Hans von Hentig: Unterschied zwischen den Versionen

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'''Hans von Hentig''' (* 9.06.1887 Berlin - † 6.07. 1974 Bad Tölz) war ein deutscher [[Kriminologie|Kriminologe]] und Mitbegründer der [[Viktimologie]].
'''Hans von Hentig''' (* 9.06.1887 Berlin - † 6.07. 1974 Bad Tölz) war ein deutscher [[Kriminologie|Kriminologe]] und Mitbegründer der [[Viktimologie]]. Er war "ein impulsiver Abenteurer mit wenig Respekt vor Autorität. Und er war ein extrem schreibfreudiger Wissenschaftler, der zu den Begründern einer modernen, durch die Verbindung juristischer und medizinisch-psychologischer Kenntnisse und Zugänge bestimmten Kriminologie gehörte" (Fahrmeir 2008).


Geldnöte und Karrierewünsche trieben Hentig seit 1927 zurück in die Wissenschaft: Lehraufträge und Habilitation zum Thema "Wiederaufnahmerecht" führten 1931 zur Berufung auf einen Lehrstuhl in Kiel, 1934 in Bonn. Ein Jahr später holte ihn seine linke Vergangenheit ein: Gemäß den Bestimmungen des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" wurde Hentig in den Ruhestand versetzt. Obgleich er einer der deutschen Wissenschaftler war, die sich nach 1919 intensiv für die Wiederaufnahme internationaler Kontakte eingesetzt hatten, bedeutete die Emigration in die USA (mit der diese Biographie endet) eine Zäsur in seiner Publikationstätigkeit. 1951 kehrte er auf einen "Wiedergutmachungslehrstuhl" nach Bonn zurück, ohne jedoch seine zentrale Rolle wiederzuerlangen.
Diese farbenprächtige Biographie spielt in David von Mayenburgs hervorragender Studie allerdings bisweilen nur eine Nebenrolle. Ziel der Untersuchung ist nichts weniger, als die Entwicklung der Kriminologie als Wissenschaft zwischen Strafrecht und Psychologie in Deutschland zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus im Detail zu rekonstruieren. Dabei geht es Mayenburg vor allem darum, die bisherigen verdienstvollen Forschungen zur Entwicklung der Vorstellungen von Verbrechern, Strafvollzug, Eugenik und staatlicher Strafpolitik um die (rechts-)wissenschaftliche Binnenperspektive zu erweitern. Hans von Hentig ist in diesem Zusammenhang interessant, weil er sowohl ideologisch (er war ein eher internationalistisch eingestellter, linker Intellektueller) als auch inhaltlich (er war Gegner der Todesstrafe, eugenischer Verfahren, des Antisemitismus und Sonderbestimmungen gegen Zigeuner und Arbeitsscheue) nicht in das Bild passt, das eine geradlinige Entwicklung der Kriminologie vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus suggeriert. Dennoch teilte Hentig nicht nur die Karrierewege der 'rechten', bald für Programme der 'Ausmerzung' plädierenden Kriminologen, sondern auch viele ihrer methodischen Prämissen.
Mayenburgs sorgfältige Analyse, die ein enorm breites, auf profunder Sachkenntnis und akribischer Recherche basierendes Bild der Entwicklung von Strafrechtslehre, Kriminologie, Kriminalpsychiatrie, Strafvollzug und wichtigen Forschungsprogrammen zeichnet, kann hier nicht im Detail resümiert werden. Es ist allenfalls möglich, auf grobe Linien hinzuweisen. Hentigs wissenschaftlicher Werdegang erfolgte in einer Zeit, in der (natur-)wissenschaftliche Versuche der Klassifikation von Verbrechertypen drohten, Strafrecht und Strafprozeßrecht obsolet werden zu lassen. Die professionelle Konkurrenz zwischen Juristen und Medizinern verband sich dabei mit einer von Hentig geteilten Suche nach Verwissenschaftlichung und Differenzierung des als zu schematisch empfundenen Strafrechts, die einer Medikalisierung der Sprache der Kriminologie Vorschub leistete. Diese Medikalisierung entwickelte sich in Hentigs Aufsätzen oft von der Metapher zur methodischen wie inhaltlichen Prämisse, der aber eine wissenschaftliche Basis fehlte.
Ähnliches galt für die statistischen Grundlagen kriminologischer Erkenntnisse. Einerseits war Hentig ein sorgfältiger Interpret des vorhandenen Datenmaterials - und seiner Unzulänglichkeiten. Andererseits teilte er unreflektiert bestimmte Annahmen (wie der Existenz von Rassen) und operierte ungehemmt mit vermeintlich gesicherten, oft eher zufällig aneinandergereihten qualitativen historischen Beispielen. Besonders in seinen Äußerungen zu Frauen (denen Hentig beispielsweise die Fähigkeit, Geschworene zu sein, absprach) dominierten in ihren Wurzeln leider nicht zu ermittelnde Vorurteile, die gar keiner Verifikation mehr unterzogen wurden. Insofern leistete Hentig methodisch und sprachlich vielem von dem Vorschub, was er im Ergebnis - als sich nach 1933 die "Ausmerzungskriminologie" Bahn brach - heftig zurückwies.
Bleibt das Problem, warum Prämissen von Wissenschaftlichkeit im Bereich der sich entwickelnden Kriminologie - trotz vereinzelter Kritik der Kollegen an methodischen Kurz-, Zirkel- und Fehlschlüssen - offenbar versagt haben. Mayenburg widmet sich dieser Frage eher indirekt. Zentral erscheinen aber die enge Verbindung zwischen wissenschaftlicher Forschung und politischer Agitation, welche viele Phasen des im Entstehen begriffenen kriminologischen Diskurses prägte, sowie die Ausbildung personeller Netzwerke, welche über Berufungen entschieden - wobei vor allem die geringe Zahl der ausgewiesenen Experten dafür sorgte, dass eine eher unkonventionelle Gestalt wie Hentig Karriere machen konnte. Mayenburgs spannend zu lesende Wissenschaftsgeschichte hat viele unschätzbare Verdienste. Sie widerlegt vor allem die Annahme, es habe eine gute 'linke' und eine schlechte 'rechte' Kriminologie gegeben; stattdessen lenkt sie den Blick auf allgemeine methodische Probleme des Faches, die viele aktuelle Fragen immer noch begleitet. Das äußerlich schlicht präsentierte Buch, das eine neue Reihe eröffnet, sollte daher Pflichtlektüre für alle sein, die sich für die Geschichte - und auch die Gegenwart - der intellektuellen Ursprünge von Methoden der Verbrechensbekämpfung und Verbrecherbestrafung interessieren.


== Leben ==
== Leben ==
Der Sohn des 1901 nobilitierten prominenten Rechtsanwalts und Staatsministers Otto v. Hentig, der u.a. Reichskanzler v. Bismarck, Generalfeldmarschall v. Moltke, die Industriellen W. v. Siemens, die Brüder Mannesmann und den Erfinder Thomas A. Edison zu seinen Mandanten zählte, und dessen Frau Marie, geb. Dankberg, hatte fünf Geschwister, war mit Freddy, geb. Fehr († 1988) verheiratet.
*Eltern: Vater: Otto (von) Hentig. Rechtsanwalt in Berlin. Spezialist für Wirtschaftsrecht. Zu seinen Mandanten gehörten Politiker und Militärs (Bismarck, v. Moltke) und Wirtschaftsführer (W. v. Siemens, Brüder Mannesmann) und der Erfinder Thomas A. Edison. 1893: Verwalter der Güter Karl Egon IV. zu Fürstenberg. 1900: zum Staatsminister des Herzogtums Sachsen Coburg und Gotha. 1901 führte letztere Tätigkeit zur Nobilitierung. Mutter: Marie, geb. Dankberg. Hans hatte fünf Geschwister.
 
*Ehe: mit Freddy, geb. Fehr († 1988).
 
*Ausbildung: Nach militärischer Ausbildung als "Königsjäger zu Pferde" in Posen (1906/07) Jurastudium in Paris (bei Garcon), Berlin (bei [[Franz v. Liszt]]) und München (bei Amira; Promotion trotz zweimal nicht bestandenen Staatsexamens bei Karl Birkmeyer, 1912). Abbruch des Medizinstudiums mit Beginn des Ersten Weltkriegs.


Nach militärischer Ausbildung als "Königsjäger zu Pferde" in Posen (1906/07) Jurastudium in Paris (bei Garcon), Berlin (bei [[Franz v. Liszt]]) und München (bei Amira; Promotion trotz nicht bestandenen Staatsexamens bei Karl Birkmeyer, 1912). Abbruch des Medizinstudiums. Im Ersten Weltkrieg im Westen, im Balkan und in Palästina. Kriegserinnerungen: "Mein Krieg" (1919).
*Krieg: Westfront; Wechsel von der Kavallerie zur Infanterie; Versetzungen nach Bulgarien, in die Somme-Schlacht, nach Istanbul, Aleppo, Damaskus, zurück an die Westfront. Im Dezember 1918 Ankunft (fast an der Spitze der Truppen) in Berlin. Literarische Verarbeitung des Krieges ("Mein Krieg"; 1919).  
Umorientierung zum Nationalbolschewismus: "Das Deutsche Manifest" (1921). Im September und Oktober 1923 plant er in Sachsen und Thüringen kommunistische Aufstände und spricht sich inmitten einer zaghafter werdenden KPD am 21. und 22.10.1923 für ein "Losschlagen" aus (v. Mayenburg 2006: 287). 1923 Vorbereitung eines kommunistischen Aufstands.
1925 wird Hentigs Rolle der Justiz bekannt; er flieht nach England, Frankreich, Italien und Rußland, wo er das Angebot, einen hohen Posten im sowjetischen Eisenbahnwesen einzunehmen, ausschlägt. Zum Jahresende 1925 ist er wieder in Deutschland. 1926 Amnestie.


Umorientierung zum Nationalbolschewismus: "Das Deutsche Manifest" (1921). Im September und Oktober 1923 plant er in Sachsen und Thüringen kommunistische Aufstände und spricht sich inmitten einer zaghafter werdenden KPD am 21. und 22.10.1923 für ein "Losschlagen" aus (v. Mayenburg 2006: 287). Nach seiner Enttarnung flieht er vor einem (später eingestellten) Hochverratsverfahren nach Moskau, wo er einen ihm von Lenin angebotenen leitenden Posten im sowjetischen Eisenbahnwesen ausschlägt. Von 1926-33 redigiert er mit Gustav Aschaffenburg die "Monatsschrift" (""MschKrim""). Nach seiner Habilitation (Gießen, 1929) erhält Hans von Hentig einen Ruf als Ordinarius nach Kiel (Dekan 1932/33), wo er wegen seiner politischen Vergangenheit (und seiner Gegnerschaft zur [[Todesstrafe]] usw.) 1934 seiner Professur enthoben wird. Nachdem er einer Berufung nach Bonn folgte, ereilte ihn dort am 1. September 1935 per Eilbrief seine Pensionierung.  
Von 1926-33 redigiert er mit Gustav Aschaffenburg die "Monatsschrift" (""MschKrim""). Nach seiner Habilitation (Gießen, 1929) erhält Hans von Hentig einen Ruf als Ordinarius nach Kiel (Dekan 1932/33), wo er wegen seiner politischen Vergangenheit (und seiner Gegnerschaft zur [[Todesstrafe]] usw.) 1934 seiner Professur enthoben wird. Nachdem er einer Berufung nach Bonn folgte, ereilte ihn dort am 1. September 1935 per Eilbrief seine Pensionierung.  


Emigration in die USA und kriminologische und viktimologische Arbeiten. Das Angebot des amerikanischen Präsidenten Eisenhower, Rektor der Universität Heidelberg zu werden, lehnte von Hentig 1945 ab und kehrte 1952 auf seinen früheren Lehrstuhl in Bonn zurück. 1955: Emeritierung. 1964: Verleihung der Beccaria Medaille der Deutschen Kriminologischen Gesellschaft. 1968: Verleihung des Großen Verdienstkreuzes der Bundesrepublik Deutschland.
Emigration in die USA und kriminologische und viktimologische Arbeiten. Das Angebot des amerikanischen Präsidenten Eisenhower, Rektor der Universität Heidelberg zu werden, lehnte von Hentig 1945 ab und kehrte 1952 auf seinen früheren Lehrstuhl in Bonn zurück. 1955: Emeritierung. 1964: Verleihung der Beccaria Medaille der Deutschen Kriminologischen Gesellschaft. 1968: Verleihung des Großen Verdienstkreuzes der Bundesrepublik Deutschland.
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== Literatur über Hans von Hentig ==
== Literatur über Hans von Hentig ==
*David von Mayenburg, '' Kriminologie und Strafrecht zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus: Hans von Hentig (1887 - 1974)'', Baden-Baden 2006.
*David von Mayenburg, Kriminologie und Strafrecht zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus: Hans von Hentig (1887 - 1974), Baden-Baden 2006.
*In Memoriam Hans von Hentig. Reden gehalten anlässlich der Gedenkfeier der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn am 15. Januar 1975 von Klaus Schlaich, Karl Engisch, Hilde Kaufmann. Köln, Bonn: Heymanns 1976: 27-37.
*In Memoriam Hans von Hentig. Reden gehalten anlässlich der Gedenkfeier der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn am 15. Januar 1975 von Klaus Schlaich, Karl Engisch, Hilde Kaufmann. Köln, Bonn: Heymanns 1976: 27-37.
*Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Band 2 (Teil A-K), München, New York, London, Paris 1983: 492-493.
*Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Band 2 (Teil A-K), München, New York, London, Paris 1983: 492-493.
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== Weblinks ==
== Weblinks ==
*Institut für Zeitgeschichte [[http://www.ifz-muenchen.de/archiv/ed_0356.pdf]]
*Institut für Zeitgeschichte [[http://www.ifz-muenchen.de/archiv/ed_0356.pdf]]
*Besprechung von David von Mayenburgs Buch durch Andreas Fahrmeir: [[http://www.sehepunkte.de/2008/05/13221.html]]
[[Kategorie:Kriminologe]]
[[Kategorie:Kriminologe]]
[[Kategorie:Mann]]
[[Kategorie:Mann]]
[[Kategorie:Jurist]]
[[Kategorie:Jurist]]
[[Kategorie:Deutscher]]
[[Kategorie:Deutscher]]

Version vom 14. Dezember 2009, 12:38 Uhr

Hans von Hentig (* 9.06.1887 Berlin - † 6.07. 1974 Bad Tölz) war ein deutscher Kriminologe und Mitbegründer der Viktimologie. Er war "ein impulsiver Abenteurer mit wenig Respekt vor Autorität. Und er war ein extrem schreibfreudiger Wissenschaftler, der zu den Begründern einer modernen, durch die Verbindung juristischer und medizinisch-psychologischer Kenntnisse und Zugänge bestimmten Kriminologie gehörte" (Fahrmeir 2008).


Geldnöte und Karrierewünsche trieben Hentig seit 1927 zurück in die Wissenschaft: Lehraufträge und Habilitation zum Thema "Wiederaufnahmerecht" führten 1931 zur Berufung auf einen Lehrstuhl in Kiel, 1934 in Bonn. Ein Jahr später holte ihn seine linke Vergangenheit ein: Gemäß den Bestimmungen des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" wurde Hentig in den Ruhestand versetzt. Obgleich er einer der deutschen Wissenschaftler war, die sich nach 1919 intensiv für die Wiederaufnahme internationaler Kontakte eingesetzt hatten, bedeutete die Emigration in die USA (mit der diese Biographie endet) eine Zäsur in seiner Publikationstätigkeit. 1951 kehrte er auf einen "Wiedergutmachungslehrstuhl" nach Bonn zurück, ohne jedoch seine zentrale Rolle wiederzuerlangen.

Diese farbenprächtige Biographie spielt in David von Mayenburgs hervorragender Studie allerdings bisweilen nur eine Nebenrolle. Ziel der Untersuchung ist nichts weniger, als die Entwicklung der Kriminologie als Wissenschaft zwischen Strafrecht und Psychologie in Deutschland zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus im Detail zu rekonstruieren. Dabei geht es Mayenburg vor allem darum, die bisherigen verdienstvollen Forschungen zur Entwicklung der Vorstellungen von Verbrechern, Strafvollzug, Eugenik und staatlicher Strafpolitik um die (rechts-)wissenschaftliche Binnenperspektive zu erweitern. Hans von Hentig ist in diesem Zusammenhang interessant, weil er sowohl ideologisch (er war ein eher internationalistisch eingestellter, linker Intellektueller) als auch inhaltlich (er war Gegner der Todesstrafe, eugenischer Verfahren, des Antisemitismus und Sonderbestimmungen gegen Zigeuner und Arbeitsscheue) nicht in das Bild passt, das eine geradlinige Entwicklung der Kriminologie vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus suggeriert. Dennoch teilte Hentig nicht nur die Karrierewege der 'rechten', bald für Programme der 'Ausmerzung' plädierenden Kriminologen, sondern auch viele ihrer methodischen Prämissen.

Mayenburgs sorgfältige Analyse, die ein enorm breites, auf profunder Sachkenntnis und akribischer Recherche basierendes Bild der Entwicklung von Strafrechtslehre, Kriminologie, Kriminalpsychiatrie, Strafvollzug und wichtigen Forschungsprogrammen zeichnet, kann hier nicht im Detail resümiert werden. Es ist allenfalls möglich, auf grobe Linien hinzuweisen. Hentigs wissenschaftlicher Werdegang erfolgte in einer Zeit, in der (natur-)wissenschaftliche Versuche der Klassifikation von Verbrechertypen drohten, Strafrecht und Strafprozeßrecht obsolet werden zu lassen. Die professionelle Konkurrenz zwischen Juristen und Medizinern verband sich dabei mit einer von Hentig geteilten Suche nach Verwissenschaftlichung und Differenzierung des als zu schematisch empfundenen Strafrechts, die einer Medikalisierung der Sprache der Kriminologie Vorschub leistete. Diese Medikalisierung entwickelte sich in Hentigs Aufsätzen oft von der Metapher zur methodischen wie inhaltlichen Prämisse, der aber eine wissenschaftliche Basis fehlte.

Ähnliches galt für die statistischen Grundlagen kriminologischer Erkenntnisse. Einerseits war Hentig ein sorgfältiger Interpret des vorhandenen Datenmaterials - und seiner Unzulänglichkeiten. Andererseits teilte er unreflektiert bestimmte Annahmen (wie der Existenz von Rassen) und operierte ungehemmt mit vermeintlich gesicherten, oft eher zufällig aneinandergereihten qualitativen historischen Beispielen. Besonders in seinen Äußerungen zu Frauen (denen Hentig beispielsweise die Fähigkeit, Geschworene zu sein, absprach) dominierten in ihren Wurzeln leider nicht zu ermittelnde Vorurteile, die gar keiner Verifikation mehr unterzogen wurden. Insofern leistete Hentig methodisch und sprachlich vielem von dem Vorschub, was er im Ergebnis - als sich nach 1933 die "Ausmerzungskriminologie" Bahn brach - heftig zurückwies.

Bleibt das Problem, warum Prämissen von Wissenschaftlichkeit im Bereich der sich entwickelnden Kriminologie - trotz vereinzelter Kritik der Kollegen an methodischen Kurz-, Zirkel- und Fehlschlüssen - offenbar versagt haben. Mayenburg widmet sich dieser Frage eher indirekt. Zentral erscheinen aber die enge Verbindung zwischen wissenschaftlicher Forschung und politischer Agitation, welche viele Phasen des im Entstehen begriffenen kriminologischen Diskurses prägte, sowie die Ausbildung personeller Netzwerke, welche über Berufungen entschieden - wobei vor allem die geringe Zahl der ausgewiesenen Experten dafür sorgte, dass eine eher unkonventionelle Gestalt wie Hentig Karriere machen konnte. Mayenburgs spannend zu lesende Wissenschaftsgeschichte hat viele unschätzbare Verdienste. Sie widerlegt vor allem die Annahme, es habe eine gute 'linke' und eine schlechte 'rechte' Kriminologie gegeben; stattdessen lenkt sie den Blick auf allgemeine methodische Probleme des Faches, die viele aktuelle Fragen immer noch begleitet. Das äußerlich schlicht präsentierte Buch, das eine neue Reihe eröffnet, sollte daher Pflichtlektüre für alle sein, die sich für die Geschichte - und auch die Gegenwart - der intellektuellen Ursprünge von Methoden der Verbrechensbekämpfung und Verbrecherbestrafung interessieren.

Leben

  • Eltern: Vater: Otto (von) Hentig. Rechtsanwalt in Berlin. Spezialist für Wirtschaftsrecht. Zu seinen Mandanten gehörten Politiker und Militärs (Bismarck, v. Moltke) und Wirtschaftsführer (W. v. Siemens, Brüder Mannesmann) und der Erfinder Thomas A. Edison. 1893: Verwalter der Güter Karl Egon IV. zu Fürstenberg. 1900: zum Staatsminister des Herzogtums Sachsen Coburg und Gotha. 1901 führte letztere Tätigkeit zur Nobilitierung. Mutter: Marie, geb. Dankberg. Hans hatte fünf Geschwister.
  • Ehe: mit Freddy, geb. Fehr († 1988).
  • Ausbildung: Nach militärischer Ausbildung als "Königsjäger zu Pferde" in Posen (1906/07) Jurastudium in Paris (bei Garcon), Berlin (bei Franz v. Liszt) und München (bei Amira; Promotion trotz zweimal nicht bestandenen Staatsexamens bei Karl Birkmeyer, 1912). Abbruch des Medizinstudiums mit Beginn des Ersten Weltkriegs.
  • Krieg: Westfront; Wechsel von der Kavallerie zur Infanterie; Versetzungen nach Bulgarien, in die Somme-Schlacht, nach Istanbul, Aleppo, Damaskus, zurück an die Westfront. Im Dezember 1918 Ankunft (fast an der Spitze der Truppen) in Berlin. Literarische Verarbeitung des Krieges ("Mein Krieg"; 1919).

Umorientierung zum Nationalbolschewismus: "Das Deutsche Manifest" (1921). Im September und Oktober 1923 plant er in Sachsen und Thüringen kommunistische Aufstände und spricht sich inmitten einer zaghafter werdenden KPD am 21. und 22.10.1923 für ein "Losschlagen" aus (v. Mayenburg 2006: 287). 1923 Vorbereitung eines kommunistischen Aufstands. 1925 wird Hentigs Rolle der Justiz bekannt; er flieht nach England, Frankreich, Italien und Rußland, wo er das Angebot, einen hohen Posten im sowjetischen Eisenbahnwesen einzunehmen, ausschlägt. Zum Jahresende 1925 ist er wieder in Deutschland. 1926 Amnestie.

Von 1926-33 redigiert er mit Gustav Aschaffenburg die "Monatsschrift" (""MschKrim""). Nach seiner Habilitation (Gießen, 1929) erhält Hans von Hentig einen Ruf als Ordinarius nach Kiel (Dekan 1932/33), wo er wegen seiner politischen Vergangenheit (und seiner Gegnerschaft zur Todesstrafe usw.) 1934 seiner Professur enthoben wird. Nachdem er einer Berufung nach Bonn folgte, ereilte ihn dort am 1. September 1935 per Eilbrief seine Pensionierung.

Emigration in die USA und kriminologische und viktimologische Arbeiten. Das Angebot des amerikanischen Präsidenten Eisenhower, Rektor der Universität Heidelberg zu werden, lehnte von Hentig 1945 ab und kehrte 1952 auf seinen früheren Lehrstuhl in Bonn zurück. 1955: Emeritierung. 1964: Verleihung der Beccaria Medaille der Deutschen Kriminologischen Gesellschaft. 1968: Verleihung des Großen Verdienstkreuzes der Bundesrepublik Deutschland.

NS-Zeit und Bundesrepublik

1935 Emigration in die USA. Er lehrt in Yale; Tätigkeit beim Generalstaatsanwalt in Washington, dann Professor in Puerto Rico, in Berkeley, in Boulder (dort auch Dirketor des Colorado Crime Survey), Iowa, Kansas City. - Nach Kriegsende schlägt er ein Angebot von Präsident Eisenhower, Rektor der Universität Heidelberg zu werden, aus. 1951 Rückkehr auf seinen Lehrstuhl nach Bonn, dort 1955 Emeritierung. Von 1955 bis 1974 lebte er in Bad Tölz.

Werk

  • 1914: "Strafrecht und Auslese", Berlin.
  • 1929: Habilitation in Gießen, Rufannahme Kiel.
  • 1934: Ruf nach Köln, 1935: Vorzeitiger Ruhestand unter Berufung auf das Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in den vorzeitigen Ruhestand.
  • 1935: Emigration in die USA. Lehre an verschiedenen Universitäten.
  • Kriminologisch-viktimologische Werke.
  • Aktivitäten in Exilgruppierungen

Publikationen von Hans von Hentig

  • The Criminal and His Victim. Studies in the Sociobiology of Crime (1948). (Dieses Buch gilt als Grundsteinlegung der Viktimologie.)
  • Crime. Causes and Conditions (1947)
  • Zur Psychologie der Einzeldelikte (4 Bände, 1954/56/57/59)
  • Das Verbrechen (3 Bände, 1961/62/63)

Außerdem u.a.:

  • Fouché (1919)
  • Robespierre (1924)
  • Die Kriminalität der lesbischen Frau (1959, 2. Aufl. 1965)
  • Die Kriminalität des homophilen Mannes (1960, 2. Aufl. 1966)
  • Soziologie der zoophilen Neigung (1962)
  • Der nekrotrope Mensch. Vom Totenglauben zur morbiden Totennähe (1964)
  • Vom Ursprung der Henkersmahlzeit (1958)
  • Der Friedensschluss. Geist und Technik einer verlorenen Kunst (1952, 1965)
  • Terror - Zur Psychologie der Machtergreifung (1970)
  • Beiträge zur Verbrechenskunde (1972)

Ehrungen

  • Beccaria-Medaille
  • Großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland.

Literatur über Hans von Hentig

  • David von Mayenburg, Kriminologie und Strafrecht zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus: Hans von Hentig (1887 - 1974), Baden-Baden 2006.
  • In Memoriam Hans von Hentig. Reden gehalten anlässlich der Gedenkfeier der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn am 15. Januar 1975 von Klaus Schlaich, Karl Engisch, Hilde Kaufmann. Köln, Bonn: Heymanns 1976: 27-37.
  • Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Band 2 (Teil A-K), München, New York, London, Paris 1983: 492-493.


Weblinks

  • Institut für Zeitgeschichte [[1]]
  • Besprechung von David von Mayenburgs Buch durch Andreas Fahrmeir: [[2]]