Nils Christie: Unterschied zwischen den Versionen

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* [http://www.prisonpolicy.org/scans/limits_to_pain/ Limits to Pain (1981)]
* [http://www.prisonpolicy.org/scans/limits_to_pain/ Limits to Pain (1981)]
* Christie, Nils (1995b): [[Kriminalitätskontrolle als Industrie]]. Auf dem Weg zu Gulags westlicher Art, 2. überarb. Aufl., Centaurus-Verl.-Gesthaacht
* Christie, Nils (1995b): [[Kriminalitätskontrolle als Industrie]]. Auf dem Weg zu Gulags westlicher Art, 2. überarb. Aufl., Centaurus-Verl.-Gesthaacht
* [http://books.google.de/books/about/Crime_Control_as_Industry.html?id=zkpKkhiq2ygC&redir_esc=y Crime Control as Industry]


* Christie, Nils (1998): Roots of a perspective, in: Simon Holdaway and Paul Rock: Thinking about criminology, UCL, Toronto Buffalo, 1998, S.121- 131
* Christie, Nils (1998): Roots of a perspective, in: Simon Holdaway and Paul Rock: Thinking about criminology, UCL, Toronto Buffalo, 1998, S.121- 131

Version vom 17. Juli 2014, 12:01 Uhr

Nils Christie (*24.02.1928 in Oslo/ Norwegen) ist emeritierter Professor für Kriminologie an der juristischen Fakultät der Universität Oslo in Norwegen. Er gehört zu den frühen Denkern der Kritischen Kriminologie und gilt neben dem norwegischem Rechtssoziologen Thomas Mathiesen und dem Niederländer Louk Hulsman (Professor für Strafrecht und Kriminologie) als einer der bedeutendsten Theoretiker des kriminalsoziologischen Abolitionismus.



Leben

Nils Christie

Nils Christie wurde am 24.02.1928 in Oslo/ Norwegen geboren. Bereits in jungen Jahren erfuhr er die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche Norwegens durch die Besetzung der Nazis und deren Niederlage im Zweiten Weltkrieg. Christie machte die Erfahrung, dass Wertebilder und Wahrnehmungsmuster von Handlungen keine universale Gültigkeit besitzen, sondern sich mit dem Wechsel von Bezugssystemen ebenfalls verändern.

Im Kontext der Aufarbeitung der Kriegsgeschehnisse und der Verurteilung von Kollaborateuren, wurde der junge Student Christie von dem damals regierungsnah denkenden Johs Andenaes, Professor für Strafrecht, und Andreas Aulie, Generalstaatsanwalt, um eine fachliche Stellungnahme gebeten. Gespräche mit ehemaligen Aufsehern der nord- norwegischen Konzentrationslager führten ihn zu der Feststellung ihrer Gewöhnlichkeit, und nicht ihrer Abnormalität. Er begann aus einer gesellschaftsanalytischen Perspektive die Mechanismen zu untersuchen, in denen die Misshandlungen und Tötungen der KZ- Häftlinge, begründet waren (vgl. Christie: Guards in concentration camps, 1952). – eine Untersuchung, die seine Perspektive auf das Kriminalitätskonzept auch noch später beeinflusst.

Nach seinem Soziologiestudium an der Universität Oslo ging Nils Christie als Research Fellow mit einem Rockefeller-Stipendium nach Harvard und Berkeley, hielt später auf fast allen Kontinenten Vorlesungen und Vorträge und verfasste zahlreiche Schriften insbesondere zum Umgang mit abweichendem Verhalten. Unter anderen kehrte er als Professor der Kriminologie nach Berkeley zurück, um dort selbst zu unterrichten.

Seit den 60er Jahren unterhält Nils Christie einen engen Kontakt zu den [Camphill- Gemeinschaften][1] in Norwegen, insbesondere zu Vidarasen. Die Erfahrungen seiner Aufenthalte in Vidarasen werden wiederholt Bestandteil seiner Schriften und Vorträge, auch in Vidarasen selbst. Die soziale Organisation u.a. in diesen Gemeinschaften dient ihm als Vorbild im Umgang mit abweichendem Verhalten.

Nils Christie erhielt Ehrendoktortitel an den Universitäten Kopenhagen/ Dänemark, Stockholm/ Schweden und Sheffield/ England. Zuletzt unterrichtet er an der juristischen Fakultät der Universität Oslo.

Derzeit beschäftigt er sich mit der Fertigstellung seines nächsten Buches und setzt sich für den Abzug der Norweger aus Albanien ein.

Nils Christie in seinem Arbeitszimmer


Werk

Nils Christie veröffentlichte eine Vielzahl wissenschaftlicher Artikel und mehr als zehn Bücher, einige in vielen Sprachen erhältlich. Ein Großteil seiner Schriften widmet sich der Thematik Kriminalität und der Kriminalitätskontrolle, aber er hat auch Bücher über Erziehung und das Bildungssystem, Drogenkontrolle sowie über alternative Gemeinschaftsformen für Menschen mit Handycaps (Christie: Jenseits von Einsamkeit und Entfremdung, 2007) verfasst. Nationale und internationale Aufmerksamkeit erlangte Nils Christie durch seine kritische und radikale Positionierung hinsichtlich der Institutionen der Strafrechtspflege (Strafe, Strafrecht, Strafprozess und Strafvollzug), die dem (damalig) wissenschaftlichen Mainstream im Umgang mit Kriminalität und Kriminalitätskontrolle nicht nur gegenläufig gegenüber stand, sondern das Selbstverständnis der Kriminologie und der Kriminalpolitik grundsätzlich hinterfragt.

Gegenüber den Fragen der Gerechtigkeit und der Herstellung von Gerechtigkeit positioniert sich Nils Christie gemäß seiner grundsätzlichen Lebenseinstellung in kantischen Moralvorstellungen. Im Selbstverständnis eines „moralistischen Imperialisten“ (vgl. Christie: Grenzen des Leids, 1995a, S.21) fühlt er sich und die Gesellschaft den Grundprinzipien der Humanität und Nachsicht verpflichtet und setzt sich für eine Abkehr von utilitaristischem Strafen als absichtliche Zufügung von Leid ein (Christie,1995a).

Ein unverkennbares Merkmal seiner Vorträge und Schriften ist der weitestgehende Verzicht auf wissenschaftliche Sprache. Mit zahlreichen Anekdoten, Beispielen aber auch Schaubildern angereichert zielen seine Überlegungen nicht nur auf die exklusive Öffentlichkeit der Fachexperten, sondern sollen für alle interessierten Gesellschaftsmitglieder zugänglich sein.

Kriminalität existiert nicht, so Christie’s Hauptthese. Kriminalität ist eine Bedeutungszuschreibung für unerwünschtes Handeln, die Maßnahmen der Kontrolle, Sanktionierung und/oder Behandlung legitimiert und informelle Regulierungskompetenzen ihrer Bedeutung und Verantwortung enthebt. Mit zunehmender räumlicher, zeitlicher und sozialer Segmentierung der westlichen hochindustrialisierten Gesellschaften sowie dem Bedeutungsverlust sozialer Bindungen und gegenseitiger Verantwortung nehmen der Grad der Entfremdung, die Dämonisierung von abweichenden Verhalten und der Gebrauch des Kriminalitätskonzepts zu. Die Wahrnehmung und Bewertung der unteren Schichten als „gefährliche Klassen“, als Bedrohung des Wohlstandes, erlebt vor dem Hintergrund der erweiterten Macht des kapitalistischen Marktes und der Ökonomisierung der Politik und des Sozialen, verbunden mit ansteigender Divergenz in der Verteilung des Besitzes, eine Renaissance. Feindbilder sowie punitive und exkludierende Forderungen steigen in Ermangelung emotionaler Ausdrucksmöglichkeiten und aufgrund der fehlenden Verwertbarkeit der Beschäftigungslosen an. Die Institutionen der Strafrechtspflege, so Christies Beobachtung, passen sich den wechselnden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erfordernissen hochindustrialisierter Staaten an und begründen sich nicht auf dem Ideal der Humanität. Diese Entwicklungen gilt es zu begrenzen (Christie: Kriminalitätskontrolle als Industrie, 1995b).

Christie plädiert für alternative Formen der Konfliktlösung, die sich nicht auf der Anwendung des Kriminalitätskonzepts und der absichtlichen Zufügung von Leid begründen, sondern unerwünschtes Verhalten als Interessenskonflikt und Chance zur Klärung von Werten begreifen. Christies Position ist nicht die einer vollständigen Abschaffung der Institutionen der Strafrechtspflege, sondern ein Minimalismus, der "horizontale Gerechtigkeit" im Sinne der Streitschlichtung (Restorative Justice) unter Gleichberechtigten vorzieht und die "vertikale Gerechtigkeit" der Strafe nur im Notfall vorsieht (vgl. Christie, 1995a und Christie, 2005).

Nils Christie beim Skifahren


Quellen

  • Christie, Nils (1983): Die versteckte Botschaft des Neo- Klassizismus. In: Kriminologisches Journal, Heft 1/1983, S.14-33
  • Christie, Nils (1998): Roots of a perspective, in: Simon Holdaway and Paul Rock: Thinking about criminology, UCL, Toronto Buffalo, 1998, S.121- 131
  • Christie, Nils (2005): Wieviel Kriminalität braucht die Gesellschaft?, Verlag C.H. Beck oHG, München
  • Christie, Nils (2007): Restorative Justice – Answers to deficits in modernity?, Festschrift for Stan Cohen, in: Downes/ Rock/ Chinkin and Gearty (Hg.): Crime, Social Control and Human Rights, Willan Publishing, S.368- 378
  • Christie, Nils (2009a): Restorative Justice. Five dangers ahead, in: Knepper/ Doak and Shapland (Hg.): Urban Crime Prevention, Surveillance and Restorative Justice, CRC Press, S.195- 204


  • Cur. Vitae (o.J.): unveröffentlicht, zur Verfügung gestellt von Prof. Dr. Scheerer, Universität Hamburg

Auswahl weiterer Werke

  • Christie, Nils (1991): Der nützliche Feind. Die Drogenpolitik und ihre Nutznießer, AJZ, Bielefeld
  • Christie, Nils (2007): Jenseits von Einsamkeit und Entfremdung. Gemeinschaften für außergewöhnliche Menschen, Verlag Freies Geistesleben
  • Christie, Nils (2009) Restorative Justice: Five Dangers Ahead. In: Paul Knepper, Jonathan Doak, and Joanna Shapland, eds., Urban Crime Prevention, Surveillance, and Restorative Justice. Effects of Social Technologies. CRC Press: 195-203.

Eine ausführliche Übersicht befindet sich auf der Homepage von Nils Christie: http://folk.uio.no/christie/

Kritiken

  • von Trotha, Trutz (1983): Limits to Pain. Diskussionsbeitrag zu einer Abhandlung von Nils Christie. In: Kriminologisches Journal, Heft 1/1983, S. 34- 53
  • Böllinger, Lorenz (1983): Limits to Pain. Eine psychosoziale Perspektive. In: Kriminologisches Journal, Heft 1/1983, S. 54- 56
  • von Hirsch, Andrew (1983): Limits to Pain. Eine (ziemlich) neoklassische Perspektive. In: Kriminologisches Journal, Heft 1/1983, S. 57- 60
  • Lindenberg, Michael (1997):Kriminalitätskontrolle als Industrie.Diskussionsbeitrag zu einer Abhandlung von Nils Christie, in: Kriminologisches Journal, Heft 1/1997, S. 62- 67
  • Kiesow, Rainer Maria (2005) Verbrechen gibt es nicht. Nils Christie heilt die Welt mit Freundlichkeit. Süddeutsche Zeitung v. 29. Juli


Weblinks

Spanisch