Normvalidierung: Unterschied zwischen den Versionen

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=== Prozeduralisierte expressive Normvalidierung als denkbare Alternative ===
=== Prozeduralisierte expressive Normvalidierung als denkbare Alternative ===
Eine strafrechtliche Normvalidierung ist wohl in einem bestimmten, eng umgrenzten Bereich (dem hypothetischen Kernstrafrecht), notwendig.
Eine strafrechtliche Normvalidierung ist wohl in einem bestimmten, eng umgrenzten Bereich (dem hypothetischen Kernstrafrecht), notwendig.
Nach Scheerer sei allerdings die gegenwärtige Praxis der Normvalidierung durch Strafe eher autoritär statt autoritativ.
Nach Scheerer sei allerdings die gegenwärtige Praxis der Normvalidierung durch Strafe eher autoritär statt autoritativ. Er plädiert dafür, diese Form der Strafe durch eine prozeduralisierte expressive Normvalidierung zu ersetzen, deren Verbindlichkeit weniger aus der Autorität der Strafgewalt als aus der Sicherstellung der Anerkennbarkeit und Anerkennung von Prozeß und Ergebnis resultierte. Ein eigener Strafanspruch des Staates sei nicht erforderlich, dieser sei gegenüber dem Opferinteresse subsidiär und daher kaum noch aufrechtzuerhalten.
Im autoritären Staat und im autoritären Recht gebe es keine Alternative zu der Vorstellung, dass Normen und Werte nur im Rahmen einer bipolaren Autoritäts-Demonstration validiert werden könnten. Je weniger autoritär Staat und Recht seien, desto stärker werde die vertikale Bipolarität von pluripolaren und "einbeziehenden" Prozessen der Normvalidierung verdrängt. Der Staat wäre dann nicht untätig, aber er wäre Dienstleister für den Prozeß der Normvalidierung, nicht Herr dieses Verfahrens. Ein eigener Strafanspruch des Staates sei dazu nicht erforderlich. Dieser sei gegenüber dem Opferinteresse subsidiär und daher kaum noch aufrechtzuerhalten.
Im autoritären Staat und im autoritären Recht gebe es keine Alternative zu der Vorstellung, dass Normen und Werte nur im Rahmen einer bipolaren Autoritäts-Demonstration validiert werden könnten. Je weniger autoritär Staat und Recht seien, desto stärker werde die vertikale Bipolarität von pluripolaren und "einbeziehenden" Prozessen der Normvalidierung verdrängt. Der Staat wäre dann nicht untätig, aber er wäre Dienstleister für den Prozeß der Normvalidierung, nicht Herr dieses Verfahrens.  
Die gegenwärtige Form der Strafe sei ersetzbar durch eine prozeduralisierte expressive Normvalidierung, deren Verbindlichkeit weniger aus der Autorität der Strafgewalt als aus der Sicherstellung der Anerkennbarkeit und Anerkennung von Prozeß und Ergebnis resultierte. Dazu sei notwendig, dass der Staat seine Rolle reduziere auf eine Garantiemacht für die Einhaltung von Verfahrensprinzipien bei gleichzeitiger Öffnung in Richtung auf die verstärkte Anerkennung originär zivilgesellschaftlicher Konfliktregelungskulturen und - kompetenzen.
Dazu sei notwendig, dass der Staat seine Rolle reduziere auf eine Garantiemacht für die Einhaltung von Verfahrensprinzipien bei gleichzeitiger Öffnung in Richtung auf die verstärkte Anerkennung originär zivilgesellschaftlicher Konfliktregelungskulturen und - kompetenzen.
Die Konzeptualisierung einer Unrechtshandlung als Angelegenheit zwischen Täter und Opfer würde auch zu vermeiden helfen, die schwache Stellung des Opfers zu perpetuieren, wie das durch die Strafe geschehe, indem sich die Strafgewalt selbst als das eigentliche Opfer einer Straftat gerieren könne.
Die Konzeptualisierung einer Unrechtshandlung als Angelegenheit zwischen Täter und Opfer würde auch zu vermeiden helfen, die schwache Stellung des Opfers zu perpetuieren, wie das durch die Strafe geschehe, indem sich die Strafgewalt selbst als das eigentliche Opfer einer Straftat gerieren könne.
Anders als eine staatszentrierte Verarbeitung von Unrecht validiere eine subjektzentrierte Alternative die Normgeltung nicht per Autorität, sondern auf komplexerem, dafür aber wirkungsvollerem, weil weithin mitgetragenem und nachvollzogenem Weg. Als Modell für ein derartiges Vorgehen nennt Scheerer den parlamentarischen Untersuchungsausschuß.
Anders als eine staatszentrierte Verarbeitung von Unrecht validiere eine subjektzentrierte Alternative die Normgeltung nicht per Autorität, sondern auf komplexerem, dafür aber wirkungsvollerem, weil weithin mitgetragenem und nachvollzogenem Weg. Als Modell für ein derartiges Vorgehen nennt Scheerer den parlamentarischen Untersuchungsausschuß.

Version vom 6. August 2009, 11:19 Uhr

Normvalidierung

Dieser Artikel wird bearbeitet von Thomas Galli

Unter Normvalidierung versteht man die Bestätigung der tatsächlichen Geltung einer Norm. Der Begriff verweist auf die Notwendigkeit von Mechanismen, mit deren Hilfe soziale Normen in ihrer Gültigkeit (validity) bestätigt und auf diese Weise faktisch am Leben erhalten werden. Sebastian Scheerer hat den Begriff verwendet, um auf die Ersetzbarkeit von Strafe durch eine „prozeduralisierte expressive Normvalidierung“ aufmerksam zu machen.


Begriffserläuterung

Als Normen in einem sozialen Sinne können Beurteilungsmaßstäbe und verbindliche Vorschriften für menschliches Verhalten bezeichnet werden, die gesellschaftlichen Ursprungs und für menschliches Miteinander unerlässlich sind. Nach Durkheim existieren soziale Normen auf gesellschaftlicher Ebene unabhängig von einem konkreten Individuum und beeinflussen dieses in seinem Verhalten. Die Möglichkeit einer sozialen Norm, menschliches Verhalten zu beeinflussen, mithin ihre Wirkungsmacht, kann in erster Linie daran gemessen werden, wie oft ihr entsprochen wird und wie oft nicht. Von einer Norm im sozialen Sinne kann allerdings nicht gesprochen werden, wenn von ihr überhaupt nicht abgewichen werden kann, da sie dann überflüssig wäre. Wenn andererseits zu oft abgewichen wird, wird die Abweichung zur Norm. Eine soziale Norm kann daher schon begrifflich nur vorliegen, wenn Abweichungen möglich, aber nicht zu häufig sind. Weder eine Norm noch die Zahl ihrer Brüche ist unveränderlich, so dass die Wirkungsmacht einer sozialen Norm Schwankungen unterworfen ist. Unter Validierung lassen sich dann solche Mechanismen oder Maßnahmen verstehen, die dazu dienen oder dienen sollen, Einbußen an Wirkungsmacht auszugleichen bzw. die tatsächliche Geltung einer Norm möglichst hoch zu halten.

instrumentelle vs. expressive Normvalidierung 

materielle vs. prozedurale Normvalidierung

Derzeitige Mechanismen der Normvalidierung

Neben der weltanschaulichen oder religiösen Wertevermittlung ("Du sollst nicht töten") sind es vor allem staatliche Mechanismen und Maßnahmen, die der Validierung von Normen in kriminologisch relevanten Bereichen dienen sollen.

Aufdeckung eines Normverstoßes

Die Aufdeckung eines Normverstoßes durch Strafverfolgungsorgane, also dessen Bekanntmachung an einen größeren Kreis von Adressaten, bewirkt zweierlei: Zum einen wird die Verletzbarkeit der Norm publik, zum anderen wird dem Normbrecher und potentiellen anderen Normbrechern signalisiert, dass sie mit ihrem Verhalten gegen vorherrschende Erwartungen verstoßen haben und dass dies vor allem auch den Trägern solcher Erwartungen bekannt werden kann. Wer gegen Erwartungen "der Gesellschaft" verstößt, läuft Gefahr, an deren Rand gedrängt oder ganz ausgeschlossen zu werden. Letztlich dienen damit Maßnahmen, welche die Aufdeckungswahrscheinlichkeit von Normverstößen erhöhen, der Normvalidierung. Mit Popitz ist allerdings davon auszugehen, dass eine Norm bei Aufdeckung aller Verstöße gegen sie Gefahr liefe, gänzlich an Verbindlichkeit zu verlieren. Das richtige Maß der Aufdeckung von Verstößen trägt somit wesentlich zur Validität einer Norm bei.

Strafrecht

Scheerer hat den Begriff der Normvalidierung im Zusammenhang mit der Legitimation von Strafrecht diskutiert. Der einzig (noch) denkbare legitime Zweck der Strafe sei in ihrer symbolischen, expressiven Markierung moralischer Grenzen zu sehen. Ihre Hauptaufgabe sei die Darstellung von Handlungsbewertungen, nicht die Herstellung von Verhaltensänderungen. Strafe markiere den Kern-Raum der individuellen Freiheit und die Linie, von der an sich der Staat der Verteidigung des Individuums und seiner Freiheit mit aller Macht annehme. Durch diese symbolische Markierung des Bösen läge die Legitimität der Strafe in ihrer wertrationalen Expressivität.

Schuldprinzip

Das deutsche Strafrecht regelt zum einen, welche Handlungen derart von bestimmten Erwartungen abweichen, dass sie als Rechtsfolge eine Bestrafung nach sich ziehen. Zum anderen wird über das Schuldprinzip nicht nur festgelegt, wann jemand die Verantwortung für sein Tun trägt, es wird damit auch mittelbar festgestellt, dass die Ursache der Abweichung beim Handelnden liegt. Dieser trägt die Verantwortung für sein Verhalten, wenn er Einsicht in das "Unrecht" seines Handeln hatte und sich dennoch dafür entschieden hat, obwohl er auch anders hätte handeln können (vgl. §§ 17, 20 StGB). Es ist keinesfalls zwingend, als letzte identifizierbare Ursache der Normabweichung eine (zumindest bedingt) freie Willensentscheidung des Individuums zu sehen. Ebenso denkbar wäre es, die Normabweichung der "Natur" bzw. einer göttlichen Gewalt zuzuschreiben oder aber das Augenmerk darauf zu legen, dass einer Handlung selber nichts "Abweichendes" innewohnt, sondern dass die Abweichung vielmehr erst von außen zugewiesen wird (labeling approach). Indem aber das Strafrecht in erster Linie durch das Schuldprinzip die Ursache einer Normverletzung beim "Täter" verortet, wirkt es auf subtile aber gleichwohl wirksame Weise normvalidierend. Mittelbar ergibt sich diese Wirkung aus einer Förderung der gesellschaftlichen Akzeptanz und Durchsetzbarkeit von Strafmaßnahmen, die ihrerseits normvalidierend sind. Wenn auch der Zweck des Strafens in erster Linie mit präventiven Erwägungen begründet wird (Spezialprävention, Generalprävention), so läßt sich doch der (auch) repressive Charakter einer Strafe nicht leugnen. Diese repressive Wirkung trifft durch das Postulat der freien Wahl zwischen Recht und Unrecht auf breitere gesellschaftliche Zustimmung. Der Täter ist, umgangssprachlich ausgedrückt, "selber schuld". Das Schuldprinzip wirkt aber auch unmittelbar normvalidierend. Indem die Ursache einer abweichenden (bzw. einer "schlechten" oder "bösen") Handlung in der Willensentscheidung des Täters gesehen wird, wird sie auch dessen Bestandteil. Dieser wird, zumindest zum Teil, "schlecht" oder "böse" und läuft damit Gefahr, Ziel von Aggressionen und gegebenenfalls vernichtet zu werden. Mit der Aktivierung der Angst des Individuums vor dem Vernichtetwerden wird sich so durch das Schuldprinzip auf gesellschaftlicher Ebene eine mächtige psychologische Kraft zur Normvalidierung zunutzen gemacht.


Strafvollzug

Als Form der Normvalidierung kann auch der Strafvollzug angesehen werden, also die Vollziehung von Freiheitsstrafen. Wenn nach Scheerer ein wesentlicher Zweck des Strafens darin besteht, auf gesellschaftlicher Ebene symbolhaft auszudrücken, dass eine Norm trotz der Möglichkeit zur Abweichung im Einzelfall Bestand hat, dann erfüllt sich dieser Zweck durch den Strafvollzug besonders effektiv. Das Gefängnis kann als weithin sichtbare und dauerhafte Markierung des Bösen angesehen werden. Auch seine Insassen, die mit ihrer Inhaftierung von Vätern, Ehefrauen, Mittelständlern usw. zu Gefangenen werden, sind symbolhafte Träger des Normbruchs und seiner Folgen.


Prozeduralisierte expressive Normvalidierung als denkbare Alternative

Eine strafrechtliche Normvalidierung ist wohl in einem bestimmten, eng umgrenzten Bereich (dem hypothetischen Kernstrafrecht), notwendig. Nach Scheerer sei allerdings die gegenwärtige Praxis der Normvalidierung durch Strafe eher autoritär statt autoritativ. Er plädiert dafür, diese Form der Strafe durch eine prozeduralisierte expressive Normvalidierung zu ersetzen, deren Verbindlichkeit weniger aus der Autorität der Strafgewalt als aus der Sicherstellung der Anerkennbarkeit und Anerkennung von Prozeß und Ergebnis resultierte. Ein eigener Strafanspruch des Staates sei nicht erforderlich, dieser sei gegenüber dem Opferinteresse subsidiär und daher kaum noch aufrechtzuerhalten. Im autoritären Staat und im autoritären Recht gebe es keine Alternative zu der Vorstellung, dass Normen und Werte nur im Rahmen einer bipolaren Autoritäts-Demonstration validiert werden könnten. Je weniger autoritär Staat und Recht seien, desto stärker werde die vertikale Bipolarität von pluripolaren und "einbeziehenden" Prozessen der Normvalidierung verdrängt. Der Staat wäre dann nicht untätig, aber er wäre Dienstleister für den Prozeß der Normvalidierung, nicht Herr dieses Verfahrens. Dazu sei notwendig, dass der Staat seine Rolle reduziere auf eine Garantiemacht für die Einhaltung von Verfahrensprinzipien bei gleichzeitiger Öffnung in Richtung auf die verstärkte Anerkennung originär zivilgesellschaftlicher Konfliktregelungskulturen und - kompetenzen. Die Konzeptualisierung einer Unrechtshandlung als Angelegenheit zwischen Täter und Opfer würde auch zu vermeiden helfen, die schwache Stellung des Opfers zu perpetuieren, wie das durch die Strafe geschehe, indem sich die Strafgewalt selbst als das eigentliche Opfer einer Straftat gerieren könne. Anders als eine staatszentrierte Verarbeitung von Unrecht validiere eine subjektzentrierte Alternative die Normgeltung nicht per Autorität, sondern auf komplexerem, dafür aber wirkungsvollerem, weil weithin mitgetragenem und nachvollzogenem Weg. Als Modell für ein derartiges Vorgehen nennt Scheerer den parlamentarischen Untersuchungsausschuß.

Literatur

Sebastian Scheerer, Kritik der strafenden Vernunft, in: Ethik und Sozialwissenschaften, 2001, 69-83.

Heinrich Popitz, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens, Tübingen 1968.