Grenzen des Leids

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Grenzen des Leids ist der Titel eines Buches von Nils Christie (norwegisch: Pinens Begrensning; englisch Limits to Pain; jeweils 1981). Das Buch wurde in 15 Sprachen übersetzt.

Nach dem Niedergang der Behandlungsideologie des Neo- Positivismus modifiziere sich der Umgang mit unerwünschtem Verhalten nun nach den neo- klassizistischen Strafrechtsvorstellungen Generalprävention/ Abschreckung und Wertehierarchierung im herrschaftlichen Interesse. Gerechtigkeit, so der Autor, könne nicht durch Gleichheit im Umgang mit abweichenden Verhalten hergestellt werden, wie es die (neo-) klassizistische Ideologie postuliert, vielmehr führen die rigide Katalogisierung der Deliktschwere zur Ausklammerung sozialer Hintergründe, zur Entpersonalisierung des Täters und zur Bedeutungsverzerrung des Konfliktes für Opfer und Angeklagte. Die Verhängung von Strafe, als absichtliche Zufügung von Leid, steht im Widerspruch zu gesellschaftlichen Werten von Humanität. Sie tritt nicht im Rahmen einer absoluten Straftheorie in Erscheinung, sondern bedarf der Verschleierung zur Legitimation als Mittel der Kriminalitätskontrolle, etwa durch die Einführung manipulativer Zwecke (Resozialisierung, Schutz der Gesellschaft vs. Abschreckung, Konstituierung und Konservierung von Wertehierarchien) sowie von Mechanismen der Objektivierung (Diagnosesysteme und rigide Strafrechtskataloge mit einem Minimum an individuellen Entscheidungsspielräumen), Entfremdung (Professionalisierung, Spezialisierung, Vertretung), Entpersonalisierung (Ausblenden subjektiver Bedeutungen, Festlegung relevanter Kriterien) und der Tabuisierung des Leids.


Der Autor plädiert für ein moralistisches, alternatives Handlungsmodell zum Umgang mit abweichenden Verhalten, verbunden mit einer zweckfreien und minimierten Zufügung von Leid. Als Bedingungen für ein niedriges Niveau an Schmerzzufügung arbeitet er beispielhaft folgende Aspekte heraus: ein hohes Maß an Wissen über die Lebensstile und Lebenshintergründe andere Systemmitglieder, die Minimierung von Machthierarchien und –befugnissen, die Verletzbarkeit von Macht durch gleiche Qualifikation und enge praktizierte Nähe, wechselseitige Abhängigkeiten von Systemmitgliedern sowie Glaubenssysteme, die Schmerzzufügung ausschließen.


Auf diesen Prämissen aufbauend schlägt der Autor das Modell einer partizipatorischen Rechtsfindung im unmittelbar umgebenden Lebensraum vor, das von der Idee der Streitschlichtung im Sinne einer Restorative Justice geleitet wird. Abweichendes Verhalten sei expressives Verhalten und erfordert die Dialogführung über subjektive Bedeutungszusammenhänge. Konflikte, so der Autor, sind wertvoll, da sie in unseren hochindustrialisierten Gesellschaften nur begrenzt auftauchen und Gelegenheiten zur Klärung von Normen darstellen. Die Opfer und die Gesellschaft werden durch das Strafrecht und der Gerichte ihres Eigentums an diesen Konflikten beraubt. In einer partizipatorischen Rechtsfindung hingegen können die Parteien und andere Teilnehmer, selbst und unabhängig von vorgegebenen Relevanzen, den Klärungsprozess von Normen vollziehen und ihren Gefühlen Ausdruck verleihen, verbunden mit dem Potential der Reue und Vergebung. Dies geht einher mit einem größtmöglichen Verzicht an Expertentum, an Menschen, die den Konflikt „übernehmen“. Die Rechtsfindung verlagert sich von einer Ergebnisorientierung hin zu einer Prozessorientierung mit der Zielrichtung der Wiederherstellung von Gerechtigkeit und Frieden auch unter Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten sowie der Entschädigung des Opfers.


In „Restorative Justice – Answers to deficits in modernity?“ (Christie, 2007) und „Restorative Justice- Five dangers ahead“ (Christie, 2009) konstatiert der Autor einen beachtlichen Anstieg der Bedeutung der skizzierten Ideen für die Fachöffentlichkeit und deren Umsetzung. Er führt dies auf die Defizite der Moderne (Entwurzelung, Rigidität und (Massen-) Produktivität der Institutionen der Strafrechtspflege, mangelnde Ausdrucksmöglichkeiten für Trauer und Wut, Verlust informeller, persönlicher Netzwerke, Division, Entpersonalisierung von Subjekten) und den daraus entspringenden gesellschaftlichen Bedürfnissen zurück. Mit der Expansion der Bildungsmöglichkeiten und dem Zuwachs von Gesellschaftsmitgliedern mit hohem, jedoch nicht spezialisierten Wissen geht zudem bei zunehmender Beschäftigungslosigkeit eine Suche nach neuen erfolgsversprechenden Tätigkeitsfeldern, wie z.B. der Mediation, einher. In diesem Zusammenhang sieht er das Modell der Restorative Justice durch eine ansteigende professionalisierte und spezialisierte Besetzung des Verfahrens, die um sich greifende Vorstellung ihrer alleinigen Gültigkeit oder auch ihrer Vermischung mit strafrechtlichen Verfahren, ihre Unterwerfung unter als Erfolg definierter Kriterien gemäß buchhalterischer Erfordernisse und der Ausweitung der Internationalen Gerichtshöfe unter dem Deckmantel der Herstellung von Frieden gefährdet.

Weblinks und Literatur

  • Christie, Nils (1995): Grenzen des Leids, 2. bearb. Aufl., VOTUM Verlag GMbH, Münster
  • Christie, Nils (1983): Die versteckte Botschaft des Neo- Klassizismus. In: Kriminologisches Journal, Heft 1/1983, S. 14- 33
  • Christie, Nils (2007): Restorative Justice – Answers to deficits in modernity?, Festschrift for Stan Cohen, In: Downes/ Rock/ Chinkin and Gearty (Hg.): Crime, Social Control and Human Rights, Willan Publishing, S.368- 378
  • Christie, Nils (2009): Restorative Justice. Five dangers ahead, In: Knepper/ Doak and Shapland: Urban Crime Prevention, Surveillance and Restorative Justice, CRC Press, S.195- 204

Kritiken:

  • von Trotha, Trutz (1983): Limits to Pain. Diskussionsbeitrag zu einer Abhandlung von Nils Christie. In: Kriminologisches Journal, Heft 1/1983, S. 34- 53
  • Lorenz Böllinger (1983): Limits to Pain. Eine psychosoziale Perspektive. In: Kriminologisches Journal, Heft 1/1983, S. 54- 56
  • von Hirsch, Andrew (1983): Limits to Pain. Eine (ziemlich) neoklassische Perspektive. In: Kriminologisches Journal, Heft 1/1983, S. 57- 60