Labeling Approach: Unterschied zwischen den Versionen

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== Kritik und Grenzen der Erklärungskraft ==


Kritisiert worden sind die Vertreter des L.A. zum einen aus ätiologischer Richtung bzgl. der mangelnden Berücksichtigung objektiver Kriminalitätsursachen und hier insbesondere des Verhaltensaspektes bzw. deren Ausblendung in der radikalen Position von [[Fritz Sack]] und zum anderen bzgl. der Unschärfe des Ansatzes, des Verbleibens und Leugnens eines "objektivistischen Restes" gekoppelt an den Vorwurf der „idealistischen“ Argumentationsweise.
So ist zunächst vielfach angemerkt worden, dass die Ansicht, [[abweichendes Verhalten]] allein mit Zuschreibungsprozessen erklären zu können, zu einseitig sei, das Verhalten des Täters, durch welches der Definitionsprozess überhaupt erst in Gang gesetzt wird, völlig ausgeblendet werde und damit alle bisherigen kriminologischen Erkenntnisse verkannt würden (vgl. u.a. Christ 1971, 494, der dem L.A. allenfalls eine Verstärkerfunktion zuspricht).
Die Tatsache, dass nicht alle Straftaten bekannt und auch nicht alle bekannt gewordenen Straftaten bzw. Straftäter nicht mit Sanktionen belegt werden sei kein Beweis dafür, dass Kriminalität erst durch die Sanktionen, praktisch durch die Situationsdefinitionen anderer entsteht, sondern vielmehr ein Ausdruck dafür, dass die Institutionen der sozialen Kontrolle unfähig sind, ihre Funktion vollständig zu erfüllen (so Werkentin/Hofferbert/Baurmann 1975, 132). Abweichendes Verhalten also allein als das Ergebnis eines Definitionsprozesses zu qualifizieren, lasse das Handeln der Kontrollinstanzen in höchstem Maße willkürlich erscheinen (vgl. u.a. Akers 1975). Unbeantwortet geblieben sei in diesem Zusammenhang außerdem, durch welche spezifische Art der Reaktion ein Verhalten als abweichend bestimmt wird (vgl. Gibbs 1975, 112), welche Sanktionsarten abweichende Karrieren auslösen und welches Maß an Härte die Sanktionen dabei aufweisen müssen (so Mankoff 1975, 115).
Zu Bedenken gegeben wurde darüber hinaus, dass der L.A. – jedenfalls in seiner radikalen Ausprägung – den Weg zu Präventivmaßnahmen gänzlich verstellt, dass „mit zunehmender Verabsolutierung des Ansatzes die Möglichkeiten, beim Kriminellen selbst mit Erfolg zu intervenieren oder auch antizipierend auf die Vermeidung delinquenten Handelns vorzubereiten“ immer geringer eingeschätzt und somit therapeutische Forschungen und praktische Anstrengungen vernachlässigt bzw. gänzlich aufgehoben werden (so v. Engelhardt 1975,125) oder wie Helge Peters es formuliert: der L.A. sozialpädagogisches Handeln „schlechthin delegitimiert, weil seine Umkehrung im Kern das Nichts-Tun, die Non-Intervention fordert“ (vgl. 1996,112).


== Zusammenhänge mit anderen Begriffen ==
== Zusammenhänge mit anderen Begriffen ==

Version vom 14. November 2007, 13:48 Uhr





Zusammenhänge mit anderen Begriffen

Eine Verbindung mit anderen, kriminologisch relevanten Begriffen lässt sich für den L.A. wie folgt herstellen: Allgemein kann seine Rezeption als der wohl "konsequenteste Ausdruck einer Neuorientierung der Kriminologie in Richtung der Einbeziehung der sozialen Kontrolle (vgl. soziale Kontrolle) in die Analyse der Kriminalität" betrachtet werden (so Sack 1993, 332.), wie sie sich in Abgrenzung zur traditionellen die kritische Kriminologie (vgl. Kriminologie) zur Aufgabe gemacht hat. Unter Ablehnung ätiologischer Fragestellungen (vgl. Ätiologie) wird Kriminalität nicht als ein Verhalten, sondern als eine zugeschriebene Eigenschaft (vgl. Zuschreibung) bzw. in der radikalen Ausprägung als ein "negatives Gut" verstanden und der Blick auf die für die Beurteilung eines Verhaltens als "abweichend" maßgebenden Definitions- Interpretations- (vgl. Norm und abweichendes Verhalten) und Aushandlungsprozesse (vgl. Verfahrenseinstellung, Kriminalität höherer Schichten, Wirtschaftskriminalität) gerichtet. Seinen Grundzügen nach gewinnt auf der Ebene der Normsetzung und –durchsetzung dabei das Konzept der Selektion an Relevanz, während auf der individuellen das der Stigmatisierung mit seiner Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Devianz (vgl. Devianz) fokussiert wird. In theoretischer Hinsicht gewinnt der L.A. heute in Verbindung mit den Annahmen der marxistischen und der konfliktorientierten Kriminologie (vgl. kritische Kriminologie) sowie in Verbindung mit anderen Ansätzen an Bedeutung (vgl. hier das Makro-Mikro-Makro-Modell von H. Hess/S. Scheerer 1997, 83ff.). In kriminalpolitischer Hinsicht lässt sich neben der Forderung nach Non-Intervention bzw. einem "Weniger" daran (vgl. Diversion) eine Linie zum Abolitionismus insofern ziehen, als dass dessen Zielsetzung -die Abschaffung bestimmter staatlicher Kontrollstrategien- wohl die stringenteste Umsetzung der rechts- bzw. kriminalpolitischen Forderung des L.A. nach Begrenzung staatlicher Machtausübung darstellt (vgl. zu den Zusammenhängen der beiden Strömungen Schumann 1985, 19ff.). In methodischer Hinsicht waren es v.a. die qualitativen Verfahren (vgl. qualitative Methoden), die seit der Rezeption des L.A. stark an Bedeutung gewonnen und insofern stark von ihm profitiert haben, da Fragen danach, wie die Wirklichkeit von Abweichung und Kriminalität durch Interaktionen mit den Instanzen sozialer Kontrolle hervorgebracht wird oder wie abweichende Laufbahnen durch Etikettierungsprozesse erst in Gang gesetzt oder auch verfestigt werden, qualitative Forschungsdesigns zumindest nahe legen, wenn nicht sogar zwingend erforderlich machen (vgl. Meuser / Löschper 2002, Abs 4 und 5).

Zusammenhänge mit der materiellen Realität

Die seit der Rezeption in einer Vielzahl durchgeführten empirischen Untersuchungen zum L.A. lassen sich nicht annähernd dokumentieren. An dieser Stelle bleibt nur zu sagen, dass sich die sog. Instanzenforschung auf das Handeln nahezu aller Institutionen sozialer Kontrolle erstreckt hat, wobei es insbesondere die Polizei war, die dabei ein „geradezu exponential wachsendes“ Forschungsinteresse auf sich gezogen hat (so Sack 1993, 504). Während dort zunächst noch auf die Aspekte der Selektivität bei Verdachtsgewinnung und Kriminalisierung wie u.a. in den Untersuchungen von Feest/Lautmann (1971) oder Feest/Blankenburg (1972) , wurde der Blick später auch auf Faktoren gerichtet, die einen generellen Einfluss auf die Ausfüllung polizeilicher Handlungsspielräume haben können (vgl. Lehne 1993, 393, der hier u.a. die Rekrutierung und Ausbildung sowie die Organisationsstruktur der Polizei nennt). Wie für die Polizei (>vgl. Polizei, Polizeiforschung) haben sich im Gefolge des L.A. auch um die Justiz bzw. das Handeln aller der am Strafverfahren beteiligten Vertreter (vgl. Justiz, Justizforschung) und später auch um das Anzeigeverhalten eigenständige Forschungsfelder etabliert. Weiter zu nennen und nur beispielhaft aufgeführt sind zudem Studien in den Bereichen der Sozialarbeit wie von Manfred Brusten (1973) und Helge Peters / Helga Cremer-Schäfer (1975), zu Stigmatisierungsprozessen in Schulen wie von Manfred Brusten / Klaus Hurrelmann (1973) sowie zur Stigmatisierung durch Heimerziehung (vgl. Bürger, 1990). Allerdings lässt sich trotz der Fülle der durchgeführten Untersuchungen keine klare Aussage über die Gültigkeit des L.A. treffen. Grund für die z. T. sehr unterschiedlichen Ergebnisse (den Einfluss des L.A. z.T. bestätigend Feest/Blankenburg 1972 ; verneinend hingegen Boy 1984, Bürger 1990) sind wohl die Vielseitig- und Vielschichtigkeit der den Studien zugrundegelegten Fragestellungen und methodischen Probleme bzgl. des empirischen Nachweises. Anzumerken bleibt jedoch, dass spätere Untersuchungen z. T. hochsignifikante Ergebnisse bzgl. kausaler Beziehungen zwischen Stigmatisierung und krimineller Karriere hervorgebracht haben (vgl. u.a. Kaplan 1980) und in diesem Zusammenhang wohl auch unbestritten ist, dass Ergebnisse wie diese wesentlich zur Verbreitung des Diversionsgedankens (vgl. Diversion) beigetragen haben.


Kriminologische Relevanz

Die kriminologische Relevanz des L.A. besteht darin, dass die Kriminologie mit seiner Rezeption um eine Perspektive erweitert worden ist, deren Grundzüge in keiner Analyse mehr unberücksichtigt bleiben können. Um es mit Fritz Sack auf den Punkt zu bringen, ist es sein Verdienst „mit dem Insistieren auf die Bedeutung der sozialen Reaktion für die Kriminologie die soziologische und politische Dimension der Kriminalität auch in ihren Alltagserscheinungen und Mikrostrukturen“ zur Geltung gebracht zu haben (so 1993, 504). Die kriminalpolitische Relevanz des L.A. mit seiner Forderung nach Nicht-Intervention bzw. einem „Weniger“ zeigt sich in der Bedeutung der alternativen Reaktionen zum Strafrecht und Diversionsprogrammen. > wird ausgeführt


Literatur

  • Becker, H. S.: Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance, New York 1963 (Teilpublikationen zunächst in: American Journal of Sociology, LVII = Sept.1951 und LIX = Nov.1953)
  • ders.: Regelverletzung und Abweichung, in: Stallberg, F.W.(Hrsg.): Abweichung und Kriminalität, 1975, S. 18-32.
  • Boy, P.: Etikettierungstheoretische Analyse des Strafverfahrens - Empirisch fundierte Theorie oder plausible Fiktion? in: Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentstehung und Kriminalitätskontrolle, Bd.2, S.1380-1413, Köln 1983.
  • Brusten, M.: Prozesse der Kriminalisierung. Ergebnisse einer Analyse von Jugendamtsakten, in: Otto, H. U./Schneider, S.: Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit, Bd. 2., Berlin 1973, S. 85-126.
  • Brusten, M./ Hurrelmann, K.: Abweichendes Verhalten in der Schule. Eine Untersuchung zu Prozessen der Stigmatisierung, München 1973.
  • Bürger, U.: Heimerziehung und soziale Teilnahmechancen, München 1990.
  • Christ, H., in : Kritische Justiz 1971, S. 492-494.
  • Eisenberg, U.: Kriminologie, 3. Aufl., Köln: Heymann 1990.
  • Engelhardt, D. von: Der „Labeling approach“ in kriminologischer Sicht, in: Kriminologisches Journal 4/1972, S. 56-60.
  • Erikson, K. T.: Notes on the Sociology of Deviance in : Social Problems 1962, Vol. 9 Nr.4, S. 307-314.
  • Feest, J./Blankenburg, E.: Die Definitionsmacht der Polizei. Strategien der Strafverfolgung und soziale Selektion, Düsseldorf 1972.
  • Göppinger, H.: Kriminologie, 4. Aufl., München: Beck 1980.
  • Hess, H./ Sebastian Scheerer: Was ist Kriminalität? Skizze einer konstruktivistischen Kriminalitätstheorie, in: KrimJ 1997, S. 83-109.
  • Kaplan, H. B.: Deviant Behavior in Defence of Self, N.Y. 1980.
  • Keckeisen, W.: Die gesellschaftliche Definition abweichenden Verhaltens - Perspektiven und Grenzen des Labeling approach, 2. Aufl., München 1976.
  • Kituse, J. I.: Societal Reaction to Deviant Behavior. Problems of Theory and Method, in: Social Problems 1962, Vol. 9 Nr.3, S. 247-256.
  • Lamnek, S.: Neue Theorien abweichenden Verhaltens, 2. durchges. Aufl., München 1997.
  • Lehne, W.: Polizeiforschung, in: Kaiser, G./Kerner, H. J./Sack, F./Schellhoss, H. (Hrsg): Kleines Kriminologisches Wörterbuch, Heidelberg: C. F. Müller 1993.
  • Lemert, E. M.: Social Pathology, New York 1951.
  • ders.: Der Begriff der sekundären Devianz, in: Lüderssen, K./ Fritz Sack (Hrsg.), Seminar abweichendes Verhalten I, 1975, S. 433-472.
  • Meuser, M. / Löschper, G.: Einleitung : Qualitative Forschung in der Kriminologie (26 Absätze), in: Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (On-line Journal) 3 (1)/2002, verfügbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs/fqs.htm (Zugriff am 19. 01. 2006).
  • Opp, K. D.: Die "alte" und die "neue" Kriminalsoziologie: Eine kritische Analyse einiger Thesen des labeling approach, in: KrimJ 1972, S.32-52.
  • Peters, H.: Als Partisanenwissenschaft ausgedient, als Theorie aber nicht sterblich : der labeling approach, in: KrimJ 1996, S.107-115.
  • Sack, F.: Neue Perspektiven der Kriminologie, in: Sack, F./König, R.: Kriminalsoziologie, Wiesbaden 1968.
  • ders., : Kritische Kriminologie, in: Kaiser, G./Kerner, H. J./Sack, F./Schellhoss, H. (Hrsg): Kleines Kriminologisches Wörterbuch, Heidelberg: C. F. Müller 1993.
  • Tannenbaum, F.: Crime and the Community, New York/London 1938 (Nachdruck 1951).

Weiterfuehrende Literatur

  • Paternoster, R./Iovanni, L.: The Labeling Perspective and Delinquency : An Elaboration of the Theory and an Assessment of the evidence, in: Justice Quarterly 1989, S. 359-394.
  • Rüther, W.: Abweichendes Verhalten und Labeling approach, Köln/Berlin/Bonn/München 1975.
  • Schneider, H.: Schöpfung aus dem Nichts. Missverständnisse in der deutschen Rezeption des Labeling Approach, in: MschKrim 1999, S. 202-213.

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