erwarten, dass historische Untersuchungen weiterhelfen.
  11. Und, last not least, die Frage der Wirksamkeit von Sanktionen. Wann wurden welche Sanktionen mit welchen Zielvorstellungen und welchen realen Wirkungen und Auswirkungen ausprobiert: wie wirkten die Todesstrafe, die Deportationen, die Galeerenstrafen, wie wirkten die sog. peinlichen Strafen der "Blutgerichtsbarkeit" im Vergleich zu den verschiedenen Varianten der Freiheitsstrafe oder im Vergleich zu ambulanten Sanktionen postmoderner Art? Was bezweckten und bewirkten in frühester Zeit die Bußsysteme des Kompositionensystems - und inwiefern und warum zeigen sich Analogien zu vorstaatlichen Konfliktregelungen in heutiger Zeit (man denke an Restorative Justice und Family Group Conferences)?

Hier nun macht sich das Fehlen der Geschichte als Blockierung der Phantasie bemerkbar. Man untersucht und erforscht und erkennt im Strafvollzug ein im Grunde absurdes System, eine "Hochschule des Verbrechens" und sieht durchaus das Paradox, das darin liegt, dass man Menschen aus der Gesellschaft herausnimmt, um sie in die Gesellschaft zu integrieren. Gefängnisse, das sind "steingewordene Riesenirrtümer". Und doch führt die ganze Forschung in der kriminologischen Wissenschaft zu nicht mehr als der ewigen Wiederholung des Gleichen. Das Mantra der Kontraproduktivität des Gefängnisses bleibt folgenlos.

Der Grund dafür liegt in der Unerschütterlichkeit eines Gedankengefängnisses, das Verbrechen und Strafe miteinander verknüpft und diese Verknüpfung als naturnotwendig begreift. Das ist es, was die Geschichte kann. Sie kann uns lehren, dass die Dinge nicht immer so sein müssen, wie sie sind, dass sie ebenso gut auch anders sein können, weil sie nämlich vor längerer Zeit schon einmal nicht so waren, wie sie heute sind - und weil manches, was uns heute stabil und ewig erscheint, früher gar nicht da war und künftig vielleicht auch nicht mehr da sein wird. Oder jedenfalls nicht da sein müßte. Geschichte könnte zeigen, dass das Gegebene jeweils ein Gemachtes ist. Jedes Datum ist ein Faktum. Jedes Faktum wurde irgendwann erfunden, hergestellt - und so wie es geschichtlich entstanden ist, so vergeht es auch wieder. Die Geschichte kann uns helfen, unsere verdinglichende Denkweise über Verbrechen und Strafen zu überwinden. Der Diskurs der Kriminologie setzt die Existenz des Verbrechens und der Kriminalität nur allzu oft auf eine naturalisierende, ontologisierende Art voraus. So als habe es Verbrechen schon immer gegeben. Und Strafen auch. Denkbar wäre, dass der Topos "Geschichte" in mehrfacher und sehr unterschiedlicher Weise auftauchte: erstens in Gestalt von Informationen über die Geschichte des Gegenstands der Kriminologie, also von Informationen über die Geschichte des Verbrechens als sozialer Erscheinung. Das setzte voraus, dass die Kriminologie ein Interesse daran hätte oder bei ihrem Publikum voraussetzte, wie sich wohl die Erscheinungsformen der Eigentums- und der Gewaltkriminalität im Allgemeinen und im Besonderen, also etwa des Diebstahls und der Hehlerei, des Betruges, des Mordes und des Totschlags, des politischen Attentats und des Terrorismus, der Drogendelinquenz oder der Kriminalität bewaffneter Banden im Laufe der Zeit - der vergangenen Dekaden oder Dezennien - verändert haben. Damit würde zusammenhängen die Untersuchung veränderter moralischer und juristischer Bewertungen, des Auf- und Abtauchens von Verbrechen wie denen der "Hexerei" und "Zauberei", der "widernatürlichen Unzucht", der "Blutschande" und vieler anderer Delikte mehr. Neben den Themen der Schaffung und Abschaffung von Straftaten de jure und de facto durch das gesatzte Recht (Max Weber) sowie durch Veränderungen in der Intensität der exekutiven Implementierungsstrategien (z.B. nachlassende Verfolgungsintensität bei Abtreibungsdelikten) stünden Themen des epochalen Wandels. Damit ist das Interesse daran gemeint zu erfahren, in welcher Art von Gesellschaft wir heute eigentlich im Vergleich zu vor zwei-, vier-, achthundert oder eintausendsechshundert Jahren leben. Wie hoch war damals jeweils das Risiko, eines gewaltsamen Todes zu sterben, im Vergleich zu heute? Wie hoch war das Risiko, aufgrund von Eigentums- und Vermögenskriminalität der personellen und familiären Ernährungsgrundlagen beraubt zu werden, gegebenenfalls zu verhungern? Wie hoch das Risiko, zum Opfer innerfamiliärer Sexual- und Gewaltkriminalität zu werden?

Idealiter könnte man sich eine Fülle von Informationen vorstellen, die alles Wissen über die heutige Situation durchtränkte mit Hintergrundwissen und Relativierungen ebenso wie Alternativ-Optionen aus geschichtlichem Wissen. Man könnte einen lebhaften und von Ideen nur so sprühenden Austausch sich vorstellen zwischen kriminologisch bewanderten Historikern und historisch bewanderten Kriminologen, eine Art historisch-kriminalpolitischen Think Tank oder eine Task Force mit der Funktion, nicht nur l'art pour l'art zu produzieren - obwohl auch dagegen gar nichts einzuwenden wäre - sondern auchz in einen kritischen, vielleicht sogar weisen Dialog mit der aktuellen Kriminal- und Gesellschaftspolitik einzutreten.

Die Lage

Wer mit diesen Erwartungen sich den Einführungen und Lehrbüchern der Kriminologie nähert, wird eine große Enttäuschung erleben. Denn von alldem wird sie (oder er) nichts finden. Geschichte spielt für die Kriminologie im Kern so gut wie keine Rolle. Da, wo es der Kriminologie um Erkenntnisse über die Ursachen, Erscheinungsformen, den Umfang der Kriminalität und um die Reaktionen auf Kriminalität geht, befindet sich an dem Punkt, wo man jeweils "Geschichte" als Perspektive und Erkenntnismittel erwarten könnte, eine Leerstelle. Das befreiende Potential einer historischen Perspektive auf den Gegenstand der Kriminologie, also auf Kriminalität und Kontrolle, wird ebenso wenig genutzt wie dasjenige einer kritischen Fachgeschichte.

Es gibt die historische Kriminologie. Aber bekannt ist sie nicht. Nicht einmal in der Kriminologie. Es gibt historische Kriminalitäts- und Kontrollforschung. Aber sie spielt im harten Kern der Kriminologie - in ihren Lehrbüchern und in ihrem Literaturkanon, in ihren Klausuren und Forschungsprojekten - keine Rolle. Stattdessen herrschen auch in dieser wissenschaftlichen Disziplin diejenigen stereotypen Vorstellungen vor, die wir auch aus dem Alltagswissen kennen und die ihrerseits auf Sprech- und Denkweisen beruhen, die den gesellschaftlichen Verhältnissen rund um Kriminalität und Strafe einen quasi-natürlichen Charakter unterstellen.

Wo Geschichte der Kriminalität und der Kontrolle überhaupt vorkommt, folgt sie dem schlichten Modell, alles, was bisher war, als wenig human und wenig effizient darzustellen und die Gegenwart vor diesem Hintergrund als besonders human und effizient und aufgeklärt zu bejubeln. Sie folgt also einer Leitidee, die Herbert Butterfield (1900-1979) einmal als The Whig Interpretation of History (1931) bezeichnet hat, also als eine Art der Historiographie, bei der die Vergangenheit als Fortschritt in Richtung auf immer größere Freiheit, Demokratie, Humanität und Rationalität präsentiert wird: "to produce a story which is the ratification if not the glorification of the present" (Butterfield 1931: ) Geschichte ist Fortschrittsgeschichte und nirgendwo ist dieser Fortschritt besser mit Händen zu greifen als in der Geschichte der Kriminalstrafen: von der Vierteilung zur Sozialtherapie und Wiedereingliederung. - Presenting criminological figures of the past as heroes, who advanced the cause of progress, or villains, who sought to hinder its inevitable triumph.

Ein Erklärungsversuch

In der Erziehungswissenschaft gab es einmal eine Zeit, in der man gerne vom "hidden curriculum", bzw. dem "heimlichen Lehrplan" sprach. Damit war die Entdeckung oder Erkenntnis gemeint, dass man in der Schule nicht nur das zu lernen pflegt, was im Lehrplan steht, sondern ...


Die Geschichte spielt für die Kriminologie, kurz und bündig gesagt, nicht wirklich eine Rolle - jedenfalls keine legitime und produktive Rolle in der Kriminologie als Erkenntnissystem. Woher aber kommt die Immunität der Kriminologie gegen die Geschichte?

Die Kriminologie ist die empirische Wissenschaft vom Verbrechen, bzw. von der Kriminalität. Sie interessiert sich für die Ursachen der Jugend-, Erwachsenen- und Alterskriminalität, der In- und Ausländerkriminalität, der Gewalt-, Sexual-, Drogen-, Eigentums- und Vermögenskriminalität und für das, was man präventiv, ermittlungstechnisch und rückfallverhindernd dagegen unternehmen kann. Wie sich die Dinge vor zwei, fünf oder zehn Jahrzehnten oder gar vor Jahrhunderten darstellten, ist Anekdote oder Ornament, im Kern aber Schnee von gestern. Selbst die Zukunft ist da noch interessanter, obwohl die Kriminologie auch allen Prognosen oder gar Szenarien künftiger Möglichkeiten mit größter Reserviertheit gegenüberzustehen pflegt. Spekulationen gab es schon in der Vergangenheit genug. Spekulationen über die Zukunft wird wenig Nährwert zugetraut. Selbst die Gegenwartsdiagnosen haben noch einen Überschuss von Vermutungen, Angst- oder Wunschdenken. Was die Kriminologie braucht, sind Fakten. Fakten über das, was heute der Fall ist und über das, was für morgen zu erwarten ist. Savoir pour prévoir, prévoir pour prévenir (Auguste Comte). Nicht mehr und nicht weniger. Und das ist schwer genug.

Die offiziellen Aussagen zur Rolle der Geschichte antworten auf diese Frage mit den üblichen Floskeln: man könne die Gegenwart nicht verstehen, wenn man nicht einiges über die Vergangenheit wisse, man könne aus der Geschichte lernen; es sei einfach besser, wenn man auch über die Ursprünge kriminologischen Denkens Bescheid wisse und so weiter und so fort.

Eine kritische Analyse der Funktion von "Geschichte" im Korpus kriminologischer Literatur, wie sie vom New Yorker Kriminologen David Garland (1997) vorgelegt wurde, ergibt jedoch ein ganz anderes Bild. In seinem Aufsatz "Of Crime and Criminals" beschrieb Garland ... Stereotype Dreischritte .. Klassische, Positive, Heute. Whiggish. Geschichte nur als Folie, um die heutige (richtige) Kriminologie von den Vorläufern und Irrtümern der Vergangenheit abzuheben. Fortschrittsgeschichte. Erstens also: Geschichte als Ornament.

Allerdings ist das nicht alles. Denn die Funktion des Ornaments kann einen merkwürdigen Sachverhalt nicht erklären. Das ist der Sachverhalt des Streits um den Ursprung, man kann auch sagen, um die Vaterschaft der Kriminologie als Wissenschaft.

Derlei Kontroversen gibt es auch in anderen Disziplinen. Aber in der Kriminologie ist sie besonders intensiv. Sie wird mit einer gewissen Verbitterung und Härte ausgetragen, die anch Erklärung verlangt.

Es gibt viele Väter. Und es gibt vor allem zwei: Lombroso und Beccaria. Oder drei: Moralstatistiker.

Dahinter steht Professions-Status-Politik. Die Kriminologie ist eine Mehr-Disziplinen-Wissenschaft. Psychowissenschaften, Neurowissenschaften, Soziologie, Jura, Praktiker ...

Wer hat das sagen: Leitdisziplin. Der Streit um die Leitfunktion ist auch ein Streit um Erklärungsmodelle und Politik-Ansätze, es ist ein politischer Streit. Die wissenschaftliche Motivation ist sekundär. Primär ist die wissenschaftspolitische und die gesellschaftspolitische Motivation. Parteimitgliedschaften. Intellektuelle für die SPD oder die FDP oder die CDU.

Die zweite Funktion ist also im Gegensatz zur ornamentalen die politische. Je nachdem wer die Wissenschaft eigentlich begründet hat, .... sind die maßgeblichen Leute und ihre Ratschläge entweder individualistisch-konservativ oder gesellschaftskritisch ...

Links und rechts.

Daher: Degradierung zum Ornament als Statusmerkmal für die Wissenschaftliche Identität und zweitens Instrumentalisierung als Statusmerkmal für die Legitimierung einer bestimmten Kriminalpolitik.

Der häufigste Widerspruch gegen die Diagnose der Nicht-Bedeutung der Geschichte für die Kriminologie - so wie sie ist (nicht unbedingt, wie sie sein sollte) - lautet: "Natürlich ist die Geschichte wichtig. Nichts über sie zu wissen, wäre ein Armutszeugnis für jeden Kriminologen. Sie für irrelevant zu erklären, wäre einfach absurd."

- vertieftes Verständnis, Abbau von simplen Vorstellungen über Rezepte zur Kriminalitätsbekämpfung (Lea)

Bilanz

Bisher ist also festzuhalten:

  1. Die akademischen Disziplinen der Geschichte (als ältere Wissenschaft) und der Kriminologie (als jüngere Wissenschaft) hatten zunächst - also im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert - kaum Berührungspunkte.
  2. In den 1970er Jahren begann mit dem erstarkenden Interesse an der Sozialgeschichte und mit der Rezeption kriminologisch relevanter Werke der sog. New Social Historians eine Blütezeit der historischen Kriminologie, die sich zunächst in der Rezeption anglo-amerikanischer, aber auch französischer Arbeiten, später auch in eigenen deutschsprachigen Forschungen zur Geschichte von Kriminalität und Kontrolle manifestierte.
  3. Die wesentlichen Schritte zur Begegnung zwischen Kriminologie und Geschichtswissenschaft gingen von letzterer aus, nicht von ersterer. Wenn sich die Lage in den letzten Jahren und vielleicht Jahrzehnten deutlich verbessert hat, dann gebührt der Dank dafür in allererster Linie der Geschichtswissenschaft.

Was nun die Kriminologie angeht, so kann man getrost folgende Aussagen treffen: das Interesse der Kriminologie an der Geschichte ist eher beschränkt. Die Befassung mit der Geschichte des Verbrechens gilt eher als Hobby für Randfiguren, die sich am ornamentalen Charakter des Anekdotisch-Merkwürdigen erfreuen, sich damit aber zugleich der eigentlichen systematischen und analytischen Aufgabe der Wissenschaft entziehen. Was soll man aus der Geschichte schon für die Gegenwart oder gar die Zukunft lernen? Hatte nicht ein großer Philosoph - kein Geringerer als Hegel - schon erklärt: Dass das einzige, was man aus der Geschichte lernen könne, sei, dass man nichts aus ihr lernen könne?

Die Kriminologie ist eine der Gegenwart zugewandte Wissenschaft. Was zählt, sind die neuesten Erkenntnisse, gewonnen auf der Grundlage der neuesten amtlichen Kriminalstatistiken und der neuesten Dunkelfelduntersuchungen. Was etwas älter ist, ist veraltet. Die Feststellung, dass die Thesen eines Kollegen auf "alten, inzwischen doch längst durch neue Untersuchungen überholten Daten" beruhten, ist ein sehr gravierender Vorwurf. Ein Kriminologe, der sich mehr als nur am Rande mit der Geschichte der Kriminologie befasst, führt eher eine Nischenexistenz, vielleicht auch deshalb, weil er im eigentlichen Kerngeschäft nicht mithalten will oder kann. Das Verhältnis von Geschichte und Kriminologie lässt sich in größter Skizzenhaftigkeit als Kurzgeschichte in zwei Teilen erzählen. Im ersten Teil haben beide nichts miteinander zu tun. Ihr Verhältnis ist ein Nicht-Verhältnis. Im zweiten Teil kommt es dank der Initiative der Geschichtswissenschaft zu einer gewissen Annäherung. Das Happy End bleibt aber aus. Jedenfalls die Kriminologie bleibt von dem Rendezvous, das der Geschichtswissenschaft viel gebracht zu haben scheint, letztlich unbeeindruckt. Der harte Kern der Kriminologie bleibt wie er ist: Man macht so weiter wie bisher. Das heißt: in den Lehrbüchern der Kriminologie dienen stereotype Darstellungen der "Geschichte der Kriminologie" als nützliches Ornament - nützlich zur Affirmation des Wissenschafts-Status und zur Affirmation von Hegemonialansprüchen als Leitdisziplin für den gesamten kriminologischen Diskurs. In der Theorie hinterlässt die Geschichte keine aufklärende Wirkung. Dort ist es, als hätte es die jüngste Blüte der historischen Kriminologie nie gegeben.

Wir haben gesehen: Geschichte und Kriminologie haben sich in den letzten Jahren angenähert. Und dennoch sind sie noch lange nicht das Traumpaar, das sie darstellen könnten. Für eine solche Feststellung bedarf es natürlich einer gewissen Vorstellung darüber, wann sie denn ein solches Traumpaar wären und wie man das erkennen könnte. Dafür müssen wir neben unserem Realitäts- auch unseren Möglichkeitssinn aktivieren, jene von Robert Musil beschriebene Fähigkeit, das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist - und angesichts des So-Seins der Verhältnisse immer zugleich auch zu denken: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. Vor allem: dass es besser sein könnte.

Zitate

  • "Rechtsgeschichte als Immunschutz vor (allzu) Aktuellem“ nennt sich der Beitrag von Gerhard Lingelbach, der Rechtsgeschichte ansieht als Bildung durch die Methode des Denkens, Wissen um Zusammenhänge und Einbindung eines Rechtsinstituts, „Würzung“ der Lehre. Sie vermag Werden und Vergehen von Rechtsinstitutionen überhaupt erst verständlich zu machen und populistische Forderungen zu mäßigen oder verhindern und die Chancen für die Stabilität in der Wertordnung zu vergrößern. - Koebler
  • "Kapitel III ist ein Abriss der Grundlinien der historischen Entwicklung der Sozialforschung. Sich mit der Geschichte der Sozialforschung zu befassen ist schon deshalb von Wert, um eine etwas gelassenere Haltung gegenüber ‹neuen› Methoden oder bisweilen hochgespielten ‹methodischen Kontroversen› einzunehmen. Vieles, was heute vielleicht technisch perfekter gemacht wird, wurde im Ansatz schon in manchen recht kreativen ‹klassischen› Studien vorgedacht. Wer allerdings weniger Interesse und Neugier bezüglich der historischen Entwicklung einer Disziplin hat, kann dieses Kapitel überschlagen" (Dieckmann 2007: 13)
  • Perhaps because medical progress has been one of modernity's signal accomplishments, the history of medicine, in its early phases, tended toward a Whiggish account of scientific advancement. In recent decades, however, historians have broadened their purview to reveal how the study of medicine can increase our understanding of underlying social and cultural realities. - Andrew Keitt
  • "Geschichte ist die Gewissheit, die dort entsteht, wo die Unvollkommenheiten der Erinnerung auf die Unzulänglichkeiten der Dokumentation treffen." - "Ach ja? Wo haben Sie das her?" - "Lagrange, Sir. Patrick Lagrange. Ein Franzose."

Julian Barnes, Vom Ende einer Geschichte (2011: 12, 24, 25)

Literatur

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Weblinks

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Reste

Welche Rolle spielt eigentlich die historische Dimension in der Kriminologie? Welche Bedeutung misst die Kriminologie selbst der Geschichte und der Geschichtswissenschaft bei? Was hat die Historie der empirischen Wissenschaft vom Verbrechen, die sich traditionell mit den Ursachen der Kriminalität und mit verschiedenen Methoden der Prävention und Reaktion befasst, heute noch oder wieder oder immer noch zu sagen?

Nietzsche: man könnte sich drei historien vorstellen, Walter Benjamin.

welche Bedeutung die Geschichte des Faches für deren heutiges Selbstverständnis besitzt und welche Bedeutung die jeweilige Disziplin den Geschichtswissenschaften beimisst. In diesem Zusammenhang erlaube

1. Es gibt eine quasi-kanonisierte Geschichtsschreibung der > Kriminologie, die sich z.B. in nahezu allen Kriminologie-Lehrbüchern > findet. Das Muster ist denkbar schlicht: Vorläufer, klassische > Schule (Beccaria), Moralstatistiker (Quetelet), positive Schule > (Lombroso), heutige Kriminologie. > 2. Es gibt aber auch eine ungewöhnlich intensive Auseinandersetzung > darum, wer denn nun "wirklich" der Vater der Kriminologie und wer > nur Vorläufer oder Irrläufer gewesen sei. Die Matadore als > potentielle Väter sind: Lombroso oder Beccaria oder die > Moralstatistiker. Es gibt aber auch Außenseiter-Kandidaten wie Hans > Gross. > 3. Der Grund für die besondere Intensität der Auseinandersetzung ist > in der Funktion der Geschichtsschreibung für die Gegenwart und die > Zukunft zu suchen. In dem Gemenge der Disziplinen, die sich in der > Kriminologie tummeln, wollen verschiedene jeweils die Leit-Disziplin > sein (Status, Reputation, Ressourcen, kriminalpolitische > Leitfunktion). Beispiele für Phasen dieses Konflikts: Streit um den > "Lombrosian Myth in Criminology"; aber auch: Sutherland/Glueck; > 1960er Jahre in Deutschland. > 4. Wenig aufgearbeitet ist nach wie vor die Geschichte der > Kriminologie 1933-1945. Einen Grund dafür kann man in den üblichen Interessenkonflikten vermuten, die auch andere Disziplinen behinderten (Selbstschutz der akademischen Lehrer: Kritik als Karrierehindernis). Dreier. Streng. Allerdings oberflächlich geblieben. Und zu hart gegenüber Exner, zu weich gegenüber von Hentig, und wohl auch Mezger. Munoz-Conde. Speziell kommt bei der Kriminologie noch ein weiterer Punkt hinzu. Das explosive Potential für die Grundfesten, die axiomatische Basis der Kriminologie sozusagen. 2. Die Aufarbeitung der Geschichte aller anderen Wissenschaften im Dritten Reich würde nicht die Parameter selbst in Frage stellen: die grundlegenden Theorien der Geografie, der Mathematik, der Physik, der Soziologie. Genau das müsste aber bei einer Reflexion der Geschichte der Kriminologie im Dritten Reich passieren. Warum? 3. Die Kriminologie existiert als Wissenschaft nur, weil und insofern sie die staatliche > Perspektive auf Ordnung/Unordnung, Recht/Unrecht usw. übernimmt. Den > Staat als Täter nicht nur de-kontextualisiert gelegentlich einmal zu > thematisieren, sondern in die Kriminalitäts- und Täter-Theorien > aufzunehmen, brächte die Parameter der Disziplin ins Wanken. > Interessant sind Seitenblicke auf Leute, die das versucht haben: > Wayne Morrisson, Peter Strasser, Anne-Eva Brauneck, aber auch Henner > Hess mit seinem "Repressiven Verbrechen". > 5. Anregung für eine künftige Kriminologie-Geschichte kommt von > außen: 1. Nietzsche, Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, > 2. Peter Becker, Wetzell u.a. aus der Geschichtswissenschaft selbst > (inklusive Silviana Galassi). In Argentinien entwickeln sie gerade > mit Alvaro Pires (Kanada) eine Geschichte der Kriminologie als > Geschichte des Wissens mit foucaldischen Anklängen. Auch sehr schön.

  • Die Heftigkeit der Vaterschafts-Ansprüche und -Konflikte hängt mit dem Kampf um die Hegemonie zusammen. Der Kampf um die Leitwissenschaft hängt mit gesellschaftspolitischen Präferenzen zusammen. Wissenschaft und Politik: aktive und passive Funktion.

Kriminologie in Deutschland und Kriminologie in den USA