Subsidiaritätsprinzip

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Definition

frz. subsidiaire "unterstützend, zusätzlich" "an zweiter Stelle antretend"; lat. subsidiarius "als Aushilfe dienend"

Erläuterung

Das Subsidiaritätsprinzip ist ein sozialethisches "Unterstützungs"-Prinzip (der Bergiff stammt ursprünglich aus der katholischen Soziallehre) wonach alle Hilfstätigkeit für ein Individuum oder für eine Gruppe von Individuen erst dann einsetzen soll, wenn die Kräfte dieser zur Selbsthilfe nicht mehr ausreichen. Frühere Formulierungen des Grundsatzes finden sich im Alten Testament ebenso wie bei Aristoteles, Montesquieu, Tocqueville oder Abraham Lincoln.

Ein subsidiäres Staatsverständnis ist grundlegend für die liberale Staatstheorie. Danach darf der Staat die Freiheit der Bürger nur im Maße des unbedingt Notwendigen beschränken. Das Subsidiaritätsprinzip wird in diesem Sinne auch auf das Verhältnis kleinerer sozialer Gemeinschaften zu jeweils größeren bezogen. Hier verleiht es der kleineren Gemeinschaft das Recht, unbegründete Hilfe (aber auch Eingriffe) der Größeren abzuweisen, wie es andererseits die Größeren verpflichtet, die jeweils kleinere Gemeinschaft bei der Erhaltung ihrer Kräfte und Selbsthilfemöglichkeiten zu unterstützen.

Im Staat soll auf oberster Ebene nur das geregelt werden, was von der unteren Ebene nicht gewährleistet werden kann. Danach steht es dem Staat nicht zu, sich um Probleme zu kümmern, die von den Bürgern in Eigenverantwortung selbst gelöst werden können. Für die Absicherung individueller Risiken hat der Einzelne selbst Sorge zu tragen. Das Kollektiv kommt hilfsweise da zum Zuge, wo der Einzelne oder die Gemeinschaft überfordert ist. Die Wiederbelebung des Subsidiaritätsprinzips in der Sozialstaatsdiskussion und in der Europapolitik ist Ausdruck eines wachsenden Interesses an ordnungspolitischen Grundsatzfragen zu den Zielen staatlichen und suprastaatlichen Handelns und den Folgerungen für die Gestaltung von Institutionen. Vorausgegangen war die Erfahrung der Grenzen staatlichen Handelns und der Notwenigkeit, im gesellschaftlichen Wandel die Verantwortlichkeit von Individuen, Gesellschaft und Staat neu zu bestimmen.

Das Subsidiaritätsprinzip kann nur die Blickrichtung vorgeben und keine Detaillösungen liefern. Die moderne Institutionenanalyse kann das Anliegen der Subsidiarität aufgreifen und zu einer empirisch gehaltvollen und hinreichend komplexen Theorie institutioneller Reformen weiterentwickeln.

Die Gefahr der Subsidiarität liegt in der missbräuchlichen Dogmatisierung als starre Zuständigkeitsregel oder nicht mehr überprüfte Effizienzvermutung. Ohne konzeptionelle Differenzierung und enge Verbindung zu den Erfahrungswissenschaften droht das Subsidiaritätsprinzip zum Schlagwort abzusinken, mit dem Ansprüche an öffentliche Aufgabenerfüllung pauschal abgewiesen oder beliebige Entscheidungen durch Rückgriff auf Prinzipen aufgewertet werden.

Das Subsidiaritätsprinzip spielt auch eine Rolle in der Europäischen Union (das Subsidiaritätsprinzip wird als eine wichtige Grundlage der Verfassung der Europäischen Union angesehen, um die Macht des EU-Apparats zu beschneiden oder wenigstens nicht ausufern zu lassen), der Sozialhilfe (siehe § 2 BSHG) und dem Strafrecht.
Kriminologische Relevanz findet das Subsidiaritätsprinzip beispielsweise in der Diskussion des Täter-Opfer-Ausgleichs: " ...das dem Strafrecht zur Eigenlegitimation dienende Strafbedürfnis der Bevölkerung ist 'möglicherweise das Produkt einer vorenthaltenen realen Wiedergutmachung' (Sessar 1986, S. 88) - möglicherweise genügte dies den Opfern oder der Bevölkerung in vielen Fällen schon.

Diskutiert man in diesem Zusammenhang den 'legitimierten Umfang strafrechtlicher Intervention" (Sessar, 1992, S. 254), so stellt sich die Frage, ob nicht Wiedergutmachung und Täter-Opfer-Ausgleich im Sinne des 'Subsidiaritätsprinzips', als einem genuinem Sozialprinzip, das unter anderem gegen die 'Kolonialisierung der Lebenswelt durch Verrechtlichung' steht (Sessar 1992, S. 254f.)eine sinnvolle Alternative ist.

Messmer jedenfalls resümiert, daß der 'Täter-Opfer-Ausgleich (TAO) nach einer nur verhältnismäßig kurzen Erprobungszeit mittlerweile einen festen Platz in der Diskussion um ambulante Maßnahmen im Jugendstrafrecht' hat (Messmer 1991, S. 56)" (Lamnek, 1994).

Überlegungen zu Subsidiarität und Subsidiaritätsprinzip finden sich auch in Sebastian Scheerers Abhandlung "Kritik der strafenden Vernunft" (2001, S. 76):

"...durch die Einführung des Subsidiaritätsprinzips würde der Einsatz staatlicher Gewalt zur unmittelbaren heteronomen Konfliktregelung zurückgenommen. Staatliche Regelungsmöglichkeiten blieben gleichwohl erhalten, wären aber nachrangig. Der Staat bliebe nicht untätig, aber er wäre Dienstleister für den Prozeß der Normvalidierung, nicht Herr dieses Verfahrens (Ermittlung, Verfolgung, Verhaftung, ausüben und begrenzen unmittelbaren Zwangs, weitestmögliche Entlastung des Opfers vom Selbst-Betreiben der Angelegenheit, ohne es aber zu bevormunden)..."

Vgl.:

Literatur

  • Hartfiel, Günter (Hg.): Wörterbuch der Soziologie. (Stuttgart, 1988).
  • Kreft /Mielenz: Wörterbuch der sozialen Arbeit. (Basel, 1980).
  • Lamnek, Siegfried: Neue Theorien abweichenden Verhaltens. (München, 1994).
  • Lecheler, H. 1993: Das Subsidiaritätsprinzip. Strukturprinzip einer europäischen Union. (Berlin, 1993)
  • Lenz, Carsten (Hg.): Kleines Politik-Lexikon. (Wien, Oldenbourg, 2001).
  • Messmer, H.: Zwischen Parteiautonomie und Kontrolle: Aushandlungsprozesse im Täter-Opfer-Ausgleich. in: Bundesministerium der Justiz (hg.): Täter-Opfer-Ausgleich, S. 115-131, (Bonn 1991).
  • Scheerer, Sebastian: Kritik der strafenden Vernunft (2001).
  • Schulze, R.-O.: Statt Subsidiarität und Entscheidungsautonomie - Politikverflechtung und kein Ende. In: Staatswissenschaft und Staatspraxis 4, S. 225-255. (1993).
  • Sessar, K.: Wiedergutmachung als Konfliktregelungsparadigma? In: Kriminologisches Journal, 2/1986, S. 86-194).
  • Sessar, K.: Wiedergutmachung oder Strafen. Hamburger Studien zur Kriminologie Bd. 11, 1992.
  • Waschkuhn, A : Was ist Subsidiarität? (Opladen, 1995).