Behandlung im Strafkontext: Unterschied zwischen den Versionen

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'''Behandlung im Strafkontext''' umfasst die [[Behandlung]] im geschlossenen Strafvollzug, in der Sozialtherapie, im halboffenen und offenen Strafvollzug, im Maßregelvollzug in einer psychiatrischen oder Entziehungsanstalt ebenso wie in dem anderen Maßregelvollzug der Sicherungsverwahrung. Sie umfasst darüber hinaus die Behandlung während einer Strafaussetzung zur Bewährung und während einer Zurückstellung der Strafvollstreckung nach dem Betäubungsmittelgesetz. Gemeint sind also alle Behandlungen während der Strafe, aber auch solche, die zustande kommen, weil eine Person das Risiko strafrechtlicher Sanktionierungsprozesse (von der Eröffnung des Hauptverfahrens bis zum Widerruf der Bewährung) minimieren möchte. Behandlung im Strafkontext umfasst also die Behandlung im Strafvollzug, aber auch diejenige zur Abwendung eines Gefängnisaufenthalts ("Therapie statt Strafe"). Sie umfasst auch die Behandlung im Rahmen einer strafjustiziell angeordneten Freiheitsentziehung anderer Art (Entziehungsanstalt, Psychiatrisches Krankenhaus im Rahmen der einschlägigen Vorschriften des Strafgesetzbuchs). In diese Behandlungen sind keineswegs ausschließlich, aber doch hauptsächlich Psychologinnen und Psychologen involviert.
'''Behandlung im Strafkontext''' umfasst die [[Behandlung]] im geschlossenen Strafvollzug, in der Sozialtherapie, im halboffenen und offenen Strafvollzug, im Maßregelvollzug in einer psychiatrischen oder Entziehungsanstalt ebenso wie in dem anderen Maßregelvollzug der Sicherungsverwahrung. Sie umfasst darüber hinaus die Behandlung während einer Strafaussetzung zur Bewährung und während einer Zurückstellung der Strafvollstreckung nach dem Betäubungsmittelgesetz. Gemeint sind also alle Behandlungen während der Strafe, aber auch solche, die zustande kommen, weil eine Person das Risiko strafrechtlicher Sanktionierungsprozesse (von der Eröffnung des Hauptverfahrens bis zum Widerruf der Bewährung) minimieren möchte. Behandlung im Strafkontext umfasst also die Behandlung im Strafvollzug, aber auch diejenige zur Abwendung eines Gefängnisaufenthalts ("[[Therapie statt Strafe]]"). Sie umfasst auch die Behandlung im Rahmen einer strafjustiziell angeordneten Freiheitsentziehung anderer Art (Entziehungsanstalt, Psychiatrisches Krankenhaus im Rahmen der einschlägigen Vorschriften des Strafgesetzbuchs). In diese Behandlungen sind keineswegs ausschließlich, aber doch hauptsächlich Psychologinnen und Psychologen involviert.


siehe auch: [[Behandlung im Strafkontext: Funktion der Strafe]]
siehe auch: [[Behandlung im Strafkontext: Funktion der Strafe]]

Version vom 11. Januar 2013, 12:10 Uhr

Behandlung im Strafkontext umfasst die Behandlung im geschlossenen Strafvollzug, in der Sozialtherapie, im halboffenen und offenen Strafvollzug, im Maßregelvollzug in einer psychiatrischen oder Entziehungsanstalt ebenso wie in dem anderen Maßregelvollzug der Sicherungsverwahrung. Sie umfasst darüber hinaus die Behandlung während einer Strafaussetzung zur Bewährung und während einer Zurückstellung der Strafvollstreckung nach dem Betäubungsmittelgesetz. Gemeint sind also alle Behandlungen während der Strafe, aber auch solche, die zustande kommen, weil eine Person das Risiko strafrechtlicher Sanktionierungsprozesse (von der Eröffnung des Hauptverfahrens bis zum Widerruf der Bewährung) minimieren möchte. Behandlung im Strafkontext umfasst also die Behandlung im Strafvollzug, aber auch diejenige zur Abwendung eines Gefängnisaufenthalts ("Therapie statt Strafe"). Sie umfasst auch die Behandlung im Rahmen einer strafjustiziell angeordneten Freiheitsentziehung anderer Art (Entziehungsanstalt, Psychiatrisches Krankenhaus im Rahmen der einschlägigen Vorschriften des Strafgesetzbuchs). In diese Behandlungen sind keineswegs ausschließlich, aber doch hauptsächlich Psychologinnen und Psychologen involviert.

siehe auch: Behandlung im Strafkontext: Funktion der Strafe


In aller Regel dient die Behandlung dem Resozialisierungsziel der Strafe, also der Befähigung des Klienten, fürderhin ein Leben ohne Straftaten zu führen oder jedenfalls nicht wieder strafrechtlich in Erscheinung zu treten. Das Ziel mag im wohlverstandenen Interesse des Klienten liegen. Aber sicher ist nicht. Und jedenfalls ist das Ziel der Behandlung nicht aus dem Lebenskontext des Klienten selbst entwickelt und nicht von ihm selbst definiert. Das unterscheidet die Behandlung im Strafkontext erheblich von einer Behandlung außerhalb dieses Kontextes.

Behandlung im Strafkontext ist insofern ein Paradox, als Behandlung normalerweise eine Heilbehandlung ist: es geht darum, den Zustand einer Person zu verbessern; bei der Strafe hingegen geht es darum, jemandem absichtlich ein Übel zuzufügen, also seinen Zustand zu verschlechtern. Mit "Behandlung im Strafkontext" ist dieser Zusammenhang gemeint: wie verändert sich Behandlung, wenn sie im Rahmen einer absichtlichen und systematisch organisierten Übels-Zufügung erfolgt? Wie kann man den Zustand einer Person signifikant verbessern in einem Umfeld, das in erster Linie dazu da ist, den Zustand derselben Person signifikant zu verschlechtern? Oder, anders ausgedrückt: welche Folgen hat es, dass die Verbesserung und die Verschlechterung des Zustands einer Person miteinander konkurrieren?

Wer in diesem paradoxen sozialen Raum operiert, der durch die Gleichzeitigkeit von Punitivität und Behandlungsabsicht gekennzeichnet ist, tut gut daran, sich mit den Eigenschaften dieses besonderen Handlungsraums vertraut zu machen, ihn zu erkunden, die möglichen Konflikte zu antizipieren und dann nach Möglichkeit die gegensätzlichen Imperative, die hier wirken, so miteinander zu verweben, dass letztlich der bestmögliche Behandlungserfolg bei geringstmöglichem Schaden für sich selbst herauskommt.

Vergangenheit

Früher war vieles einfacher. Zum Beispiel gab es viele Jahrhunderte lang einen Justizvollzug, der keiner Anstalten bedurfte und auch keiner Psychologinnen und Psychologen. Der Justizvollzug war auf den Körper und nicht auf die Psyche des Verurteilten fixiert und bestand im wesentlichen aus dem An- und Abschneiden von Gliedmaßen und einer gewissen Bandbreite verschiedener Todesstrafen. Wo es darum geht, Kindsmörderinnen, Homosexuelle, Diebe, Räuber und Mörder zu „straffen biss ann das blut“, bzw. zu „straffen, so an das blut gandt und das läben kostendt“, da ist kein Raum für die Komplikationen der Behandlung im Strafkontext, da wird gestraft und damit Punkt.

Insofern stellte die Geburt des modernen Zellengefängnisses vor rund 200 Jahren den Ausgangspunkt der heutigen Probleme dar. Vom 1796 eröffneten Zellengefängnis der pennsylvanischen Quäker und von Heinrich Balthasar Wagnitz, Nikolaus Heinrich Julius und Johann Hinrich Wichern über den Stufenstrafvollzug nach dem irischen Progressivsystem und die Anfänge fachlich-psychologischer Diagnose- und Behandlungsmethoden bis hin zur Sozialtherapie zieht sich als roter Faden die leere Zeit des Verurteilten, die es mit sinnvollen Tätigkeiten zu füllen galt. Mit Bibelstudium, mit Einkehr, Buße, Sühne, mit nützlicher Arbeit, um die Kosten der Haft zumindest zum Teil wieder hereinzubekommen und/oder eben mit einer Besserungsbehandlung, die dazu führen sollte, der Gesellschaft den Missetäter in einem deutlich gehobenen Zustand wieder zurück zu erstatten.

Es gab in der Vergangenheit zwei heroische und optimistische Epochen, zwei Hoch-Zeiten des Besserungsgedankens im Strafkontext: die eine von ca. 1830 bis 1860, die andere ca. 1955 bis 1975. Damals schien es jedes Mal nur eine Frage der Zeit, bis man die richtigen baulichen Voraussetzungen und die richtigen Personalqualifikationen und -schlüssel erreicht hätte. Heute ist dieser Optimismus verflogen. Heroisch sind allerdings nach wie vor die Leistungen derjenigen, die im Strafkontext behandeln. Ihr Engagement ist um so höher zu schätzen, als es heute in dem Bewußtsein erfolgt, seine Arbeit in einem strukturell widersprüchlichen und durch immer mehr Verwaltung und Sicherungserfordernisse immer weiter erschwerten Feld zu leisten.

Gegenwart: engagierter Realismus

Die Gegenwart ist sich des inhärent problematischen Charakters der Behandlung im Strafkontext bewusst: man ist realistisch und zugleich engagiert. Damit ist gemeint, dass man heute, anders als zu Zeiten der Quäker, erkannt hat, dass Strafe und Behandlung in einem alles andere als widerspruchsfreien Verhältnis zueinander standen. Heute weiß man: die Freiheitsstrafe ist "ein zur Ahndung der schuldhaften Straftat dem Verurteilten auferlegtes Strafübel, eine Rechtseinbuße. Jede Verschleierung dieses Sachverhalts ist schädlich und erschwert die Durchführung der 'Aufgaben des Vollzugs', ganz besonders die Erreichung des Vollzugsziels (der Resozialisierung). Dem Verurteilten können die ihn durch den Vollzug der Freiheitsstrafe treffenden Beschränkungen und Belastungen niemals allein (oder auch nur überwiegend) aus den Aufgaben des Strafvollzugs und schon gar nicht aus dem Vollzugsziel (der Resozialisierung) erklärt werden. Wird ihm der wahre Hintergrund seines Strafleidens verschwiegen oder zerredet, so fühlt er sich letzten Endes betrogen oder für dumm verkauft" (Böhm in: Schwind u.a. 2009: 59).Der engagierte Realismus geht von zwei Prämissen aus. Erstens gibt es kein Zurück zum behandlungslosen Strafen der Vormoderne, und zweitens ist es keine realistische Option, auf eine bessere Zukunft des straflosen Behandelns zu warten, also auf eine Zeit, in der die Gesellschaft sich - mit Nietzsche (Genealogie der Moral, 2. Abh. Nr. 10) - "den vornehmsten Luxus gönnen dürfte, den es für sie giebt, - ihren Schädiger straflos zu lassen." Man wird also weiter mit dem Strafrecht und mit der Strafe und dem Strafvollzug zu leben haben, man wird sich mit der Realität arrangieren müssen, und gleichzeitig wird man die Versuche nicht sein lassen dürfen, innerhalb des restritkiven und problematischen Kontextes denen, um die es konkret geht, so gut wie möglch zu behandeln.

Früher galten Gefängnisse als optimale Einrichtungen zur Besserung von Straftätern. Heute weiß man: "Gefängnisse sind keine behandlungsfreundlichen Einrichtungen. Die Strafe ist nicht an den Erfordernissen einer Therapie ausgerichtet, sondern ihre Grundlage ist eine begangene Rechtsverletzung und das Maß der Schuld des Täters. In den meisten Fällen entspricht die gerichtlich angeordnete Strafdauer nicht dem optimalen Maß aus behandlerischer Sicht: Sie kann zu kurz sein, um die intendierte Wirkung eintreten zu lassen oder so lang, dass der aus therapeutischer Sicht günstigste Zeitpunkt der Entlassung längst überschritten ist" (Pecher 2011:30). Sich von Illusionen verabschiedet zu haben und trotzdem im Strafkontext sich um die Behandlung von Straftätern zu bemühen, das kann man eine Haltung des aufgeklärten und engagierten Realismus nennen.

Der engagierte Realismus hat keinen leichten Stand. Er muss versuchen, nicht betriebsblind zu werden. Er muss versuchen, mit bürokratischen Strukturen und uneinsichtgen Verwaltungen zurecht zu kommen, ohne frustriert die Flinte ins Korn zu werfen. Er muss sich immer wieder klar machen, dass die strukturellen Widersprüche real sind und sich in der alltäglichen Realität auch nicht wegdiskutieren oder ignorieren, sondern nur aktiv bewältigen lassen, auch wenn das viel Kraft kostet.

Die engagierten Realisten der Gegenwart leugnen den Widerspruch zwischen Behandlung und Bestrafung nicht. Im Gegenteil. Sie kennen die Einflüsse des Strafkontextes auf die Behandlung sehr genau und können sie auch präzise benennen:

  • Triade. Während die klassische Behandlung auf einem zivilrechtlichen Vertrag unter Gleichberechtigten beruht, ist die Behandlung im Strafkontext in der Form einer Dreiecksbeziehung, einer Triade, aufgebaut, und streng hierarchisch gegliedert. Der Staat ist Dienstherr des Behandlers und der Behandler behandelt nicht nur, sondern hat auch Einfluss auf die Dauer der Strafzeit. "Therapeutische Beziehungen in Zwangskontexten sind, das sollte nicht übersehen werden, in aller Regel triadischer Natur. Die eigentlichen Auftraggeber, die den Zwang verhängen, sind mit im Gespräch, ohne anwesend zu sein" (Pleyer 1996: 192).
  • Motivation. Der Klient sucht die Behandlung nicht aus eigenem inneren Leidensdruck und Veränderungswunsch, sondern willigt als Unfreier in die Behandlung ein. Vielleicht muss er sich für die Behandlung sogar bewerben. Aber die Bewerbung eines Unfreien ist etwas anderes als die Bewerbung eines Freien. Sie ist oft anders motiviert (Amelung 1983) - zum Beispiel durch die Hoffnung, dadurch schneller wieder aus der Haft entlassen zu werden. Was bei der klassischen Behandlung am Anfang steht, der innere Leidensdruck und der Wunsch sich zu verändern, kommt bei der Behandlung im Strafkontext oft erst spät, das heißt: nach Jahren, oder nie.
  • Loyalitätskonflikt. Der Behandler dient sowohl dem Klienten als auch der Anstalt und der öffentlichen Verwaltung. "Da Triaden häufig eine kurze Halbwertszeit haben und in ein Paar und einen augeschlossenen Dritten zerfallen, besteht für den Therapeuten im Gefängnis die Gefahr zweier Konstellationen, die die Therapie bedrohen: Die Überidentifikation mit dem Patienten verbunden mit feindseliger Ablehnung der Institution oder die Überidentifikation mit der Institution verbunden mit einer strafenden, abwertenden Grundhaltung gegenüber dem Patienten. Dass diese Gefahr der Spaltung bei persönlichkeitsgestörten Patienten noch durch deren innere Abwehrdynamik verstärkt wird, braucht nicht besonders ausgeführt zu werden" (Pecher 2011: 30).
  • Gedankengefängnisse der Fachdienste. Der Loyalitätskonflikt, der aus dem Zielkonflikt der Behandlung im Strafkontext stammt, führt auch zu einer Art Selbstzensur bei den Behandlern. Dass sich die in der klnischen Psychologie allgemein anerkannte Tatsache, dass Ressourcenaktivierung wesentlich den Therapieerfolg beeinflusst, im Rahmen der Straftäterbehandlung erst langsam durchsetzt (vgl. Suhling, 2007), zeigt zugleich, "wie die Rahmenbedingungen der Behandlung auf die Therapie selbst Einfluss nehmen: Die Fixierung auf Defizite drängt sich bei Straffälligen geradezu auf. Oft wurde angemerkt, dass Gefangene nicht resozialisiert, sondern überhaupt erst sozialisiert werden müssen. Ressourcen wurden ihnen also weitgehend abgesprochen. Ähnliches gilt für die Anerkennung der Wichtigkeit des Wirkfaktors therapeutische Beziehungsgestaltung. Um die Gefahr der Ausnützung und Manipulation zu begrenzen, erscheint es auf den ersten Blick tunlicher, sich allein an klaren Vorgaben zu orientieren, übersieht aber dabei, dass die Therapiebeziehung als zentrales Agens auch und gerade bei Persönlichkeitsgestörten genutzt werden muss" (Pecher 2011: 30 f.; Pecher 2004).
  • Eingebauter Verschleiß bei den Fachdiensten im Strafkontext. Der Staat ist sowohl die Quelle der Bestrafung als auch der Behandlung und generiert schon dadurch innerhalb der Anstalten, in denen behandelt wird, die bekannten Zielkonflikte, die dauernden Reibungen, Frustrationen, Missverständisse und Krankheitsbilder, die in erschreckender Regelmäßigkeit die Bandscheibe, den Kopf, den Pillenkonsum, die Depression und die verschiedenen Burn-Out-Symptome umfassen. Es gibt eben nicht nur eine Art Budget des Verbrechens, das dazu führt, dass in jedem Jahr immer wieder eine ähnliche Anzahl der jeweiligen Delikte begangen wird, sondern auch eine Art Budget des Leidens bei den Fachdiensten im Strafvollzug, das dafür sorgt, dass in jedem Jahr immer wieder eine ähnliche Anzhal von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht nur zu Fortbildungsveranstaltungen gehen, sondern auch zum Arzt, zur Kur und in den vorzeitigen Ruhestand - oder aber in die innere Emigration.


Veränderungswille

  • Unsichtbarkeitsregime. Dieses Leiden wird normalerweise nicht in Festvorträgen erwähnt. Es gilt als Ausweis unzulänglicher Belastbarkeit, als individuelle Schwäche oder Deformation. Man kann und solle es aber einmal systemisch zu deuten versuchen: als Ausdruck eingebauten Verschleißes in einem paradoxen Setting, das sowohl starre Regeln und institutionalisiertes Misstrauen benötigt als auch flexiblen Umgang und immer wieder auch kontrafaktisches Vertrauen, das aus Sicherheits- und Verwaltungsgründen wie ein stählernes Gehäuse organisiert sein muss und aus behandlerischen Gründen wie eine offene Wohngemeinschaft mit möglichst vielen Gästen von außerhalb funktionieren müßte. An der Pforte muss sich der Gefangene unterwerfen, in der Wohngruppe darf er auf Verständnis und Vergebung hoffen. Die Pforte will und muss Alarm schlagen und die Fahndung auslösen, wenn ein Gefangener nicht rechtzeitig von seinem Ausgang zurückkehrt - mit allen Folgen, die das für die ersten tastenden Behandlungsschritte haben kann. Die Behandlung würde vielleicht eher die Nutzung informeller Wege zur Aufenthalts- und Situationermittlung erfordern, um einen Rückschritt in der Erprobung des Klienten zu verhindern. Und so stören sich der Behandlungs- und der Bestrafungskontext auf tausenderlei Arten zu x-tausend Gelegenheiten immer wieder. Die Bestrafung stört die Behandlung und die Behandlung stört die Bestrafung. So ist das nun einmal.
  • Therapiefassaden. "Da die Institution Gefängnis weder von Haus aus therapieförderlich ist und zudem eine nicht unerhebliche Sogwirkung bis tief in den therapeutischen Prozess hinein entfaltet, ist Behandlung im Strafvollzug meist nur nach organisatorischen Veränderungen möglich und sinnvoll. (...) Gratz (2002, S. 199) stellt dazu fest: 'Jedenfalls ist festzuhalten, dass die bloße Aufpfropfung akademischer Fachkräfte und sonstiger Spezialisten auf traditionelle Gefängnisstrukturen einen untauglichen Versuch, somit lediglich eine Alibihandlung darstellt. Konsequente Behandlungsbemühungen erfordern vielmehr einschneidende strukturelle Veränderungen, die zwingend in Widerspruch zu den bestehenden gesellschaftlichen Vorstellungen über den Umgang mit Delinquenten geraten'" (Pecher 2011: 30f.).
  • Schlechte Modelle. Die Behandler müssen mit mit einem Widerspruch umgehen, der sie zu Euphemismen und Neutralisationstechniken verführt. Das bleibt den Klienten nicht verborgen. So können sie lernen, sich in den Widersprüchen der Realität an diesen Modellen zu orientieren. Behandlung im Strafkontext bedeutet: jemandem etwas Gutes und Schlechtes zugleich antun wollen. In der Gleichzeitigkeit von Förderung und Schädigung liegt ein Widerspruch. Denn absichtliche Hilfe im Kontext einer absichtlichen Schädigung scheint fast schon den Regeln der formalen Logik zu widersprechen. - Dennoch mangelt es nicht an Versuchen, diesen Widerspruch aufzulösen. Ein häufiger Weg ist der semantische. Man kann die Strafe als eine Wohltat definieren, die im wohlverstandenen Eigeninteresse des Betroffenen liegt; dann ist sie kein Übel und dann ist Behandlung im Strafkontext nichts anderes als die Gewährung einer weiteren Wohltat im Kontext wohltätiger Fürsorge. Semantische Auflösungsversuche führen in der Regel zu Sekundärproblemen. Wenn man z.B. den Übelaspekt der Strafe sprachlich zum Verschwinden bringt (vielleicht, weil man überzeugt ist, dass man das Übel nur zufügt, um der Person letztlich zu helfen, also Gutes zu tun), dann ist das ungefähr so wie mit dem Hundehalter. Wenn der sich - aus welchem Grund auch immer - entschließt, nicht nur die vier Beine seines Haustiers als Beine zu bezeichnen, sondern auch dessen Schwanz, dann hat der Hund deswegen noch lange nicht fünf, sondern immer noch vier Beine. Nur weil man einen Schwanz ein Bein nennt, wird er dadurch noch lange nicht zum Bein. ("If you call a tail a leg, how many legs has a dog? Five? No, calling a tail a leg don't make it a leg." - "Wie viele Beine hat ein Hund, wenn man den Schwanz auch als "Bein" bezeichnet? - Fünf? Nein. Die richtige Antwort lautet vier. Nur weil man einen Schwanz ein Bein nennt, wird er dadurch noch lange nicht zum Bein. - Abraham Lincoln.) Und wenn man eine Strafe als tolles Geschenk bezeichnet, wird es dadurch noch lange nicht zu einem begehrenswerten Gut. - Weitere Lösungsversuche sind zeitlicher (mit dem Strafurteil un der Festlegung der unfreien Zeit endet die Zufügung eines Übels; alles was dann kommt, dient der Vorbereitung der Wiedereingliederung), aktorialer (Juristen sprechen das Urteil und entscheiden über die Zufügung des Übels, Psychologinnen retten in dem Zusammenhang dann, was zu retten ist) oder finalistischer Art (Strafe und Behandlung dienen letztlich demselben Zweck, nämlich der Sicherheit der Gesellschaft).
  • Therapie als Strafe.- Man hat sich damit abgefunden, dass die Institution der Strafe für eine moderne Gesellschaft ein notwendiges Übel ist, auf das man jedenfalls bei schwerer Kriminalität nicht verzichten kann, ohne die Grundlagen der Gesellschaft zu gefährden - und dass andererseits das Vorhalten von Behandlungsangeboten für die Verurteilten ein Gebot nicht nur der Menschlichkeit und des Sozialstaats, sondern auch der wohlverstandenen Sicherheitsinteressen der Gesellschaft darstellt.

Der engagierte Realismus weiß, dass es keinen Sinn hat, den herkömmlichen Strukturen nur einfach Behandlungsprogramme aufzupfropfen, sondern dass es Zielkonflikte institutioneller Art gibt, die Dauerstress, Dauerverschleiß und bei höchstem Einsatz der Behandler und enormem Finanzaufwand der öffentlichen Haushalte eine letztlich nur begrenzte Wirksamkeit der Intervention zulassen. Sie wissen, dass es mit piecemeal technology nicht getan ist, sondern dass etwas Grundsätzliches geschehen muss. Aber er weiß nicht, wie das gehen soll. Denn die Pforten in eine bessere Zukunft scheinen fest verschlossen.

Zukunft

In der Vergangenheit hatten wir nur die Bestrafung, keine Behandlung. In der Gegenwart haben wir die Bestrafung in milderer Form, gepaart mit der Behandlung im Strafkontext. In der Zukunft könnte man zwar theoretisch zur reinen Bestrafung ohne Behandlung zurückkehren, doch das lassen wir einmal außen vor. Man könnte auch ewig so weitermachen wie bisher. Doch das ist unwahrscheinlich. Denn nichts ist sicherer als der Wandel.

In der Zukunft könnte sich die Behandlung vom Strafkontext emanzipieren. Wie soll das gehen? Nun, das geht in dem Moment, in dem man nicht mehr achselzuckend sagt, freilich ohne es genau zu wissen, dass Strafe eben sein muss, sondern die Funktionen der Strafe durch funktionale Äquivalente ersetzt.

Die widersprüchliche Konfiguration "Behandlung im Strafkontext" gilt heute allgemein trotz der nicht zu leugnenden Belastungen und negativen Folgen als ausgesprochen stabile Institution. Als eine zivilistorische Errungenschaft, die trotz oder wegen ihrer Ambivalenz auszuhalten und gegen prinzipielle Veränderungsversuche zu verteidigen ist. Sie ist zudem gesetzlich abgesichert, sie ist ein Wachstumssektor und sie bietet viele und relativ sichere Arbeitsplätze. Die aktuelle Stärke der Konfiguration beruht auf mehreren Elementen.

  • Erstens ist Behandlung im Strafkontext ein zivilisatorischer Fortschritt und der Verzicht darauf wäre heute eine Verletzung von Grund- und Menschenrechten.
  • Zweitens macht es aber nicht nur keinen Sinn, sich in eine Welt der Bestrafungen ohne jede Behandlungsmöglichkeit zurückversetzen zu wollen. Sondern - und das ist wohl der entscheidende Pfeiler, auf dem die Stärke des Straf-und-Behandlungs-Komplexes beruht - es gilt auch als aussichtslos, die sich in eine Welt der Behandlung von Straftätern ganz ohne deren Bestrafung, also in eine straffreie Utopie, vorbewegen zu wollen. Das gilt heute als Hirngespinst, als eine nur vermeintlich menschenfreundliche Vision, die in der Realität aber dazu führen würde, dass jedes gedeihliche Zusammenleben in Freiheit, Sicherheit und Würde unmöglich würde. Schmidhäuser (1963, 2. Aufl. 1971) meinte, die Strafe sei weder als vergeltende Gerechtigkeit per se noch aus spezialpräventiven Nutzenerwägungen allein zu rechtfertigen. Sie sei häufig genug sogar sinnlos im Verhältnis zum Täter. Aber sie sei notwendig, um zu verhindern, „daß sich das Verbrechen offen in der Gemeinschaft behauptet“ (= Generalprävention). Anders gesagt: Es gibt nun einmal Menschen auf dieser Erde, "die dafür zu sorgen haben, daß ihnen dieses Dasein einigermaßen erträglich sei. Dann ist das Strafen notwendig, um die Friedensordnung zu ermöglichen und zu erhalten, und es ist das Strafrecht notwendig, um die strafende Gewalt in vernünftige Bahnen zu lenken“ (Über Strafe und Generalprävention, in: Festschrift für Ernst Amadeus Wolff 1998). „Die gedeihliche Existenz jedes staatlichen Gemeinwesens hängt davon ab, daß sich eine Mindestordnung des Zusammenlebens gegen den Egoismus jedes einzelnen notfalls mit Gewalt durchsetzt" (Strafrecht, Allgemeiner Teil, Lehrbuch, 2. Aufl., Tübingen 1975, Rn. 3/4).
  • Drittens beruht die Stärke der Konfiguration auf dem Glauben an ihre Unabänderlichkeit, Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit. Die negativen Folgen der Konflikte gelten als notwendige Übel. Es ist nun einmal so. ... (Amerikan. Pilgergebet,- Friedrich Christoph Oetinger (1702 - 1782) zugeschrieben:

Gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, - gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, - und gib mir die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Das ist Psychoökonomik. Und Überlebensfähigkeit. Resilienz. Das führt aber auch dazu, dass systembedingte Leiden nicht als solche thematisiert werden und in Forderungen nach Systemreformen münden, sondern als individuelles Versagen, als mangelnde Belastungsfähigkeit usw. Rückleiden, Depressionen, Burn-Out, Persönlichkeits- und Autoritätskonflikte, Frustration. Ein soziologischer Blick auf Krankenstände, Berufszufriedenheit, Berufsunfähigkeit und psychosomatische Erkrankenungen würde die menschlichen Kosten des Systems erkennbar werden lassen. Doch solange alle glauben, dass es so, wie es ist, auch sein muss, so lange gibt es weder ein individuelles noch ein kollektives politisches Interesse an einer Erkenntnis und Thematisierung der Leiden als eines sozialen Problems. So lange gilt es nicht einmal als schicklich, sie genauer zu benennen. Dabei gibt es nicht wenige, die an ihrem Arbeitsplatz in gravierende und lang andauernde Arbeitskonflikte geraten. Diese Konflikte entwickeln sich zwischen Gleichrangigen ebenso wie zwischen Chefs und renitenten Untergebenen oder engagierten Untergebenen und renitenten Chefs. Und Chefinnen. Burn-Out-Syndrome, Depressionen und die berühmten riskanten Fluchten in Bluthochdruck, Alkohol- oder Medikamentenkonsum bis zum Anschlag sind die Folgen. Sie werden in der Regel nicht öffentlich sichtbar und schon gar nicht als soziales Problem behandelt, sondern individualisiert - als Ausdruck mangelnder Belastbarkeit und Stressresistenz eingeordnet und nicht als Ausdruck eines krankmachenden und in vielerlei Hinsicht absurden Systems. Daraus folgt nicht nur der allgemeine Glaube, dass man sich mit den Gegebenheiten eben so gut wie möglich arrangieren müsse, sondern die individualisierende Weg-Definition des Problems selbst beruht wiederum auf dem Glauben, dass man die Sache selbst - also das konflikthafte und belastende Miteinander von Strafe und Behandlung in einer stressreichen Vernunftehe oder Kohabitation - nun einmal nicht ändern könne.

  • Nietzsche
  • Schwere Fälle: Freiheitsentzug ohne Strafcharakter. Serienkiller.

Nach herrschender Meinung muss man sich keine Sorgen um seinen Arbeitsplatz machen. Denn nach herrschender Meinung kann und darf eine Gesellschaft auf Strafe nicht verzichten, weil die Strafe eine notwendige Aufgabe erfüllt und damit eine unverzichtbare Funktion, ohne die es - also das gesellschaftliche Leben in Frieden und Freiheit, wie wir es kennen - nicht ginge.

Die Versuche, dieses widersprüchliche Verhältnis auszuhalten, zu institutionalisieren und zu zementieren, sind mit hohen Kosten verbunden (menschliche Sicherheit, Sicherheitsgefühl, öffentliche Haushalte, Gesundheit der Beschäftigten wie der Klienten). Die durch die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit motivierte Suche nach einer Verbesserung der Situation stößt auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Entkopplung von Strafe und Behandlung - und damit letztlich nach der Entbehrlichkeit der Strafe. Was diese Frage angeht, so fällt erneut eine Diskrepanz auf, und zwar diesmal zwischen einem weitgespannten, selbstbewussten und selbstgefälligen Konsens darüber, dass die Strafe als Institution nicht entbehrlich sei, auf der einen Seite, und dem Mangel an ernsthaften Überlegungen zu den legitimen Funktionen der Strafe und denkbaren funktionalen Äquivalenten auf der anderen. Die Gesellschaft könnte sehr wohl auf die Strafe verzichten, aber sie will es nicht - und sie will es nicht, weil die Justiz auf die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Strafe verzichtet, weil die politischen Parteien ebenso wie die Massenmedien das Thema vermeiden und weil die Bürger selbst sich in diesem Punkt lieber wie bourgeois und nicht wie citoyens verhalten. Die Aufgabe der Kriminologie wäre es, in diesem Zusammenhang auf empirischer Grundlage der Phantasie auf die Sprünge zu helfen und die Bandbreite des Möglichen aufzufächern anstatt - wie das leider üblich ist - den Hinweisen auf die Möglichkeiten mit dem Hinweis auf die faktischen Strafgelüste und -verschärfungen zu begegnen, so als sei die Tatsächlichkeit der schlechten Realität ein Argument gegen die Faktizität des Möglichen. 1912 war es möglich (und wurde von vielen für die nächste Zukunft erwartet), in Deutschland die Todesstrafe abzuschaffen. Man muss schon Geschichtsdeterminist sein, um zu behaupten, dass alles, was in der Geschichte passiert, einer ehernen Notwendigkeit folgt und dass keine Aufklärung, keine Überzeugungsarbeit irgend etwas verändern kann. Dass solche Einwirkungen häufig aus Selbstgefälligkeit und Spießigkeit nicht stattfinden und damit Möglichkeiten verschlafen werden, steht auf einem anderen Blatt. Es wäre möglich, auf Strafe zu verzichten und die Behandlung problematischer Individuen aus den Verlegenheiten und Beschädigungen, in die sie durch den Strafkontext geraten ist und immer tiefer gerät, zu befreien. Aber das müßte gewollt werden. Und da sind gefragt: die Behandler, die Justiz, die Kriminologen und die Politischen Parteien und die Massenmedien. Und die gesamte Bevölkerung.

Literatur

  • Amelung, Knut (1983) Die Einwilligung des Unfreien. Das Problem der Freiwilligkeit bei der Einwilligung eingesperrter Personen. In: ZStW 95(1983), 1-31.
  • Gratz, W (2007) Im Bauch des Gefängnisses. Beiträge zur Theorie und Praxis des Strafvollzuges. Wien, Graz: Neuer Wissenschaftsverlag.
  • Hassemer, Winfried (1982) Resozialisierung und Rechtsstaat. Kriminologisches Journal (KrimJ) 14 Jg. Heft 3, 1982: 161-166.
  • Pecher, Willi (2004) "Therapie statt Training?" - Was können andere psychologische Ansätze? In: What Works? Neue Ansätze der Straffälligenhilfe auf dem Prüfstand. Cornel, H., Nickolai, W., Hg., Freiburg i.Br.: Lambertus, 98-121.
  • Pecher, Willi (2011) Behandlung antisozialer Persönlichkeiten in Sozialtherapeutischen Einrichtungen. KrimPäd 39, H 47: 29-36.
  • Pleyer, K.H. (1996) Schöne Dialoge in hässlichen Spielen. Überlegungen zum Zwang als Rahmen für Therapie. Zeitschrift für systemsiche Therapie 3: 186-196.
  • Schwind, H.-D., Böhm, A., Jehle, J.-M. & Laubenthal, K., Hg. (2009) Strafvollzugsgesetz - Bund und Länder. Kommentar, 5. geänderte und neu bearb. Aufl. Berlin: de Gruyter Recht.
  • Suhling, S. (2007) Positive Perspektiven in der Strafdtäterbehandlung - Warum zur Rückfallverhinderung mehr gehört als Risikomanagement. Forum Strafvollzug 56: 151-155.

Weblinks