Kritik der Polizei bei Walter Benjamin und Giorgio Agamben

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Die Kritik der Polizei thematisieren sowohl Walter Benjamin als auch Giorgio Agamben in ihren Werken. Der deutsche Philosoph und kritische Theoretiker Walter Benjamin beschäftigt sich in seinem Essay Zur Kritik der Gewalt von 1920/1921 mit der Rolle der Polizei innerhalb der Rechtsordnung und hinterfragt ihr Verhältnis zur Gewalt. Er kritisiert, dass die Polizei Gewalt nicht nur als Mittel zur Rechtserhaltung anwende, sondern innerhalb von Ermessungsspielräumen durch Gewaltanwendung Recht auch selber setze. Rund siebzig Jahre später veröffentlicht der italienische Sozialphilosoph Giorgio Agamben 1995 seinen Text Souveräne Polizei. Unter Bezugnahme auf Benjamins Schrift beschreibt er den „Eingang der Souveränität in die Polizei“ – das Zusammenfallen von Recht und Gewalt, was er als Ausnahmezustand bezeichnet, innerhalb dessen die Polizei eigenmächtig handle und keinen gesetzlichen Einschränkungen unterliege.

Walter Benjamin hat Giorgio Agamben sowohl inhaltlich als auch stilistisch geprägt (vgl.Benjamin – Agamben. Symposium über das Politische im 21. Jahrhundert ). Der 1942 geborene Italiener editierte bislang unbekannte Manuskripte des deutschen Philosophen, ist Mitherausgeber der italienischen Gesamtausgabe Benjamins und Verfasser mehrerer Aufsätze. Während seine Rezeption des Werkes Walter Benjamins in den vergangenen Jahren große internationale Aufmerksamkeit auf sich zog (vgl. Geulen 2005: 138-142; Steinhauer 2010: 206; Borsó/Morgenroth/Solibakke/Witte 2010), wurde den Gemeinsamkeiten der Polizeikritiken Benjamins und Agambens bislang nur wenig Beachtung geschenkt.


Walter Benjamin

Zeit- und theoretischer Kontext


Walter Benjamin verfasste den Essay Zur Kritik der Gewalt während der Jahreswende 1920/21 (vgl. Honneth 2011: 193). Die bekannteste und am häufigsten zitierte Version des Textes befindet sich in Band 2.1 von Walter Benjamins Gesammelten Schriften, die 1991 von Rolf Tiedemann und Hermann Schwepenhäuser im Suhrkamp Verlag publiziert wurden (vgl. Benjamin 1991). Vermutlich plante Benjamin, der sich Anfang der 1920er Jahre verstärkt mit politischen Fragen auseinandersetzte, den Essay als Teil einer längeren Abhandlung über Politik, die aber unausgeführt blieb (vgl. Honneth 2011: 193; Saar 2006: 113). Wenige Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs und der Novemberrevolution im Deutschen Reich (1918) sowie den russischen Revolutionen und dem darauf folgenden Bürgerkrieg (1917-1921) befand sich „das europäische Modell der bürgerlichen, liberalen und parlamentarischen Demokratie“ (Derrida 1991: 66) und die damit verbundene Vorstellung von einem Rechtsstaat in einer tiefen Krise. Neben der Analyse dieses Zustandes forderte zu dieser Zeit insbesondere die Frage nach der rechtlichen Legitimität außerstaatlicher, revolutionärer Gewalt die Rechtstheoretiker_Innen, Politiker_Innen und politischen Philosoph_Innen heraus (vgl. Honneth: 193; 200). Auch Walter Benjamin reflektierte in seinem Text, mit Rückgriff auf die Schriften der politischen Theoretiker_Innen Charles Péguy, Georges Sorel und Ernst Unger, diese besondere gesellschaftliche Konstellation (vgl. Honneth 2011: 193f.). Das zeigt sich unter anderem bei der Auswahl der von ihm verwendeten Beispiele des Streikrechts und des revolutionären Generalstreiks oder seiner scharfen Kritik an der damaligen Polizei.

Am deutlichsten tritt dies am Ende des Essays hervor, wo Benjamin die eigentliche Fragestellung des Essays diskutiert:

„Sein [Benjamins] eigentliches Thema ist ersichtlich nicht das der Stellung der Gewalt im modernen Recht; auch widmet er sich im weiteren nicht einfach der Frage nach der Gewalt des Rechts, die er vielmehr wie selbstverständlich für positiv beantwortet hält; ihn beschäftigt letztlich eine Quelle und Form von Gewalt, die von so umstürzlerischer Art ist, daß [sic!] sie der gewaltsamen Institution des Rechts im Ganzen ein Ende bereiten kann.“ (Honneth 2011: 193)

Die Argumentation im Essay


Zusammen mit den Thesen Über den Begriff der Geschichte ist der Essay Zur Kritik der Gewalt der Schlüsseltext zum Verständnis der politischen Schriften Walter Benjamins (vgl. Saar 2006: 116). Neben politischer Motive bedient sich Benjamin in seinem Gewaltessay auch theologischer, rechts- und geschichtsphilosophischer. Der auf mehreren Ebenen argumentierende Text kann in drei Hauptschritte eingeteilt werden (vgl. Saar 2006: 113-115): Im ersten Teil umreißt Benjamin seinen Gegenstand, die Stellung der Gewalt in der Rechtsordnung, und stellt seine Hypothesen auf. Im zweiten Teil kritisiert er immanent die rechtliche, also die rechtsetzende und rechtserhaltende, Gewalt. Abschließend behandelt Benjamin den Begriff der reinen Gewalt. Dieser steht den Begriffen aus dem zweiten Teil gegenüber. So verweist er auf die Möglichkeit eines externen Standpunktes außerhalb der Rechtsordnung.

  1. Die zentralen Begriffe in Benjamins Argumentation sind Gewalt, Recht, Gerechtigkeit und Rechtsordnung:

    „Die Aufgabe einer Kritik der Gewalt läßt sich als die Darstellung ihres Verhältnisses zu Recht und Gerechtigkeit umschreiben. Denn zur Gewalt im prägnanten Sinne des Wortes wird eine wie immer wirksame Ursache erst dann, wenn sie in sittliche Verhältnisse eingreift. Die Sphäre dieser Verhältnisse wird durch die Begriffe Recht und Gerechtigkeit bezeichnet. Was zunächst den ersten von ihnen angeht, so ist klar, daß das elementarste Grundverhältnis einer jeden Rechtsordnung dasjenige von Zweck und Mittel ist. Ferner, daß Gewalt zunächst nur im Bereich der Mittel, nicht der Zwecke aufgesucht werden kann.“ (Benjamin 1991: 179)

    Eine Kritik der Gewalt, wie sie Benjamin versteht, hat nicht die Anwendung der Gewalt als Gegenstand, sondern stellt sich die Frage, „ob Gewalt überhaupt, als Prinzip, selbst als Mittel zu gerechten Zwecken“ (Benjamin 1991: 179) rechtfertigbar sei. Der Maßstab einer Kritik ist demgemäß also nicht, ob die Gewalt als Mittel zu gerechten Zwecken eingesetzt wurde. Benjamin kritisiert recht oberflächlich die Naturrechtstheorien (vgl. Honneth 2011: 199), die eben mit dem Verweis auf gerechte Zwecke die Frage nach der Rechtfertigung von Gewalt als Mittel beantwortet sehen würden (vgl. Benjamin 1991: 180). Die Theorie des Rechtspositivismus hingegen würde, so Benjamin, eine „grundsätzliche Unterscheidung hinsichtlich der Arten der Gewalt […], unabhängig von den Fällen ihrer Anwendung“ vornehmen und sei deswegen „als hypothetische Grundlage im Ausgangspunkt der Untersuchung annehmbar“ (Benjamin 1991: 181). Diese Unterscheidung bestehe zwischen sanktionierter und nicht-sanktionierter Gewalt (ebd.). Benjamin untersucht im Folgenden anhand von konkreten historischen Beispielen wie dem Streikrecht, der Todesstrafe oder der Polizei, ob diese Unterscheidung der Gewalt in der „Sphäre der Mittel“ (Benjamin 1991: 179) von der rechtspositivistischen Theorie konsistent durchgeführt werden kann.
  2. Mithilfe seiner Ausführungen zum Streikrecht zeigt Benjamin eine Funktion der Gewalt auf, die nicht notwendig mit den Vorstellungen von Gerechtigkeit und den Zwecken der Rechtsordnung einhergehen muss: „Der Streik aber zeigt […], daß [sic!] sie [die Gewalt] imstande ist, Rechtsverhältnisse zu begründen und zu modifizieren, wie sehr das Gerechtigkeitsgefühl sich auch dadurch beleidigt finden möge.“ (Benjamin 1991: 185). Benjamin nennt diese Form der Gewalt die rechtsetzende Gewalt. Anhand seiner Analyse der Polizei stellt Benjamin eine weitere Form der Gewalt vor: die rechtserhaltende Gewalt (vgl. 1.3). In beiden Fällen versucht Benjamin aufzuzeigen, dass es notwendigerweise zu einem „Kollaps des positiv-rechtlichen Maßstabs“ (Honneth 2011: 200) kommen müsse (vgl. Benjamin 1991: 183-190). Dass also Gewalt nicht nur Mittel sei, sondern es eine strukturelle „Nichtfixierbarkeit von Zweck und Mittel“ (Honneth 2011: 203) innerhalb der Rechtsordnung gebe. Ferner folgt aus der doppelten Funktion der Gewalt als Mittel zur Rechtsetzung und Rechtserhaltung, dass es schwierig sei, „einzelne Gewaltakte zu kritisieren, ohne eine Gesamtkritik des Rechts zu leisten“ (Saar 2006: 114). Das bedeutet, dass eine Kritik der Gewalt im Sinne Benjamins folglich eine grundlegende ist, die die ganze Rechtsordnung infrage stellt.
  3. Im dritten Schritt seines Essays bringt Benjamin die immanente Kritik der Rechtsordnung zu Ende. Er diskutiert dabei die Möglichkeit einer Gewalt, die rein und unmittelbar sei (vgl. Benjamin 1991. 202) und „den Schuldzusammenhang des Rechts“ (Saar 2006: 115) aufbreche:

    „Wie also, wenn jene Art schicksalsmäßiger Gewalt, wie sie berechtigte Mittel einsetzt, mit gerechten Zwecken an sich in unversöhnlichem Widerstreit liegen würde, und wenn zugleich eine Gewalt anderer Art absehbar werden sollte, die dann freilich zu jenen Zwecken nicht das berechtigte noch das unberechtigte Mittel sein könnte, sondern überhaupt nicht als Mittel zu ihnen, vielmehr irgendwie anders, sich verhalten würde?“ (Benjamin 1991: 196)

    Mit seinem Fazit zur Gewalt in der Rechtsordnung sieht Benjamin seine „These, derzufolge sich die Gewalt im Rechtsverhältnis nicht rechtfertigen lasse, weil ihre Berechtigung als ein Mittel letztlich nicht zu fixieren sei“ (Honneth 2011: 205) bestätigt:

    „Die Funktion der Gewalt in der Rechtsetzung ist nämlich zwiefach in dem Sinne, daß die Rechtsetzung zwar dasjenige, was als Recht eingesetzt wird, als ihren Zweck mit der Gewalt als Mittel erstrebt, im Augenblick der Einsetzung des Bezweckten als Recht aber diese Gewalt nicht abdankt, sondern sie nun erst im strengen Sinne und zwar unmittelbar zur rechtsetzenden macht, indem sie nicht einen von Gewalt freien und unabhängigen, sondern notwendig und innig an sie gebundenen Zweck als Recht unter dem Namen der Macht einsetzt.“ (Benjamin 1991: 197f)

    Benjamin zieht daraus den Schluss, dass Rechtsetzung Machtsetzung sei und „insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation der Gewalt“ (Benjamin 1991: 198). Nach der immanenten Kritik der Rechtsordnung führt Benjamin gegen Ende seines Essays mithilfe einer transzendierenden, geschichtsphilosophischen Perspektive (vgl. Benjamin 1991: 182; 202) einen externen, das heißt außerhalb der Rechtsordnung bestehenden, Standpunkt der Kritik ein. In diesem Zusammenhang beschäftigt ihn die Frage nach der Möglichkeit einer reinen und unmittelbaren Gewalt, „die von so umstürzlerischer Art ist, daß [sic!] sie der gewaltsamen Institution des Rechts im Ganzen ein Ende bereiten kann“ (Honneth 2011: 193). Benjamin gibt darauf keine eindeutige Antwort. Er führt sowohl die göttliche Gewalt an und verweist so auf theologisch-messianische Vorstellungen eines neuen Zeitalters (vgl. Benjamin 1991: 199-203) als auch den proletarischen Generalstreik und die damit verbundene Möglichkeit einer Revolution (vgl. Benjamin 1991: 194).

Kritik der Polizei


Benjamins Auseinandersetzung mit der Institution der Polizei nimmt in seinem Text lediglich eine Seite ein (vgl. Benjamin 1991: 189f). Dennoch ist sie von entscheidender Bedeutung für die Argumentation innerhalb des Essays. Die Polizei dient als das Beispiel, um im Bereich der rechtserhaltenden Gewalt Benjamins These der „Nichtfixierbarkeit von Zweck und Mittel“ (Honneth 2011: 203) zu bestätigen. Dabei stellt sie für ihn die „markanteste Instanz einer rechtserhaltenden Gewalt dar, weil sie mit der Erlaubnis zur Verwendung gewaltförmiger Mittel die Aufrechterhaltung der rechtlichen Ordnung zu gewährleisten hat“ (ebd.). Neben Benjamins Hauptkritikpunkt an der Polizei, der Vermischung von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt (1.3.1), benennt er zwei weitere Aspekte: Das Polizeirecht und die Polizei in der Demokratie (1.3.2 und 1.3.3).

Vermischung von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt

Ausgangspunkt der Kritik Benjamins ist seine These, dass in der Institution der Polizei die „Trennung von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt aufgehoben“ sei (Benjamin 1991: 189). In ebendieser Einrichtung des modernen Staates bestehe zwischen den beiden Gewaltarten, so Benjamin, eine „widernatürliche Verbindung“ in Form einer „gespenstischen“ Vermischung (vgl. ebd.). Er bezeichnet diese Gegebenheit – die Aufhebung der Trennung der beiden Gewaltformen – als das „Schmachvolle“ der Polizeibehörde (ebd.). Für Benjamin ist die Polizei eine „Gewalt zu Rechtszwecken“, das heißt mit dem Ziel der Rechtserhaltung. Zugleich aber habe sie die „Befugnis, diese [Rechtszwecke] in weiten Grenzen selbst zu setzen“ (ebd.). Mit anderen Worten: Dass die Polizei die Erhaltung des Rechts zur Aufgabe hat, ist nach Benjamin ihr wesentliches Merkmal und folglich evident. Um diesen Auftrag zu erfüllen, verfügt sie über die rechtliche Garantie, in konkreten Situationen Gewalt anwenden zu dürfen. Auf diese Weise ist die Institution der Polizei als Mittel zur Sicherung von Gesetzen und damit Rechtszwecken bestimmt. Ergo nimmt sie die vermittelnde Rolle zwischen allgemeinen, schriftlich fixierten Gesetzen und der Anwendung und Umsetzung dieser Gesetze in einer konkreten Situation ein. Als dieses Mittelglied „zwischen der Allgemeinheit des Gesetztes und der Singularität der vorgefundenen Situation“, kann die Polizei „nicht einfach passiv das fertige Gesetz anwenden, sondern muss selbst aktiv-interpretierend tätig werden“ (Loick 2012: 185). Durch dieses aktive Interpretieren einer Rechtslage, die „niemals klar genug ist, […] behält polizeiliches Agieren immer eine Dimension eigenständiger Entscheidung“ (Loick 2012: 186). Innerhalb dieser Dimension agiert die Polizei demnach als eine rechtsetzende Gewalt, weil sie nach eigenem Ermessen Rechtszwecke setzen und modifizieren kann, die sie dann im Anschluss mit rechtlich zugestandenen Mitteln erhält. Die Grenze zwischen Rechtsetzung und Rechtserhaltung verschwindet. Demgemäß kommt Benjamin zu dem Schluss, dass die eindeutige Trennung zwischen Gewalt zur Setzung von Rechtszwecken und gewaltförmigen Mitteln zur Erhaltung dieser Zwecke in der Institution der Polizei aufgehoben sei.

Polizeirecht

Aus der Perspektive Benjamins handelt es sich bei dem Polizeirecht um eine besondere Rechtsordnung, die klar vom übrigen Recht abzugrenzen ist: Er betont, dass die „Zwecke der Polizeigewalt“ weder identisch noch mit denen des übrigen Rechts verbunden seien (vgl. Benjamin 1991: 189). Dass das Polizeirecht einer gesonderten Betrachtung bedarf, resultiert für ihn aus seinem spezifischen Verhältnis zur rechtsstaatlichen Ordnung. Das Polizeirecht bezeichnet Benjamin zufolge „im Grunde den Punkt, an welchem der Staat, sei es aus Ohnmacht, sei es wegen der immanenten Zusammenhänge jeder Rechtsordnung, seine empirischen Zwecke, die er um jeden Preis erreichen wünscht, nicht mehr durch die Rechtsordnung garantieren kann“ (ebd.). Daher sei es die Aufgabe der Polizei in den Bereichen zu operieren, in denen der Staat seine Sicherheit gefährdet sieht. Auf diese Weise sei sie autorisiert »der Sicherheit wegen« auch dann einzugreifen, wenn eine unklare Rechtslage vorliegt. Diese Stellung eröffnete der Polizei die Möglichkeit, „ohne jegliche Beziehung auf Rechtszwecke den Bürger als eine brutale Belästigung durch das von Verordnungen geregelte Leben“ (ebd.) zu begleiten und ihn zu überwachen. Die Kritik solcher polizeilichen Maßnahmen sei wiederum kaum möglich, da diese, im Gegensatz zur Kritik am übrigen Recht, das in Gesetzestexten fixiert ist, auf „nichts Wesenhaftes“ (ebd.) treffe. Benjamin charakterisiert diese Gewalt der Polizei als „gestaltlos wie seine nirgends faßbare (sic!), allverbreitet gespenstische Erscheinung im Leben der zivilisierten Staaten“(ebd.)

Polizei in der Demokratie

Die oben beschriebene „gespenstische Erscheinung“ (ebd.) der Polizei ist auch für Benjamins dritten Aspekt von Bedeutung. Gegen Ende seiner Ausführungen stellt er seine wohl umstrittenste These bezüglich der Polizei in der Demokratie auf:

„Und mag Polizei auch im einzelnen sich überall gleichsehn, so ist zuletzt doch nicht zu verkennen, daß [sic!] ihr Geist weniger verheerend ist, wo sie in der absoluten Monarchie die Gewalt des Herrschers, in welcher sich legislative und exekutive Machtvollkommenheit vereinigt, repräsentiert, als in Demokratien, wo ihr Bestehen durch keine derartige Beziehung gehoben, die denkbar größte Entartung der Gewalt bezeugt.“ (Benjamin 1991: 189f)

Benjamin belässt es bei der Aussage, dass die Gewalt der Polizei nicht etwa in Zeiten der Kopplung an ein monarchisches Regime, sondern in der Demokratie die „denkbar größte Entartung der Gewalt bezeugt“ (Benjamin 1991: 190).

  • Jacques Derrida zu Benjamins These:

Jacques Derrida greift in seiner 1991 erschienen Benjamin Abhandlung Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität« diese provokante These wieder auf und wagt sich an ihre Erklärung:

„In der absoluten Monarchie sind legislative und exekutive Macht vereinigt. Die Gewalt ist in einer solchen Monarchie also normal, ihrem Wesen, ihrer Idee, ihrem Geist gemäß. Dagegen besteht in der Demokratie kein Einklang mehr zwischen der Gewalt und dem Geist der Polizei. Aufgrund einer angenommenen Gewaltentrennung wird die Gewalt auf illegitime Weise ausgeübt, zumal dann, wenn sie – wenn die Polizei das Gesetz nicht anwendet, sondern diktiert. […] So furchtbar sie auch sein mag, zeigt sich die Polizeigewalt in der absoluten Monarchie so, wie sie ist, so wie sie ihrem Geist gemäß oder in ihrem Geist sein muß und sein soll; die Polizeigewalt der Demokratien hingegen verneint ihr eigenes Prinzip, indem sie auch auf erschlichene Weise und im verborgenen Gesetze macht.“ (Derrida 1991: 96)

  • Axel Honneth zu Benjamins These:

Axel Honneth gibt zu bedenken, dass diese These sowie die beiden anderen Kritikpunkte im spezifisch-historischen und lokalen Kontext zu Beginn der Weimarer Republik aufgestellt wurden (vgl. Honneth 2011: 202). „Der Gedankengang [in Benjamins Polizeikritik] verdankt sich ganz offensichtlich lebhaftesten Eindrücken vom Machtmißbrauch der Polizeibehörden in jener Zeit“, stellt Honneth klar und weiter „der gereizte Ton, die Wahl der Adjektive, die offen bekundete Abscheu, all das verrät, daß [sic!] Benjamin sehr genau konkrete Fälle solcher Grenzverletzungen vor Augen standen“(ebd.).

Giorgio Agamben

Zeit- und theoretischer Kontext


Giorgio Agambens Text Souveräne Polizei wurde 2001 in seinem Sammelband Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik im diaphanes-Verlag publiziert (vgl. Agamben 2001). Die italienische Erstausgabe des Bandes Mezzi senza fine – Note sulla politica erschien fünf Jahre zuvor im Verlag Bolla Boringhieri. In den zum großen Teil fragmentarisch gehaltenen Texten in Mittel ohne Zweck formuliert Agamben „eine radikale Kritik von Politik im Zeitalter entleerter Kategorien“ (Agamben 2001: Klappentext). Als Grundlage hierfür analysiert er mit Rückbezug auf Theorien von Hannah Arendt, Carl Schmitt, Michel Foucault und Walter Benjamin aktuelle politische Ereignisse. Damit zeigt Agamben neue Perspektiven und Fragestellungen auf das Politische im 21. Jahrhundert auf (Agamben 2001: 9, Vorbemerkungen von Mittel ohne Zweck). Die Kritik an zeitgenössischen politischen Vorstellungen und Ereignissen durchzieht das gesamte Werk Agambens (vgl. Steinhauer 2010: 207). Auch in Souveräne Polizei nimmt er gleich zu Beginn des Textes Bezug auf eine konkrete politische Situation: Das Verhältnis von Souverän und Polizei im Rahmen des Zweiten Golfkriegs (1990/91) und die von George H. W. Bush Senior proklamierte New World Order nach Ende des Kalten Krieges sind der historische Gegenstand, den Agamben zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht (vgl. Agamben 2001: 99).

Die Stellung des Texts im Werk Agambens


Bei den Texten in Agambens Sammelband Mittel ohne Zwecke handelt es sich um Vorarbeiten, Skizzen und Bruchstücke für sein Homo-Sacer-Projekt (vgl. Agamben 2001: 10, Vorbemerkungen von Mittel ohne Zweck). Dementsprechend sind auch seine Gedankengänge in dem Text Souveräne Polizei weder abgeschlossen noch isoliert vom übrigen Werk zu betrachten. Vielmehr bezieht sich Agamben im Verlauf des Texts auf die zentralen Motive und Topoi seiner gesamten theoretischen Überlegungen. Neben seiner originären Theorie der Souveränität (vgl. Agamben 2001: 99) verweist er vor allem auf seine Idee des Ausnahmezustands als „Zone der Unterscheidungslosigkeit zwischen Gewalt und Recht“ (vgl. Agamben 2001: 100). Am ausführlichsten erläutert er diese Konzepte, Theorien und Ideen im Rahmen seiner Homo-Sacer-Reihe.

Kritik der Polizei


Der Eingang des Souveräns in die Gestalt der Polizei

Giorgio Agambens untersuchungsleitende These ist „der endgültige Eingang der Souveränität in die Gestalt der Polizei“ (Agamben 2001: 99). Er formuliert sie gleich zu Beginn seines Textes Souveräne Polizei. Diese Entwicklung glaubt er an der historischen Gegebenheit des Zweiten Golfkriegs auszumachen. Demnach sei das Kriegsrecht als „Polizeioperation“ (ebd.) ausgeübt worden. Dabei stellt diese konkrete Situation für ihn im Bezug auf das Verhältnis von Souverän und Polizei keine Ausnahme sondern vielmehr ein wesentliches und strukturelles Merkmal dar. Agamben stellt fest, dass die Polizei, entgegen der allgemeinen Ansicht, „die in ihr eine rein administrative Funktion der Vollstreckung des Rechts sieht“ (Agamben 2001: 99), vielmehr ein Ort sei, an dem Gewalt und Recht zusammen fielen. Am Beispiel der Figur des im Alten Rom regierenden Konsuls und des Liktors, dem Vollstrecker der Todesurteile, zeigt er die seiner Ansicht nach nicht zufällige Nähe zwischen Souverän und Gewalt auf (ebd.). Da der Souverän das Recht setzt – notfalls auch mit Gewalt – manifestiert sich in seiner Person der Zusammenhang von Recht und Gewalt. Eine strukturell ähnliche Nähe sieht er zwischen Souverän und Polizei: Um die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu wahren, unterscheide die Polizei in jedem Einzelfall neu, wie sie handelt und setzt so selbst Recht. Dadurch bilde sich eine "Zone der Unterscheidungslosigkeit zwischen Gewalt und Recht“(vgl. Agamben 2001: 100). Herrscht kein Unterschied mehr zwischen Gewalt und Recht, spricht Agamben vom "Ausnahmezustand"(ebd.), "die Polizei bewegt sich sozusagen immer in einem solchen »Ausnahmezustand«"(ebd.).

Agamben stützt seine Kritik an der Polizei auf Benjamin (vgl. Agamben 2001: 100). Er greift dessen Äußerungen zum Polizeirecht auf (vgl. 1.3.2), um seine These, dass das Operieren im Ausnahmezustand konstitutiv für die Institution der Polizei sei, zu verdeutlichen (vgl. Agamben 2001: 100; Benjamin 1991: 189). Ausnahmezustand und Polizeirecht bilden nach Agamben einen Bereich außerhalb der staatlichen Rechtsordnung. Dennoch bleiben sie aber weiterhin mit der Rechtsordnung verbunden. Ergänzt werden diese theoretischen Überlegungen durch die Darstellung einer Reihe von historischen Beispielen. Anhand dieser versucht Agamben seinen Thesen zu dem Verhältnis von Souverän und Polizei sowie die damit einhergehende Beunruhigung (vgl. Agamben 2001: 101) weiter zu belegen. Als sehr streitbares Beispiel führt er die Judenvernichtung im Dritten Reich an: Nur weil diese von Anfang bis Ende als Polizeioperation geplant worden sei, habe sie so mörderisch und methodisch sein können (vgl. Agamben 2001: 101). Abgesehen von der Wannseekonferenz sei nie „auch nur ein einziges Dokument gefunden worden, das den Genozid als Entscheidung eines souveränen Organs beglaubigen würde“ (ebd.), argumentiert Agamben.

Der drohende Charakter der Polizei

Agamben kritisiert zudem den drohenden Charakter der Polizei. Das „offene Vorzeigen der Waffen“ (Agamben 2001: 100) kennzeichne die Polizei zu allen Zeiten. Entscheidend ist für ihn dabei, dass Waffen an den „allerfriedlichsten öffentlichen Orten und im besonderen während der öffentlichen Zeremonien“ (ebd.) getragen würden - die Drohung also keineswegs eine Ausnahme gegenüber Gesetzesberecher_Innen sei. Diese ständige „Ausstellung der souveränen Gewalt“ (ebd.) geht für ihn einher mit der Annahme, dass die Polizei sich ständig im Ausnahmezustand befinde. Der Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung rechtfertige somit auch den drohenden Charakter der Polizei.

Schon Walter Benjamin attestierte in seinem Essay der rechtserhaltenden Gewalt – und damit implizit der Polizei – einen drohenden Charakter (vgl. Benjamin 1991: 188). Er differenziert dabei zwischen Drohung und Abschreckung. Im Gegensatz zur Abschreckung, zu der eine Bestimmtheit gehöre, sei die Drohung der rechtserhaltenden Gewalt unbestimmt und in diesem Sinne allgegenwärtig (ebd.).

Die Kriminalisierung des Souveräns

Der „endgültige Eingang der Souveränität in die Gestalt der Polizei“ (Agamben 20012: 99) macht für Agamben neben dem drohenden Charakter auch die „Kriminalisierung des Gegners“ erforderlich. Zur Veranschaulichung seines Aspektes unterscheidet er zwischen der Situation vor Ende des Ersten Weltkrieges und den Entwicklungen in der Zeit danach. Dabei bezieht er sich bei der Beschreibung des Zustands bis Ende des Ersten Weltkrieges auf Carl Schmitt. Demnach sei es nich möglich gewesen, über die Herrscher eines verfeindeten Staates als Kriminelle zu urteilen. Dieses Prinzip "par in par non habet iurisdictionem" („Ein souveräner Staat kann nicht über einen anderen zu Gericht sitzen“ (Agamben 2001: 139)) sieht Schmitt im Europäischen Recht verankert. So habe auch eine Kriegserklärung bis dahin nicht die Aufhebung dieses Prinzips bedeutet – dadurch fand ein Konflikt gegen einen „als gleichwertig anerkannten Feind nach präzisen Regeln“ statt (Agamben 2001: 101). Das änderte sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs: Von nun an sei eine Entwicklung zu beobachten gewesen, die es einem souveränen Staat ermöglichte, über einen anderen Souverän zu richten (Vgl. Agamben 2001: 101f), beschreibt Agamben. Dazu werde der gegnerische Souverän zunächst als Feind deklariert, aus der zivilisierten Menschheit ausgeschlossen und als kriminell abgestempelt. Diese Kriminalisierung des gegnerischen Souveräns als Feind, ermögliche es, diesen in einem zweiten Schritt mittels einer Polizeioperation zu vernichten. Diese unterliege dann keinen Rechten und Regeln mehr (ebd.). Agamben merkt an, dass sich ebendiese Kriminalisierung des Souveräns jederzeit auch gegen den richtenden Souverän selbst wenden könne. Er bezeichnet dies als einen "positiven Aspekt" (ebd.) der vielen Regierenden nicht klar sei. „Heute gibt es auf der Welt nicht ein Staatsoberhaupt, das nicht in diesem Sinne potentiell ein Verbrecher wäre“ (ebd.). In Benjamins Zur Kritik der Gewalt lassen sich zu diesem Kritikpunkt Agambens keine Gedanken finden.

Fazit, Kritik und Weiterführungen

Über die Art der Kritik an Polizei und Rechtsstaat


Kritik der Polizei als Kritik der Rechtsordnung

Sowohl Walter Benjamin in seinem Essay Zur Kritik der Gewalt als auch Giorgio Agamben in Souveräne Polizei formulieren keine für sich alleinstehende Kritik an der Polizei. In beiden Fällen ist diese eingebettet in den Rahmen einer fundamentalen Kritik an der Rechtsordnung. Obwohl die Beispiele, auf die Benjamin und Agamben Bezug nehmen, aus unterschiedlichen Zeitkontexten stammen, ermöglicht ihre grundlegende Kritik ein gemeinsames pessimistisches Fazit. Anhand seiner Überlegungen zur Polizei, bestätigt Benjamin in seinem Essay seine Hauptthese im Bereich der rechtserhaltenden Gewalt. Auf diese Weise verfolgt er sein Ziel einer „Kritik des Rechts im Ganzen“ (Honneth 2011: 209, vgl. Saar 2006; Marcuse 1975). Benjamins radikale Kritik der Rechtsordnung geht in seiner Argumentation in eine grundsätzliche „Infragestellung der gesellschaftlichen und geschichtlichen Mächte“ (Saar 2006: 116) seiner Zeit über. Auch Agambens Polizeikritik ist ein einzelnes Fragment seiner grundlegenden Kritik an der Souveränität. Er stellt in seinem Text die strukturellen und wesentlichen Zusammenhänge zwischen Souverän und Polizei sowie Recht und Gewalt dar. Gegenstand seiner Kritik ist dementsprechend bereits deren strukturelle und latente Beziehung – nicht erst ihr Zusammenfallen in der Ununterscheidbarkeit des Ausnahmezustandes (vgl. Loick 2012: 230).

Maßstab der Kritik und Geschichtsphilosophie

Auch bezüglich des Maßstabs und der Verwendung von Beispielen lassen sich Gemeinsamkeiten bei Benjamin und Agamben ausmachen. Beide argumentieren geschichtsphilosophisch und beziehen sich auf historische Gegebenheiten. Benjamin verweist explizit darauf, dass die Kritik der Gewalt „die Philosophie ihrer Geschichte“ (Benjamin 1991: 202) sei. Nach Abschluss seiner immanenten Kritik des Rechts versucht er mithilfe dieser geschichtsphilosophischen Perspektive einen externen, transzendierenden Standpunkt der Kritik außerhalb der Rechtsordnung einzunehmen (vgl. Honneth 2011: 206; 209). Agamben wiederum arbeitet mit historischen Beispielen aus dem Alten Rom und der Zeit des deutschen Nationalsozialismus. Ferner verweist er auf seine Konzeption des Ausnahmezustandes als „Zone der Unterscheidungslosigkeit zwischen Gewalt und Recht“ (Agamben 2001: 100). Diese Zone beschreibt Agamben in seinem Werk auch als Schwelle der Ordnung. Schwelle bezeichnet dabei den Punkt, „an dem sich die Ordnung mit dem berührt, was nicht mehr zu dieser Ordnung gehört“ (Geulen 2005: 62). Mit diesem räumlichen Bild der Schwelle verbindet Agamben zugleich die zeitliche Vorstellung vom Anfang oder Ursprung der Ordnung (vgl. Geulen 2005: 62) und gibt folglich auch Hinweise auf eine geschichtsphilosophische Perspektive. Im Gegensatz zu Benjamin verbleibt Agambens Kritik aber innerhalb der Rechts- respektive Polizeiordnung – er verzichtet also auf einen externen Maßstab.

Kritik an der Kritik: Das Verhältnis von Theorie und Empirie


In Zur Kritik der Gewalt und Souveräne Polizei bedienen Benjamin und Agamben sich historischer Beispiele, um ihre theoretischen Gedankengänge zu illustrieren und unterstützen. In beiden Fällen stellt sich die Frage, ob diese empirischen Ergebnisse zu gültigen theoretischen Aussagen verallgemeinert werden können. Axel Honneth bemängelt beispielsweise, dass Benjamins Ausführungen zur rechtserhaltenden Gewalt und somit auch seine Polizeikritik auf problematischen Grundlagen beruhen würden (vgl. Honneth 2011: 203). Bei Benjamins Kritik handle es sich um die „Verallgemeinerung von historischen Erfahrungen“ (ebd.), argumentiert Honneth. Die theoretische Einschätzung dieser Erfahrungen verdanke „sich ganz offensichtlich lebhaftesten Eindrücken vom Machtmißbrauch der Polizeibehörden“ (Honneth 2011: 202) zu Beginn der 1920er Jahre in der Weimarer Republik. Am meisten verstört Honneth hierbei Benjamins These über die Polizei in der Demokratie als die „denkbar größte Entartung der Gewalt“ (Benjamin 1991: 190; vgl. 1.3.3): „Daß [sic!] es vielleicht auch ganz anders sein könnte, daß [sic!] nämlich gerade demokratische Gesellschaften mit der Zeit zivile Ressourcen der Bindung von Polizei und Militär entwickeln könnten, liegt außerhalb seines [Benjamins] Vorstellungshorizonts.“ (Honneth 2011: 202) Auch Agambens Äußerungen – und damit verbunden die Interpretation seiner verwendeten Beispiele im Text Souveräne Polizei, der Zweite Golfkrieg oder die Judenvernichtung – gilt es kritisch zu hinterfragen. Daniel Loick äußert beispielsweise Bedenken über die historische Stimmigkeit der Überlegungen Agambens (vgl. Loick 2012: 232; 3.3). Dennoch betont er aber auch den positiven Aspekt, dass Agamben „Funktionsweisen und Zusammenhänge, die von der traditionellen Theorie der Souveränität gar nicht in den Blick genommen wurden“ (Loick 2012: 232) exponiert habe. Weiterführende Kritik an Agamben, die oftmals auf das Fehlen einer in sich geschlossenen Rechtstheorie insistiert, formulieren Fabian Steinhauer (vgl. Steinhauer 2010: 220-224) oder Günter Frankenberg (vgl. Frankenberg 2010: 148f.; 3.3).

Weiterführungen


Rezeption von Benjamins Essay Zur Kritik der Gewalt

Erst in den 1970er Jahren setzte in der Literatur eine intensivere Rezeption des Essays Zur Kritik der Gewalt ein (vgl. Honneth 2011: 193). Benjamins radikale Kritik an der Rechtsordnung dient unter anderem Herbert Marcuse als Grundlage für seine Rechtskritik und revolutionstheoretischen Überlegungen (vgl. Marcuse 1975). Auch Jacques Derrida (vgl. Derrida 1991) und Giorgio Agamben (vgl. Agamben 2001; 2002; 2004) bauen ihre Argumentationen auf Benjamin als „Basis für den Entwurf von eigenen Theorien über das Verhältnis von Recht, Gerechtigkeit und Politik“ (Honneth 2011: 193). Wissenschaftler_innen wie Judith Butler, Christoph Menke oder Daniel Loick beziehen sich in den vergangenen Jahren auf einzelne Aspekte aus Benjamins Essay. Butler setzt sich dabei vor allem mit Benjamins Begriffen von Kritik, Rechtszwang und dem „Satz von der Heiligkeit des Lebens“ (vgl. Benjamin 1991: 201) auseinander (vgl. Butler 2006). Christoph Menke hingegen führt Benjamin als Teil seiner Argumentation für ein selbstreflexives Recht ein (vgl. Menke 2012). Im Kern geht es Menke um das Verhältnis von Recht und Nicht-Recht beziehungweise Gewalt (vgl. Menke 2012: 10), sowie der Möglichkeit eines anderen Rechts, das über seine eigenen konstitutiven Gewaltmomente reflektiert (vgl. Menke 2012: 102). Mit Benjamin und der Interpretation von Passagen aus unterschiedlichen Werken und Texten wie Wolokolamsker Chaussee 1: Russisch Eröffnung, Sophokles' König Ödipus oder Der zerbrochne Krug von Heinrich von Kleist versucht Menke, diese Gedankengänge zu plausibilisieren. Daniel Loicks kritische Theorie der Souveränität bringt stattdessen „die Vermutung in Anschlag, dass nur durch eine grundsätzliche Überwindung konventioneller Formen staatlicher Herrschaft das gesellschaftliche Gewaltaufkommen reduziert, politische Ausgrenzung und Repression vermindert werden können“ (Loick 2012: 22). Als einen Moment dieses Programms rekonstruiert Loick Benjamins Kritik der rechtserhaltenden Gewalt in Gestalt der Polizei (vgl. Loick 2012: 181-197). Ferner verweist er auf weitere, von Louis Althusser inspirierte, kritische Theorien der Polizei in den Werken von Michel Foucault und Jacques Rancière (vgl. Loick 2012: 196f.).

Die Thematisierung des Ausnahmezustandes

Zu Agambens Konzeption des Ausnahmezustandes findet sich eine Vielzahl an Sekundärliteratur (vgl. Geulen 2005; Loick 2012: 214-232; Steinhauer 2010, Frankenberg 2010). Günter Frankenberg beispielsweise untersucht mit rechtstheoretischer Perspektive das Verhältnis von liberaler, rechtstaatlicher Staatstechnik, Gewalt sowie Ausnahmezustand (vgl. Frankenberg 2010). Er arbeitet dabei vor allem die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Agamben und Carl Schmitt in ihren Vorstellungen vom Ausnahmezustand aus (vgl. Frankenberg 2010: 145-149).

Literatur

  • Agamben, Giorgio (2001): Souveräne Polizei. In: Agamben, Giorgio: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. Freiburg / Berlin: diaphanes Verlag, S. 99-102.
  • Agamben, Giorgio (2002): Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
  • Agamben, Giorgio (2004): Ausnahmezustand. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
  • Benjamin, Walter (1991): Zur Kritik der Gewalt. In: Walter, Benjamin: Gesammelte Schriften, Band 2.1, herausgegeben von Tiedemann, Rolf und Schweppenhäuser, Hermann. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 179-203.
  • Borsó Vittoria / Morgenroth, Claas / Solibakke, Karl / Witte, Bernd (Hg.) (2010): Benjamin – Agamben. Politics, Messianism, Kabbalah. Würzburg: Verlag Könighausen & Neumann.
  • Butler, Judith (2006): Critique, Coercion, and Sacred Life in Benjmain's "Critique of Violence". In: De Vries, Hent / Sullivan, Lawrence E. (Hg.): Political Theologies. Public Religions in a Post-Secular World. New York: Fordham University Press, S. 201-219.
  • Derrida, Jacques (1991): Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
  • Frankenberg, Günter (2010): Staatstechnik. Perspektiven auf Rechtsstaat und Ausnahmezustand. Berlin: Suhrkamp Verlag.
  • Geulen, Eva (2005): Giorgio Agamben. zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag.
  • Haverkamp, Anselm (Hg.) (1994): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
  • Honneth, Axel (2011): Zur Kritik der Gewalt. In: Lindner, Burkhardt (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. * Stuttgart: Metzler Verlag, S. 193-210.
  • Kramer, Sven (2003): Walter Benjamin zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag.
  • Lindner, Burkhardt (Hg.) (2011): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler Verlag.
  • Loick, Daniel (2012): Kritik der Souveränität. Frankfurt am Main: Campus Verlag.
  • Marcuse, Herbert (1975): Revolution und Kritik der Gewalt. Zur Geschichtsphilosophie Walter Benjamins. In: Bulthaup, Peter (Hg.): Materialien zu Benjamins Thesen >Über den Begriff der Geschichte<. Beiträge und Interpretationen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 23-27.
  • Menke, Christoph (2012): Recht und Gewalt. Berlin: August Verlag.
  • Opitz, Michael, Erdmut Wizisla (Hg.) (2010): Benjamins Begriffe. 2 Bände. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
  • Saar, Martin (2006): Zur Kritik der Gewalt. In: Honneth, Axel / Institut für Sozialforschung (Hg.): Schlüsseltexte der Kritischen Theorie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.113-117.
  • Steinhauer, Fabian (2010): Gestaltung des Rechts. Giorgio Agamben. In: Buckel, Sonja / Christensen, Ralph / Fischer-Lescano, Andreas (Hg.): Neue Theorien des Rechts. Stuttgart: Lucius & Lucius, S. 201-225.

Verwandte Artikel

Personen

Themen

Weblinks

  • Benjamin, Walter (1921) Zur Kritik der Gewalt, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik (pdf) [[1]]
  • Hesse, Christoph (2007) Walter Benjamin und die Frankfurter Schule. Vortrag Goethe Institut Tiflis. Rote Ruhr Uni. [[2]]