Souveräne Polizei

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Der Begriff Souveräne Polizei wurde vom italienischen Philosophen Giorgio Agamben geprägt, dessen Werke sich mit Grundfragen des Staates, der Souveränität, von Raum, Recht, Rechtlosigkeit, Gewalt im Recht und nicht zuletzt eben auch mit der häufig unterschätzten Rolle der Polizei befassen.


Die Polizei ist der offene Gradmesser der ausführenden Gewalt eines Staates, sie ist Teil des Rechtssystems und handelt innerhalb der Rechtsordnung. Sie ist nicht unpolitisch, sie sorgt für Recht und Ordnung der jeweiligen Regierung. Agamben führt hier den Begriff des Souveräns an und Souverän ist der, der die Macht hat. Er begründet das Gesetz und kann es gleichzeitig auch wieder außer Kraft setzen. Er entscheidet über die Gültigkeit der jeweilig geltenden Rechtsordnung und Agamben bezeichnet dies als politische Machtverhältnisse. Für ihn sind Strukturen von Gewalt von vornherein im Recht angelegt. Das ausführende Organ des jeweils geltenden Rechts ist die Polizei und es ist der Souverän, der den Zeitpunkt bestimmt an dem das bisher geltende Recht nicht mehr gelten soll - er ruft den Ausnahmezustand aus.


Der Ausnahmezustand tritt an die Stelle des bisherigen Normalzustandes und das Verhältnis von Ausnahme und Regel verkehrt sich in das Gegenteil. Der Ausnahmezustand ist ein Ausschluß aus der Norm, er bleibt aber mit der Norm verbunden aufgrund der Ausschließung. "Es ist nicht die Ausnahme, die sich der Regel entzieht, es ist die Regel die, indem sie sich aufhebt, der Ausnahme stattgibt ; und die Regel setzt sich als Regel, indem sie mit der Ausnahme in Beziehung bleibt" (Agamben, 2002:28).


Der Souverän stellt sich außerhalb der Rechtsordnung, gleichzeitig befindet er sich aber immer noch in ihr. Das Recht wird exkludiert inkludiert, es gibt kein außerhalb des Rechts, das Recht steht außerhalb seiner selbst in der Zone des Nicht-Rechtes. In dieser Zone kann nicht mehr unterschieden werden zwischen innen und außen und Agamben nennt diese Zone die definitorische Lücke. In dieser Lücke steht der Souverän, er befindet sich zwischen den Trennungen, die er selbst erst ermöglicht hat. Jede politische Bestimmung der Souveränität erzeugt ihre eigene definitorische Lücke.


Die Polizei ist als ein Scharnier gedacht und hier entblößt sich deutlich die Nähe zwischen der Vertauschung von Recht und Gewalt. Der Ort an dem die Gewalt ist, kennzeichnet die Figur des Souveräns, hier wird sichtbar wer die Entscheidungsmacht hat. Mittels seiner Macht hat der Souverän das Recht aufgehoben und die Polizei legitimisiert seine Interessen durchzusetzen. Die Polizei kann nicht mehr für die Einhaltung der Rechtsordnung garantieren, der Souverän verfügt uneingeschränkt über jedes einzelne Leben. Er hat die Trennung aufgehoben zwischen innen und außen, zwischen öffentlich und privat, er bestimmt welches Leben tötbar ist und welches nicht. Der Ausnahmezustand bildet die Entscheidungsmacht über Leben und Tod.


Es entsteht ein totalitärer Zugriff auf den Einzelnen. Nach den Regeln des Souveräns kann getötet werden ohne einen Mord zu begehen, der Souverän benutzt die Polizei als Mittel um seine Ziele zu verfolgen. Polizeigewalt wird als legale Polizeiopperation bezeichnet und der Souverän bleibt dadurch unter dem Deckmantel der Normalität. Niemand aus der Bevölkerung ist beunruhigt, nach außen sieht der Ausnahmezustand wie der Normalzustand aus. Die Judenvernichtung konnte lange so methodisch durchgeführt werden, indem sie als legale Polizeiopperation konzipiert war.


Der Souverän nutzt die Polizei um seine Ziele zu verfolgen, die Polizei hat dadurch Teilhabe an der Gewalt und der Souverän weist eine Nähe zum Verbrecher auf. Der Staat kriminalisiert sich selbst indem er seine eigenen Interessen durchsetzt und realisiert, mittels polizeilicher Gewalt. Verändert sich die souveräne Macht, kann der Staat selbst in die Situation kommen kriminalisiert zu werden, aufgrund einer erneuten Vertauschung von Recht und Gewalt.


Zitate

Der Souverän entscheidet nicht über das Zulässige und Unzulässige, sondern über die ursprüngliche Einbeziehung des Lebewesens in die Sphäre des Rechts... (Agamben 2002: 36)


In Wahrheit steht der Ausnahmezustand weder außerhalb der Rechtsordnung, noch ist er ihr immanent, und das Problem seiner Definition betrifft genau eine Schwelle oder eine Zone der Unbestimmtheit, in der innen und außen einander nicht ausschließen, sondern sich un-bestimmen. Die Suspendierung der Norm bedeutet nicht ihre Abschaffung, und die Zone der Anomie, die sie einrichtet, ist nicht ohne Bezug zur Rechtsordnung (Agamben, 2004:33).


Wenn das Eigentümliche des Ausnahmezustands die (totale oder partielle) Suspendierung der Rechtsordnung ist, wie kann dann eine solche Suspendierung noch in der Rechtsordnung erhalten sein? (Agamben 2004: 32).

Wir haben indes mit eigenen Augen gesehen, wie infolge einer Entwicklung, die mit Ende des Ersten Weltkriegs begonnen hat, der Feind zuerst aus der zivilisierten.Menschheit ausgesclilossen und zum Kriminellen gestempelt wird; erst danach wird es zulässig, ihn in einer Po1izeioperation zu vernichten, bei der keine Pflicht zur Respektierung irgendeiner rechtlichen Norm besteht und, in einer Rückkehr zu den archaischsten Bedingungen der Kriegführung, Zivilbevölkerung und Soldaten, das Volk und sein Verbrecher-Herrscher [sovrano-criminale] vermengt werden können.

Souveräne Polizei. Eine der weniger zweideutigen Lehren aus dem Golfkrieg ist der endgültige Eingang der Souveränität in die Gestalt der Polizei. Die Ungeniertheit, mit der die in besonderer Weise verheerende Ausübung eines ius belli sich hierbei das nach außen hin unscheinbare Gewand einer Polizeioperation gegeben hat, darf nicht (wie dies berechtigterweise empörte Kritiker getan haben) als eine zynische Verstellung verstanden werden. Das vielleicht spektakulärere Merkmal dieses Krieges ist, dass die zu seiner Rechtfertigung vorgeschobenen Argumente nicht als ideologische Überbauten abgetan werden dürfen, die ein verborgenes Ziel kaschieren sollen: Im Gegenteil, die Ideologie ist bereits so weit in die Realität eingedrungen, dass die angeführten Argumente (im besonderen jene, die den Plan einer neuen Weltordnung betreffen) streng wörtlich genommen werden müssen. Das soll freilich nicht heißen - wie dies Stegreifjuristen und bösgläubige Apologeten geltend zu machen versuchten -‚ dass der Golfkrieg eine gesunde Einschränkung der staatlichen Souveränitäten bedeutet hätte, in der diese sich einem übernationalen Organismus beugten, um ihm als Polizisten zu dienen. Tatsache ist, dass die Polizei entgegen der allgemeinen Ansicht, die in ihr eine rein administrative Funktion der Vollstreckung des Rechts sieht - vielleicht der Ort ist, an dem sich mit größter Deutlichkeit die Nähe, ja fast die konstitutive Vertauschung von Gewalt [violenza] und Recht entblößt, die die Figur des Souveräns kennzeichnet. - Nach altrömischem Gebrauch konnte niemand, aus keinem Grund der Welt, zwischen den mit dem imperium betrauten Konsul und den am nächsten stehenden Liktor treten, der die Opferaxt trug (mit der die Todesurteile vollstreckt wurden). Diese unmittelbare Nachbarschaft ist nicht zufällig. Wenn nämlich der 'Souverän' derjenige ist, der dadurch, dass er den Ausnahmezustand ausruft und die Gültigkeit des Gesetzes aufhebt, den Ort bezeichnet, an dem kein Unterschied zwischen Gewalt [violenza] und Recht besteht, dann bewegt sich die Polizei sozusagen immer in einem solchen Ausnahmezustand. Die Erfordernisse von öffentlicher Ordnung und Sicherheit, über die sie in jedem Einzelfall neu entscheiden muss, bilden eine Zone der Unterscheidungslosigkeit zwischen Gewalt und Recht, die in exakter Symmetrie zu derjenigen der Souveränität steht. Mit Recht bemerkte Benjamin: Die Behauptung, dass die Zwecke der Polizeigewalt mit denen des übrigen Rechts stets identisch oder auch nur verbunden wären, ist durchaus unwahr. Vielmehr bezeichnet das "Recht" der Polizei im Grunde den Punkt, an welchem der Staat, sei es aus Ohnmacht, sei es wegen der immanenten Zusammenhänge jeder Rechtsordnung, seine empirischen Zwecke, die er um jeden Preis zu erreichen wünscht, nicht mehr durch die Rechtsordnung sich garantieren kann. - Daher das offene Vorzeigen der Waffen, die zu allen Zeiten die Polizei kennzeichnet. Entscheidend ist dabei nicht so sehr die Drohung gegenüber dem, der das Gesetz übertritt (tatsäch¬lich geschieht das Vorzeigen an den allerfriedlichsten öffentli¬chen Orten und im besonderen während der offiziellen Zerimo¬nien), als vielmehr die Ausstellung jener souveränen Gewalt [uiolenza], deren Zeugnis die physische Nähe zwischen Konsul und Liktor ist. - Diese heikle Kontiguität von Souverän und Polizeifunktion drückt sich in dem Nimbus unantastbarer Heiligkeit aus, der in den alten Ordnungen die Figur des Herrschers und die des Henkers begleitet. Vielleicht hat sich das nie mit solcher Evidenz gezeigt wie anlässlich des Zufalls (von dem uns ein Chronist berichtet), der es wollte, dass am 14. Juli 1418 in einer Pariser Straße der Herzog von Bourgogne, soeben an der Spitze seiner Truppen als Eroberer in die Stadt eingezogen, und der Henker Coqueluche, der in jenen Tagen unermüdlich für ihn gearbeitet hatte, aufeinandertrafen: Der mit Blut bedeckte Henker nähert sich dem Herrscher und reicht ihm die Hand mit dem Zuruf »Mein lieber Bruder!« (»Mon beau frère!«). - Der Eingang der Souveränität in die Figur der Polizei hat also nichts Beruhigendes an sich. Ein Beweis dafür ist die Tatsache - über die sich die Historiker des Dritten Reichs nicht zu wundern aufhören - dass die Judenvernichtung von Anfang bis Ende ausschließlich als Polizeioperation konzipiert war. Bekanntlich konnte nie auch nur ein einziges Dokument gefunden werden, das den Genozid als Entscheidung eines souveränen Organs beglaubigen würde: Das einzige Dokument, das wir diesbezüglich besitzen, ist das Protokoll der Konferenz, zu der sich am 20. Januar 1942 am Großen Wannsee eine Gruppe von Polizeifunktionären mittleren und niederen Ranges versammelte, von denen uns allein der Name Adolf Eichmanns ins Auge sticht, des Leiters von Referat IV-B, Sektion 4 der Gestapo. Nur weil sie als Polizeioperation geplant und durchgeführt wurde, hat die Judenvernichtung so methodisch und so mörderisch sein können; umgekehrt aber erscheint sie gerade als Polizeioperation heute in den Augen der zivilen Menschheit um so barbarischer und abscheulicher. - Doch die Investitur des Souveräns zum Polizeibeamten hat noch etwas anderes zur Folge: Sie macht die Kriminalisierung des Gegners erforderlich. Schmitt hat gezeigt, wie im europäischen Recht das Prinzip par in par non habet iurisdictionem es ausschloss, dass über die Herrscher eines verfeindeten Staates als Kriminelle geurteilt werden konnte. Die Erklärung des Kriegszustands implizierte nicht die Aufhebung dieses Prinzips und auch nicht der Konventionen, die sicherstellten, dass der Krieg gegen einen als gleichwertig anerkannten Feind nach präzisen Regeln ablief (deren eine die strikte Unterscheidung zwischen Zivilbevölkerung und Armee war). Wir haben indes mit eigenen Augen gesehen, wie infolge einer Entwicklung, die mit Ende des Ersten Weltkriegs begonnen hat, der Feind zuerst aus der zivilisierten.Menschheit ausgesclilossen und zum Kriminellen gestempelt wird; erst danach wird es zulässig, ihn in einer Po1izeioperation zu vernichten, bei der keine Pflicht zur Respektierung irgendeiner rechtlichen Norm besteht und, in einer Rückkehr zu den archaischsten Bedingungen der Kriegführung, Zivilbevölkerung und Soldaten, das Volk und sein Verbrecher-Herrscher [sovrano-criminale] vermengt werden können. Dieses progressive Abrutschen der Souveränität in die obskursten Zonen des Polizeirechts hat freilich zumindest einen positiven Aspekt, der hier aufgezeigt werden soll. Die Staatsoberhäupter, die mit so großem Eifer die Kriminalisierung des Feindes betrieben haben, machen sich eines nicht klar: dass nämlich diese Kriminalisierung sich jederzeit gegen sie selbst kehren kann. Heute gibt es auf der Welt kein Staatsoberhaupt, das nicht in diesem Sinne potentiell ein Verbrecher wäre: Wer auch immer heute den traurigen Rock der Souveränität trägt, weiß, dass er eines Tages von seinen eigenen Kollegen als Krimineller behandelt werden kann. Und es werden ganz gewiss nicht wir sein, die ihn bedauern. Denn der Souverän, der sich weitgehend einverstanden erklärt hat, sich im Gewand des Büttels und des Henkers zu präsentieren, zeigt nun endlich seine ursprüngliche Nähe zum Verbrecher (Agamben 2006).

Literatur

  • Agamben, Giorgio (2004) Ausnahmezustand, 1. Auflage, Frankfurt am Main, Suhrkamp: 7-40
  • Agamben, Giorgio (2002) Homo Sacer, 1. Auflage, Frankfurt am Main, Suhrkamp: 25-39

Weblinks

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