Behandlung im Strafkontext

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Was ist das für ein Bereich: "Behandlung im Strafkontext"?

Behandlung ist ein vielgestaltiger und vieldeutiger Begriff, aber im Kern ist eines klar: Behandlungen erfolgen in alle Regel, um physische und/oder psychische Beschwerden, Verletzungen, Krankheiten, Leidenszustände zu erkennen, zu lindern, zu heilen oder doch zumindest ihre Verschlimmerung zu verhindern. Eine einfache Behandlung kann man oft selbst durchführen (Hühnersuppe oder Tee mit Honig gegen Erkältung), oft benötigt man aber auch fremde Hilfe. Das können dann Laien sein, sind aber - wenn es ernst wird - meist Professionelle, und das Behandlungsverhältnis ist dann nicht informell, sondern auch rechtlich formalisiert.

Formalisierte Behandlungen durch Ärzte oder Psychologen nehmen ihren Ausgang meist von von einem leidenden Menschen, der diese Hilfe erbittet und benötigt. Den Kontext dieser Art von Behandlungen bildet das System der ärztlichen und psychotherapeutischen Versorgung mit seinen zivilrechtlichen Vertragsverhältnissen zwischen Therapeuten und Klienten, abgesichert und eingebettet in ein gigantisches System von Krankenversicherungen, Rentenversicherungen, sozialen Diensten, Tagessätzen, Fallpauschalen und Erstattungsansprüchen. Da im Durchschnitt wohl jeder Bürger in jedem Jahr mehrere Behandlungen in Anspruch nimmt, geht die Zahl der Fälle in die Hunderte von Millionen.

Die großen Themen hier sind die Kostenexplosion, die Patientensicherheit, die Fehlerkultur - und manches (wie etwa der Abrechnungsbetrug, Bestechung und Bestechlichkeit oder eklatante Kunstfehler) ist sogar kriminologisch äußerst interessant und zugleich äußerst untererforscht.

Doch nicht diese Themen haben uns heute hier zusammengeführt, sondern ein quantitativ eher kleiner Bereich, in dem Behandlungen in einem anderen Zusammenhang stattfinden, nämlich in dem der Sanktionierung von Individuen wegen gravierender Straftaten und insbesondere wegen Gewalt- und Sexualdelikten.

Es gibt mehrere Orte und Anlässe, bei denen der Kontext der Behandlung nicht derjenige des gewährenden und leistenden, sondern derjenige des eingreifenden, des strafenden Staates ist. Man denke an

  1. den geschlossenen, halboffenen oder offenen Normalvollzug mit seinen rund 70 000 Insassen, von denen freilich nur eine unbekannte Anzahl in Behandlung ist, von denen aber die rund 2.500 Klienten der Sozialtherapie sicherlich in intensiver Behandlung sich befinden
  2. den Maßregelvollzug in einer psychiatrischen oder Entziehungsanstalt mit rund 10 000 Betroffenen,
  3. die Sicherungsverwahrung mit rund 500 Insassen,
  4. nicht zuletzt aber auch an die insgesamt wohl rund 50.000 Klienten, die aufgrund der „Therapie statt Strafe“ - Regelung nach §§ 35 f. BtMG oder aufgrund anderer strafrechtlicher Grundlagen in (meistens) ambulanter oder aber (seltener) stationärer Behandlung sind (z.B. § 56c StGB, d.h. Klienten mit Strafaussetzung zur Bewährung mit der Weisung, sich einer Therapie zu unterziehen)
  5. sowie überhaupt an alle Klienten, die sonstwie auf die Gnade oder Milde von Sanktionsinstanzen hoffen, indem sie sich unter dem Druck drohender Verfolgung in eine Behandlung geben.

Quantitativ kann die Behandlung im Strafkontext also - glücklicherweise - nicht mithalten, aber qualitativ hat diese Kombination es durchaus in sich und es lohnt sich auf jeden Fall, und nicht nur für die unmittelbar dort Tätigen und Betroffenen, einmal einen genaueren Blick auf dieses Arbeitsfeld und die in ihm lauernden Chancen und Risiken zu werfen.

Zwei Hauptmerkmale

Historische Neuheit

Das Zusammenbringen von Behandlung und Strafe, so wie wir es heute kennen, ist in historischer Perspektive immer noch so etwas wie eine unerhörte Neuheit. Während des allergrößten Teils der Menschheits- und Zivilisationsgeschichte waren Behandlung und Strafe strikt getrennt. Entweder man war krank und wurde behandelt - oder man wurde bestraft, und zwar ohne Behandlung, egal, ob man gesund oder krank war. Die Probleme, die mit der Behandlung im Strafkontext verbunden sind, gab es damals noch nicht.

Vom Hochmittelalter bis in das 18. Jahrhundert wurde gefoltert, verbrannt, aufgehängt, gevierteilt, gepfählt oder ertränkt, aber sicher nicht "behandelt" im Sinne einer physischen oder psychischen Zustandsverbesserung des Delinquenten.- In den Strafgesetzbüchern früherer Jahrhunderte zeigten allein schon Formulierungen wie „straffen biss ann das blut“ oder „straffen, so an das blut gandt und das läben kostendt“, dass es um Verstümmelungen ging und/oder verschiedene Formen, Menschen vom Leben zum Tod zu bringen, und damit Punkt.

Selbst als die Idee der moralischen Besserung aufkam, und das war mit einiger Konsequenz erst 1790 der Fall, als man in Philadelphia im US-Staat Pennsylvania das erste Zellengefängnis eröffnete, dachte man noch lange nicht an Behandlung im Strafvollzug.

Zwar bekam jeder Gefangene eine Einzelzelle, doch das Modell war nicht Behandlung, sondern Buße nach Art des Klosters. Der Gefangene erhielt eine Bibel und sonst nichts. Jedenfalls keine psychologische Betreuung, und auch keine Arbeit und keine Gemeinschaft mit anderen Gefangenen, geschweige denn Lockerungen oder auch nur einen Stufenvollzug - und wie Charles Dickens bezeugte, der sich dieses Gefängnis angesehen hatte, wurden viele Insassen denn auch depressiv, suizidal und/oder verrückt, bevor sie das Haftende erreicht hatten.

Der Behandlungsgedanke im Strafvollzug ist also viel jüngeren Datums, stammt aus dem 19. Jahrhundert und steckt nach all den Rückschlägen und dem Zivilisationsbruch im Dritten Reich auch heute noch eigentlich in seinen Anfängen. - Vor dem Hintergrund einer 1000 oder 2000 Jahre umfassenden Geschichte sprechen wir hier von den letzten 100 Jahren, und selbst die waren ja nicht frei von Rückschritten. - Mit anderen Worten: dass es überhaupt heute Behandlung im Strafkontext gibt, ist aller Freude wert, vielleicht sogar eines gewissen zivilisatorischen Stolzes. Aber unter historischer Perspektive ist dieses Miteinander höchst sehr jung, quasi experimentell und während man in der Gegenwart immer dazu tendiert, den Status Quo fortzuschreiben, erscheinen die Chancen, dass dieses Miteinander für alle Zukunft erhalten bleibt, gerade angesichts der Widersprüche geradezu minimal.

Paradoxalität

Die zweite Besonderheit der Behandlung auf strafrechtlicher Grundlage ist der Zielkonflikt zwischen Verbesserung und Verschlechterung des Zustands des Betroffenen. Die Strafe ist ein absichtlich zugefügtes Übel. Juristen sprechen in aller Offenheit von Strafübel. Eine Übelszufügung verfolgt das Ziel, den Zustand einer Person - des Bestraften - gegen deren Willen fühlbar und signifikant zu verschlechtern. Behandlung aber ist der Versuch, den Zustand einer Person in deren Auftrag und in deren Interesse erheblich zu verbessern. Im Strafkontext zu behandeln heißt deshalb: den Versuch zu unternehmen, den Zustand einer Person zu verbessern - aber in einem Umfeld, das explizit und mit sehr hohem Aufwand gerade darauf ausgerichtet ist, den Zustand (auch) eben dieser Person zu verschlechtern.

Triade statt Dyade

In den Worten von Karl Heinz Pleyer (1996: 1929): "Therapeutische Beziehungen in Zwangskontexten sind (...) in aller Regel triadischer Natur. Die eigentlichen Auftraggeber, die den Zwang verhängen, sind mit im Gespräch, ohne anwesend zu sein." Ohne den strafenden Staat wäre der Klient nicht vorhanden, und der Therapeut wäre auch nicht da, wo er ist, und das, was die beiden miteinander verbindet, ist auch nicht nur der freie Wille des Behandlungsbedürftigen.

Der soziale Raum der Sozialtherapie ist nicht nur durch das Paradox der Gleichzeitigkeit von Abwendung (Strafe) und Zuwendung (Behandlung) gekennzeichnet, sondern auch von der Ersetzung der Therapeut-Klient-Dyade durch die Triade von Therapeut, Klient und strafendem Zwang.

Die Paradoxalität drückt sich in der Ersetzung der Therapeut-Klient-Dyade durch eine Triade von Staat - Therapeut - Klient aus. In den Worten von Karl Heinz Pleyer (1996: 1929): "Therapeutische Beziehungen in Zwangskontexten sind (...) in aller Regel triadischer Natur. Die eigentlichen Auftraggeber, die den Zwang verhängen, sind mit im Gespräch, ohne anwesend zu sein." Ohne den strafenden Staat wäre der Klient nicht vorhanden, und der Therapeut wäre auch nicht da, wo er ist, und das, was die beiden miteinander verbindet, ist auch nicht nur der freie Wille des Behandlungsbedürftigen.

Für den Therapeuten ist der Gefangene Klient, für den Staat ist er aber vor allem Strafgefangener. Daher auch das dauernde Benennungsproblem zwischen Gefangener, Insasse, Bewohner, Klient.

Dominanz und Subordination

Ein Beispiel für die paradoxe Verschränkung, das zugleich die grundsätzliche Dominanz des Strafverhältnisses über das Behandlungsverhältnis zeigt, ist der Fall David Long aus dem Jahre 1999.

Im Konflikt zwischen Behandlung und Strafe, zwischen Hilfe und Herrschaft, will der strafende Staat die Oberhand behalten. Was das bedeutet, wird vielleicht an einem Extrembeispiel deutlich, wie es sich im Dezember 1999 in Texas zugetragen hat. Der zum Tode verurteilte Gefangene David Long, der am Donnerstag, den 9.12., hingerichtet werden sollte, unternahm am Montag davor einen Suizidversuch, wurde nach erfolgreicher Wiederbelegung auf die Intensivstation des Krankenhauses in Galvesteon gebracht und dort im Verlaufe einiger Tage relativ stabilisiert. Können wir ihn denn termingerecht hinrichten, fragte der Gouverneur? Der verantwortliche Arzt hatte Bedenken wegen des Transports. Der Patient könnte versterben, bevor er in Huntsville angekommen sei. Man charterte also ein Flugzeug und flog David Long in ärztlicher Begleitung und mit entsprechenden medizinischen Geräten am Donnerstag morgen zurück zum Gefängnis, wo man ihn wie vorgesehen pünktlich am Abend desselben Tages per Giftspritze hinrichtete.

Der strafende Staat färbt die gesamte Behandlung

Man kann sagen: wir sind hier nicht in den USA, bei uns ist alles anders. Aber in mancher Hinsicht nicht, und die Dinge gehen in mancher Hinsicht noch tiefer als in dem Beispiel. Dort war die ärztliche Behandlung selbst im Kern so wie sonst auch. Das Strafverhältnis bezog sich nur auf die Rahmung und die Dominanz. Und es wurde klar gemacht, wer das Sagen hat.

Vor allem aber ist das Behandlungsverhältnis selbst nicht frei von Strafeinflüssen. Der strafende Staat ist - anders als im Fall David Long - in jeder Phase der Behandlung dabei: Etablierung, Ziel, Dauer. Vor allem die Motivationsphase erweist sich als sehr gefräßig.

Der Strafkontext bleibt dem Behandlungsgeschehen nicht äußerlich. Behandlung im Strafkontext heißt nicht, dass draußen zwar Mauern und Stacheldraht existieren, drinnen in der Anstalt aber die ganz klassische Therapeut-Klient-Dyade in gewohnter Autonomie ganz so wie sonst auch agiert. Im Gegenteil: zwischen Behandlung und Strafe existieren Widersprüche auf allen Ebenen, die auch alle Fasern der Behandlung beeinflussen.

Zustandekommen

Der Kontext dominiert das Zustandekommen der Behandlung. Initialzwang statt Hilfeersuchen. Die frühe Such- und Findephase der klassischen Behandlung wird durch die behördliche Anordnung ersetzt. Es ist die Verpflichtung des Behandlers seinem Dienstherrn gegenüber, die ihn zur Aufnahme des Behandlungsverhältnisses motiviert. Es ist die Unfreiheit des Verurteilten, die ihn nötigt. Das wird auch nicht dadurch entschärft, dass sich der Klient auch im Strafkontext gelegentlich um Behandlung bewerben muss. Denn die Bewerbung eines Unfreien ist etwas anderes als die Bewerbung eines Freien. Sie ist oft anders motiviert (Amelung 1983) - zum Beispiel durch die Hoffnung, dadurch schneller wieder aus der Haft entlassen zu werden. Einerseits macht die Belieferung der Anstalten durch den strafenden Staat die Sache leichter: der Klient muss nicht lange überlegen, der Therapeut muss nicht lange warten, die beiden finden sozusagen von Amts wegen zueinander. Andererseits fängt das Problem dann aber erst richtig an, denn der stärkste Motor zur Etablierung einer therapeutischen Beziehung, das Leiden des Individuums und sein Verlangen, sich von seinem Leiden zu befreien - die Hoffnung auf Heilung gar - sind in aller Regel gar nicht vorhanden. Der Gefangene hat keinen starken eigenen Antrieb, er lässt sich nur treiben, lässt es mit sich geschehen. Der Philosoph Paul Ricoeur (2006: 521f.) hat darauf hingewiesen, dass schon unter normalen Umständen der Behandlungspakt eine Menge Unsicherheit und Misstrauen überwinden muss, um sich zu der erwünschten Allianz entwickeln zu können, die zwischen zwei Personen gegen den gemeinsamen Feind - die Krankheit - geschlossen wird. In seinen Worten: "Man kann die Fragilität dieses Paktes - von Anfang an - nicht genug betonen. Das Gegenteil des Vertrauens ist das Mißtrauen oder der Verdacht. Das Gegenteil des Vertrauens begleitet alle Phasen des Vertragsschlusses. Auf der Seite des Patienten wird das Vertrauen bedroht durch eine unreine Mischung aus dem Mißtrauen eines gegenüber eines unterstellten Machtmissbrauchs aller Mitglieder der Ärzteschaft und dem Verdacht, dass der Arzt gleichgültig sein wird" gegenüber dem Leiden und den wahren Bedürfnissen des Patienten. Auch auf der Seite des Therapeuten gibt es schon im Normalfall der freien Therapie zahlreiche Hindernisse. Doch wie stark ist das alles erst im Strafkontext! Bedenkt man nun, dass auch unter normalen Bedingungen der Macht-Asymmetrie nur durch überaus behutsames und vertrauensschaffendes Aufeinanderzugehen etwas von ihrer Explosivität genommen werden kann, dann kann man sich vorstellen, wie hoch die Hürden sind, vor denen eine erfolgreiche Behandlung im Strafkontext steht.

Fehlende Motivation

Der Kontext verschiebt die innere Ordnung der Behandlung. Das Fehlen der Therapiemotivation heißt aber auch, dass die zeitlichen Proportionen des Prozesses durcheinander kommen und dass es mitunter Jahre dauern kann, bis ein Gefangener beginnt, sich dafür zu interessieren, wie es um ihn und seine innere Problematik steht, wie diese wiederum mit Beziehungsstrukturen in seiner familiären Biographie und mit Auslösesituationen für Gewalttaten zusammenhängt ... und so weiter. Das heißt: die Schaffung der Voraussetzungen für eine Behandlung tendiert zur gefräßigen Inanspruchnahme der meisten Zeit, die die Behandler mit den Behandelten verbringen. Der Ablauf der Behandlung ist regelmäßig durch die langanhaltende Bemühung um die Schaffung der Voraussetzungen für therapeutische Prozesse gekennzeichnet. Die Vorlaufphase kann länger dauern als der ganze Rest. Vorbereitung statt Durchführung.

Zielbestimmung

Legalbewährung statt Heilung. Die Behandlung soll in aller Regel dem im Gesetz vorgeschriebenen Resozialisierungsziel dienen, also der Befähigung des Klienten, in Zukunft ein Leben ohne Straftaten zu führen. So wird man sich mit der Anlasstat befassen, mit den biographischen und familienstrukturellen Zusammenhängen und Mechanismen, wird Rückfallprävention üben und nie so genau wissen, ob der Klient das auch alles emotional nachvollziehen und sich selbst zum Agenten seiner Heilung machen kann. Auch diese Fokussierung auf die Anlasstat und die Rückfallprävention geht auf den Staat, auf das Strafgesetzbuch und das Strafvollzugsgesetz sowie auf das öffentliche Interesse zurück. Der Klient ist eben nicht nur Klient, sondern erst einmal Gefangener. Diese Rollenunklarheit schlägt sich nicht nur beim Behandelten selbst in einer unklaren Vorstellung von sich selbst und bei den Behandlern nieder, sondern auch in einer Unsicherheit über die angemessene Bezeichnung des Behandelten niederschlägt. In manchen Anstalten spricht man von Gefangenen, in anderen von Bewohnern, in wieder anderen von Klienten. Das eine könnte als Abwertung und De-Motivierung verstanden werden, das andere leicht als euphemistische Schönfärberei. Kompliziert!

Durchführung

Während der Durchführung der Behandlung sind die Motivationsprobleme nie ein für allemal gelöst. Sie bleiben latent vorhanden und können jederzeit wieder aktualisiert werden - vor allem durch die bedrohlichen Aspekte der Haft. Da ist die Gefängnisarchitektur, da sind die Mitgefangenen, die Bediensteten und da sind die Sicherheits-, Straf- und Disziplinarmaßnahmen, die bei Fehlverhalten ungewollt auch die Therapiemotivation und den therapeutischen Prozess stören können.

An der Pforte muss sich der Gefangene unterwerfen, in der Wohngruppe darf er auf Verständnis und Vergebung hoffen. Die Pforte will und muss Alarm schlagen und die Fahndung auslösen, wenn ein Gefangener nicht pünktlich zurückkehrt - mit allen Folgen, die das für die ersten tastenden Behandlungsschritte haben kann. Die Behandlung würde vielleicht eher die Nutzung informeller Wege zur Aufenthalts- und Situationsermittlung erfordern, um einen Rückschritt in der Erprobung des Klienten zu verhindern. Und so stört die Bestrafung ganz ohne böse Absicht doch immer wieder die Behandlung - und die Behandlung stört die Bestrafung.

In solchen Situationen wird der Gefangene - wenn er es nicht immer schon war - ein kühler Nutzenmaximierer, der dazu tendieren wird, sich gleichsam spieltheoretisch um das für ihn situativ gerade günstigste Verhalten zu kümmern.

Beendigung

Die Beendigung des Behandlungsverhältnisses folgt auch nicht der freien Übereinkunft innerhalb des Vertrauensverhältnisses, sondern den Eigengesetzlichkeiten des Haftregimes: die intramurale Therapie findet ihre Grenze nicht im Erfolg der Behandlung, sondern mit dem Ende des Freiheitsentzugs. Alles andere ist Nachsorge, wird von anderen Teilen des Dritten im Bunde organisiert, finanziert, oder auch nicht, und jedenfalls ist der Abbruch der Behandlung nicht therapeutisch motiviert, nicht vom Klienten ausgehend, sondern eine fremde Intervention.

In den Worten von Willi Pecher (2011: 30): "Gefängnisse sind keine behandlungsfreundlichen Einrichtungen. Die Strafe ist nicht an den Erfordernissen einer Therapie ausgerichtet, sondern ihre Grundlage ist eine begangene Rechtsverletzung und das Maß der Schuld des Täters. In den meisten Fällen entspricht die gerichtlich angeordnete Strafdauer nicht dem optimalen Maß aus behandlerischer Sicht: Sie kann zu kurz sein, um die intendierte Wirkung eintreten zu lassen oder so lang, dass der aus therapeutischer Sicht günstigste Zeitpunkt der Entlassung längst überschritten ist."

Triadendruck und Behandlerstress

Man muss den Hut ziehen vor dem Engagement der Therapeuten. Denn auf ihnen lastet der Druck, die zentrifugalen Kräfte der Triade unter Kontrolle und damit die Triade aufrecht zu erhalten.

Der Zerfall droht in drei Formen, und jede ist hochproblematisch:

Koalition Patient und Justiz

Denkbar ist, dass der Klient sich gegen den Behandler wendet und die Justiz zur Hilfe ruft: der strafende Staat soll dann als Rechtsstaat zugunsten des Bestraften und gegen vorgebliche Übergriffe des Behandlers Schutz gewähren.

Überidentifikation von Behandler mit Klienten

Der Patient schließt sich mit dem Behandler zusammen gegen die Institution als ausgeschlossenem Dritten. Bei der Koalition zwischen Behandler und Behandeltem gegen die Institution bestätigen sich die beiden Protagonisten in ihrer Verdammung der Justiz. Der Behandler wird zum Komplizen des Klienten. Man denke an den Fall der Hamburger Psychologin, die dem sog. Heidemörder Thomas Holst, der zwischen 1987 und 1990 drei Frauen vergewaltigt, gequält und zerstückelt hatte, zu lebenslanger Haft verurteilt wurde und sich heute in der geschlossenen Psychiatrie befindet. Seine damalige Therapeutin Tamar Segal hatte sich in ihn während seiner Haft verliebt und ihm zur Flucht verholfen. 1995 verhalf ihm seine Therapeutin zur Flucht aus dem Hochsicherheitstrakt der forensischen Abteilung des Klinikums Nord und tauchte in einer von der Therapeutin angemieteten Wohnung unter. Drei Monate später wurde die Therapeutin verhaftet und Holst stellte sich der Polizei. 1997 heirateten Holst und Segal in der U-Haft-Anstalt in Hamburg.

Überidentifikation des Therapeuten mit der Institution

Die dritte Variante des Auseinanderbrechens der Triade geht zu Lasten des Klienten: der Behandler sucht die Rückendeckung von Anstaltsleitung und Ministerium, steht aber in einem verkappten Strafverhältnis zu seinem eigenen Klienten:

  • er spricht - unter dem Vorwand behandlerischer Notwendigkeit - Sanktionen aus, die keinen inneren Bezug zur Symptomatik aufweisen und im Grunde genommen umetikettierte Disziplinarstrafen sind (Entzug von bislang im Besitz gehabten Gegenständen für mehrere Wochen, Verlegung auf eine Station mit weniger Rechten und Privilegien etc.; vgl. Lindemann 2004; Lindemann o.J.) oder
  • er projiziert ein eventuelles eigenes Versagen als Behandler auf die vorgebliche "Therapieunfähigkeit" des Gefangenen. Dass sich die in der klinischen Psychologie allgemein anerkannte Tatsache, dass Ressourcenaktivierung wesentlich den Therapieerfolg beeinflusst, im Rahmen der Straftäterbehandlung erst langsam durchsetzt (vgl. Suhling, 2007), zeigt zugleich, "wie die Rahmenbedingungen der Behandlung auf die Therapie selbst Einfluss nehmen: Die Fixierung auf Defizite drängt sich bei Straffälligen geradezu auf. Oft wurde angemerkt, dass Gefangene nicht resozialisiert, sondern überhaupt erst sozialisiert werden müssen. Ressourcen wurden ihnen also weitgehend abgesprochen. Ähnliches gilt für die Anerkennung der Wichtigkeit des Wirkfaktors therapeutische Beziehungsgestaltung. Um die Gefahr der Ausnützung und Manipulation zu begrenzen, erscheint es auf den ersten Blick tunlicher, sich allein an klaren Vorgaben zu orientieren, übersieht aber dabei, dass die Therapiebeziehung als zentrales Agens auch und gerade bei Persönlichkeitsgestörten genutzt werden muss" (Pecher 2011: 30 f.; Pecher 2004).

Dass derlei Abwehrmechanismen bei "persönlichkeitsgestörten Patienten noch durch deren innere Abwehrdynamik verstärkt wird, braucht nicht besonders ausgeführt zu werden" (Pecher 2011: 30).

Das alles konzentriert sich auf die Behandler und kostet die Behandler Kraft. Hier besteht ein Verschleiß-Risiko, das mit dem Zeitablauf zunimmt und durch Routinisierungen nicht kompensiert werden kann, so dass vertikale Unterstützung durch die Anstaltsleitung und horizontale Unterstützung durch die Kollegenschaft dringend erforderlich sind (andererseits soll der Strafvollzug auch nicht die gesamte Lebenswelt der Behandler darstellen). Von größter Bedeutung ist auch ein gutes Verhältnis zu den Klienten.

Da jede Form des Zerfalls der Triade die Lage in aller Regel verschlimmert, ist den meisten Behandlern daran gelegen, eine solche Explosion der Triade zu verhindern. Das bedeutet aber: Spannungen aushalten, Spannungen analysieren, sich auch eigene Fehler eingestehen und korrigieren. Das erfordert von den beteiligten Individuen eine besonders hohe Qualifikation - und sollte die beteiligten Institutionen von der vitalen Bedeutung qualifizierter Supervision überzeugen.

Auf die Dauer geht die Behandlung im Strafkontext jedenfalls an die Substanz. Die Doppelgesichtigkeit des sozialen Raums als eines Sanktions- und Behandlungsraums zugleich macht ihn besonders konfliktträchtig. Nimmt man dann noch Situationsspezifika wie den baulich und organisatorisch bedingten Mangel an privatem Rückzugsraum hinzu sowie Personenspezifika aller Art (von problematischen Anstaltsleitungen bis zu verfestigten Zügen dissozialen Verhaltens bei der Klientel), dann wird klar, dass hier mit einem überdurchschnittlich erhitzten Binnenklima und entsprechenden Folgeerscheinungen zu rechnen ist: mit eruptiven Entladungen, aber auch mit Rückzug oder Mobbing und so weiter.

Auf Dauer schadet der doppelbödige Konfliktraum der Gesundheit aller Beteiligten wie auch der Qualität der Behandlung, denn es sind ja die Behandler, an denen von allen Seiten gezogen und gezerrt wird: sie müssen sich die Coping-Strategien aneignen, Sport treiben und Entspannungsübungen machen, aber auch sie sehen im Kollegenkreis, dass es nicht immer und überall funktionieren kann, dass Alkohol und Tabletten eine Rolle spielen, Rücken-, Bauch- und Kopfschmerzen ebenso zunehmen wie Burn-Outs, Depressionen und psychosomatische Krankheiten aller Art. Das ist sozusagen erwartbar und normal, wenn auch nicht toll, aber es wäre gut, die Strukturen aufmerksam zu beobachten und nach Möglichkeit so zu verändern, dass sie weniger Opfer fordern.

Dieses Verschleißbudget wird normalerweise nicht in Festvorträgen erwähnt. Man sollte es aber und man sollte versuchen, es als systemischer Konflikte in einem paradoxen Setting zu erkennen, das sowohl starre Regeln und institutionalisiertes Misstrauen benötigt als auch flexiblen Umgang und immer wieder auch kontrafaktisches Vertrauen, das aus Sicherheits- und Verwaltungsgründen wie ein stählernes Gehäuse organisiert sein muss, aus behandlerischer Sicht aber wie eine offene Wohngemeinschaft mit möglichst vielen Gästen von außerhalb funktionieren müßte.

Der engagierte Realismus weiß, dass es keinen Sinn hat, den herkömmlichen Strukturen nur einfach Behandlungsprogramme aufzupfropfen, sondern dass es Zielkonflikte institutioneller Art gibt, die Dauerstress, Dauerverschleiß und bei höchstem Einsatz der Behandler und enormem Finanzaufwand der öffentlichen Haushalte eine letztlich nur begrenzte Wirksamkeit der Intervention zulassen. Sie wissen, dass es mit piecemeal technology nicht getan ist, sondern dass etwas Grundsätzliches geschehen muss. Aber was?

Dominanz der Behandlung über die Strafe?

Man könnte glauben, die heutige Kombination muss nicht unbedingt ewig dauern. In der großen weiten Welt spricht man schon seit langem vom Niedergang des Behandlungsideals im Strafvollzug. Vielleicht geht es zurück zur reinen Strafe und Verwahrung - siehe USA. Aber wohin könnte es vorwärts gehen: etwa in die Richtung der alten Utopie von Gustav Radbruch - dass es letztlich nicht um die bessere Strafe, sondern um etwas Besseres als die Strafe gehe, also um ein reines Maßregelrecht der Besserung und Sicherung?

Oder liegt die Zukunft in der Umkehrung der Machtverhältnisse, in einer künftigen Dominanz der Behandlungsinteressen über die Strafinteressen?

Das klingt verführerisch. Sollte es aber nicht sein. Denn dort, wo die Behandlungsidee über den strafenden Staat dominiert, geht es unter dem Gesichtspunkt der Grundrecht der Betroffenen nicht gut zu.

Wie der kleine historische Rückblick schon gezeigt hat, war der Einzug des Behandlungsgedankens in den Strafvollzug ein epochaler Fortschritt.

Fortschritte sind jedoch oft nicht eindimensional, sondern haben auch ihre problematischen Seiten. So auch hier. Denn der Behandlungsgedanke sieht den Gefangenen als das, was er ist: als armen Teufel, der oft an Dissozialität leidet, an Psychopathie, an Depressionen und allerlei von ihm selbst kaum verstandenen Defiziten, die einer gründlichen Aufarbeitung in einem gut strukturierten Milieu bedürfen. Und gut strukturiert ist das Gefängnis ja nun einmal. Aber auch eine Drogen-Langzeit-Therapie. All diese Milieus geben Halt und sind daher aus therapeutischer Sicht sozusagen das kleinere Übel für den Betroffenen im Vergleich zu einem Leben in oft deprimierender Freiheit, in dem es auch nicht so schnell eine therapeutische Versorgung gibt.

Das Gesetz sieht den Gefangenen hingegen nicht als das, was er ist, sondern eher als das, was er sein sollte: als einen Bürger mit zahllosen Rechten, der ein Verbot übertreten hat und dafür im Rahmen seiner Schuld auch zu büßen hat, der aber seinerseits auch ein Recht besitzt, durch klare gesetzliche Vorgaben und vor allem durch Grenzen der Strafe vor jedem Zuviel an Freiheitsbeschränkung beschützt zu werden. Der Rechtsstaat sagt ja zur Strafe, aber nur im Rahmen der Schuld des Täters und nur soweit der Entzug der Freiheit absolut notwendig ist. Die Freiheitsstrafe soll das allerletzte Mittel sein, das man gegen seine eigenen Bürger einsetzt: Strafe als ultima ratio. Wer sich mit den Verhältnissen vor der Erfindung des Rechtsstaats oder in den heute existierenden Nicht-Rechtsstaaten befasst hat, wird sofort einsehen, warum das so sein soll und warum alles andere die menschliche Sicherheit der gesamten Gesellschaft aufs Spiel setzen würde.

Aus der Behandlungsperspektive ist es schade, wenn ein Straftäter mitten in der Therapie entlassen wird, weil seine Strafzeit nun einmal zu Ende gegangen ist. Man denkt: für ihn und alle anderen wäre es besser, er bliebe noch ein Jährchen. Denn Behandlungen brauchen ihre Zeit, und da sie aufgrund des Strafkontextes oft nur schleppend anlaufen, kann es gerade nach einigen Jahren gut sein, dass man mitten drin ist und erfreuliche Fortschritte verzeichnet und dann das: die Entlassung!

In dem Maße, in dem die Behandlungsperspektive an Einfluss gewinnt, verliert die strenge rechtsstaatliche Begrenzung der Haftzeit und die Rücksichtslosigkeit, mit der sie sich an der Schuld und nicht an der Besserung orientiert, an Plausibilität.

So kann es vorkommen, dass man

  • unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit einer Therapie und der absehbaren Therapie-Dauer entweder überhaupt eine Freiheitsstrafe in ein Gesetz schreibt oder im konkreten Strafverfahren ausspricht, obwohl die geringe Tatschuld eine solche Sanktion sonst gar nicht hergegeben hätte - oder aber eine längere als die eigentlich schuldangemessene Freiheitsstrafe; in jedem dieser Fälle verletzt man einen der wichtigsten Pfeiler in der Abwehr staatlicher Willkür: das Verbot, aus welchem Grunde auch immer, eine Strafe zu verhängen, die über diejenige hinausgeht, die nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten erforderlich und gerechtfertigt ist
  • seitens der Behandler die Sicherungsverwahrung im Grunde als eine verlängerte Haftzeit versteht und toleriert, die man in gewissem Grade zur weiteren Behandlung der immer noch riskanten Insassen verwenden kann und deshalb ganz gerne sieht - und bei der man angesichts der oft dissozialen armen Teufel, um die es sich handelt, im übrigen auch keine Veranlassung sieht, an den strafhaftähnlichen Unterbringungsbedingungen der Sicherungsverwahrten Anstoß zu nehmen: immerhin haben sie eine strukturierte Umgebung! - Juristen hingegen sehen die Sache unter einem ganz anderen Gesichtspunkt. Für sie handelt es sich bei Sicherungsverwahrten um Bürger, die ihre Haftstrafe verbüßt haben und damit grundsätzlich wieder ein Recht auf Bewegungsfreiheit jenseits der Haft haben. Juristisch wäre die Person wieder so zu betrachten wie vor der Straftat. Eine neue Haft erst bei einer neuen Tat. Wenn man sie trotzdem ihrer Freiheit beraubt, weil man überzeugt ist, dass sie sonst wieder erheblichen Schaden anrichten könnten, greift man der Öffentlichkeit zuliebe in ihre Freiheitsrechte ein - so ähnlich wie bei einer Enteignung oder einem anderen Sonderopfer, das dem Einzelnen aus Gründen des Allgemeinwohls zugemutet wird, für das der Betroffene dann aber auch aus Gründen der Gerechtigkeit und Billigkeit entschädigt werden muss. Für Juristen ist es eigentlich selbstverständlich, dass solche Leute nicht in Gefängnisse gesperrt werden dürften, sondern ein Recht darauf hätten, als Kompensation für das ihnen zugemutete Sonderopfer zumindest intramural komfortabel zu wohnen. Welchen Grund könnte es geben, ihnen eine echte Wohnung mit Bad, Küche und Terrasse oder Balkon zu verwehren, eine Einrichtung nach ihrem Geschmack und die Bild-Zeitung oder eine andere Tageszeitung ihrer Wahl, Frühstücksbrötchen und -ei, Bio-Joghurt und Flachbildschirm und eine Badewanne zum Zeitungslesen. Wer das als Entschädigung für die Freiheit, die man ihnen genommen hat, übertrieben findet, sollte sich fragen, was er oder sie denn gerne als Entschädigung hätte, schlösse man ihn oder sie völlig unabhängig von irgendeiner Schuld aus Gründen des öffentlichen Interesses ein
  • die tiefen Eingriffe in Grundrechte in Drogentherapien für unproblematisch hält, weil auch hier die harte Strukturierung des Alltags einen äußeren Halt verschaffen kann, der innerlich gerade fehlt. Die Behandlungsperspektive denkt an den Erfolg und rechtfertigt alle möglichen Eingriffe, die dem Klienten in der totalitären Drogentherapie weniger Rechte lassen als einem Strafgefangenen im Justizvollzug. Beispiel Schöffin in HH: die Bewährungen werden wegen Rauswurfs aus der Therapie widerrufen. Klient: "Wenn ich wenigstens meine Frau und mein Kind sehen könnte, dann würde ich die Therapie ja durchhalten."

Misst man also den Behandlungsvollzug an den Grundregeln klassisch-liberalen Strafrechtsdenkens, dann kommt man zu dem Ergebnis, daß die als fortschrittlich gedachten Alternativen zum Strafrecht/-vollzug die Rechtspositionen in vielerlei Hinsicht verbessert, in mancher aber auch verschlechtert haben. Und gerade die freien Therapien für betäubungsmittelabhängige Straftäter zeigen, wie der Behandlungsgedanke rechtsstaatliche Vollzugssicherheiten in bedenklichem Umfang aushöhlt.

Vielleicht ist eine Fortschreibung des heutigen Status Quo auch gar nicht wünschenswert. Denn vor lauter Freude über deren historisches Zusammentreffen sollten wir auch nicht das dadurch entstandene Spannungsverhältnis und die Kosten desselben in materieller und immaterieller Hinsicht übersehen.

Die Lösung liegt nicht in der Indienstnahme des strafenden Staates durch die Behandler.

Vom Strafkontext zum Kontext der Aufarbeitung?

Wie steht es eigentlich mit einem Schritt nach vorne zu einer reinen Behandlung ohne Strafe? Zumindest eine Logik spricht ja für die Möglichkeit: wenn es in der Vergangenheit nur die Strafe ohne Behandlung gab, dann die Behandlung innerhalb der Strafe, dann könnte die Behandlung eines Tages vielleicht sich von der Strafe ganz emanzipieren und die Sozialtherapie wäre die einzige stationäre Sanktion für Straftaten - Behandlung als Antwort auf Kriminalität.

Was hier not tut, sind ernsthafte Überlegungen zu den legitimen Funktionen der Strafe und ihren denkbaren funktionalen Äquivalenten, die sie ersetzen könnten.

Die Aufgabe der Kriminologie wäre es, in diesem Zusammenhang auf empirischer Grundlage der Phantasie auf die Sprünge zu helfen und die Bandbreite des Möglichen aufzufächern.

In einer Gesellschaft, die Normvalidierung als Aufarbeitung von Konflikten und als Dienstleistung auffasste, würde man auf die Zufriedenheit der Kunden achten. Die Kunden, das wären die Opfer von Delikten, aber auch die Täter - und ihre jeweiligen Angehörigen und Freunde, aber damit nicht genug. Betroffen ist auch ein größerer Kreis von Bürgern (die Gemeinde), betroffen ist die Sicherheit von vielen. Insofern gibt es viele stakeholder, die an dem Aufarbeitungsprozess teilnehmen und von ihm profitieren sollten. Wenn wir heute auf jedem Produkt im Supermarkt die Telefonnummer des Kundenservice finden - warum dann nicht auch eine solche Telefonnummer auf jedem Schriftstück der Justiz? Warum wird nicht bei jedem Strafprozess zugleich auch immer die Zufriedenheit der Betroffenen und Beteiligten mit dem Prozess und mit dessen Ergebnis und Folgen erhoben?

Joanna Shapland (2008) von der Universität Sheffield hat tatsächlich einmal die Zufriedenheit mit der Strafjustiz mit derjenigen bei der alternativen Vorgehensweise der Restorative Justice verglichen. Heraus kam: die Kundenzufriedenheit war bei Restorative Justice eindeutig höher:

"The overall tone was one of satisfaction: 74% of JRC offenders and 78% of JRC victims would definitely/probably recommend restorative justice to others. 80% of JRC offenders and 85% of JRC victims were very/quite satisfied with the conference - only 10% of JRC offenders and 12% of JRC victims expressed any doubt about the outcome agreement. Not everyone was entirely satisfied, but only 6 offenders (of 152) and 6 victims (of 216) were dissatisfied overall with JRC conferencing - dissatisfaction revolved around disputes about the offence or difficulties in communication. I would argue that the current criminal justice system for adults is impoverished in terms of not providing enough opportunities to help offenders to desist (reduce/stop offending) so conferencing may provide a ‘boost’ to offenders deciding to start changing their lives, through supporting that decision and mobilising potential resources to address offending-related behaviour."

In ihrem siebenjährigen Forschungsprojekt, das vier Berichte über Restorative Justice (bei schwerer Kriminalität von Erwachsenen) generierte, kam Joanna Shapland (Ministry of Justice 2011) zu folgenden Ergebnissen:

"The majority of victims chose to participate in face-to-face meetings with the offender, when offered by a trained facilitator; 85% of victims who took part were satisfied with the process; RJ reduced the frequency of re-offending, leading to £9 savings for every £1 spent on restorative justice. Expert independent criminologists Professor Lawrence Sherman and Dr Heather Strang state that the reduction in the frequency of re-offending found in this research was 27% - that's 27% less crime, 27% fewer victims following RJ. - Alongside the Sentencing Green Paper in December 2010 the Government published their own further analysis of the data behind the Shapland reports, quantifying the size of the reduction in the frequency of re-offending following RJ as 14%."

Was unterscheidet die Normvalidierung durch Restorative Justice von der durch Strafe?

Vor allem konzentriert sich die Bearbeitung der Straftat nicht auf den Täter, sondern auf die gesamte Situation, wenn nicht sogar auf die den Konflikten zugrundeliegenden Strukturen (transformative justice). Das impliziert zugleich eine Entwicklung von der formalen Gleichheitsorientierung (alles über einen Kamm scheren) zur prinzipienorientierten Problemlösung (Kohlberg). Es impliziert eine Wertschätzung der Opfer und der Täter wie auch der sonst noch Betroffenen. Es geht um Aufarbeitung statt Aburteilung, um reintegrative Beschämung und gemeinsame Unterstützung von Geschädigten und Schädigern bei gemeinsamer Einforderung und Ermöglichung der Übernahme von Verantwortung. Auch in einem solchen Prozess werden Normen validiert, die geschieht dies auf nicht-punitive Art: nicht autoritär-plakativ für ein unbeteiligtes Massenpublikum, sondern konkret und nachhaltig für alle Beteiligten.

Die strafende Vernunft stellt im Grunde immer nur drei Fragen: Welches Gesetz wurde verletzt? Wer hat es getan? Wie ist er zu bestrafen? Man könnte aber auch fragen, wie es bei der Restorative Justice der Fall ist: Wer alles ist geschädigt worden? Welche Bedürfnisse haben die Opfer? Was muss geschehen? (Who has been hurt? What are their needs? What has to be done?).

Auch hier wird nach der Verantwortung des Täters gefragt, doch erfolgt dies im Kontext gemeinsamer Reflexion und nicht als Verurteilung durch eine Autorität, die in erster Linie an der Sicherung des staatlichen Gewaltmonopols und nicht an der Wiederherstellung zwischenmenschlicher Beziehungen, an Wiedergutmachung und einer affektiven Beendigung verletzender Vorfälle interessiert ist.

Literatur

  • Amelung, Knut (1983) Die Einwilligung des Unfreien. Das Problem der Freiwilligkeit bei der Einwilligung eingesperrter Personen. In: ZStW 95(1983), 1-31.
  • Gratz, W (2007) Im Bauch des Gefängnisses. Beiträge zur Theorie und Praxis des Strafvollzuges. Wien, Graz: Neuer Wissenschaftsverlag.
  • Habermeyer, Elmar/ Andreas Mokros, Knut Vohs (2012) Sicherungsverwahrte und Patienten des psychiatrischen Maßregelvollzugs im Vergleich. R & P 30: 72 – 80 (online verfügbar).
  • Hassemer, Winfried (1982) Resozialisierung und Rechtsstaat. Kriminologisches Journal (KrimJ) 14 Jg. Heft 3, 1982: 161-166.
  • Nietzsche, Friedrich (1887) Genealogie der Moral, 2. Abh. Nr. 10.
  • Pecher, Willi (2004) "Therapie statt Training?" - Was können andere psychologische Ansätze? In: What Works? Neue Ansätze der Straffälligenhilfe auf dem Prüfstand. Cornel, H., Nickolai, W., Hg., Freiburg i.Br.: Lambertus, 98-121.
  • Pecher, Willi (2011) Behandlung antisozialer Persönlichkeiten in Sozialtherapeutischen Einrichtungen. KrimPäd 39, H 47: 29-36.
  • Ricoeur, Paul (206) Die drei Ebenen des medizinischen Urteils, in: Thomas S. Hoffmann und Walter Schweidler, Hg., Normkultur und Nutzenkultur. Berlin: de Gruyter, 520 ff.
  • Pleyer, Karl Heinz (1996) Schöne Dialoge in hässlichen Spielen. Überlegungen zum Zwang als Rahmen für Therapie. Zeitschrift für systemsiche Therapie 3: 186-196.
  • Schwind, H.-D., Böhm, A., Jehle, J.-M. & Laubenthal, K., Hg. (2009) Strafvollzugsgesetz - Bund und Länder. Kommentar, 5. geänderte und neu bearb. Aufl. Berlin: de Gruyter Recht.
  • Suhling, S. (2007) Positive Perspektiven in der Strafdtäterbehandlung - Warum zur Rückfallverhinderung mehr gehört als Risikomanagement. Forum Strafvollzug 56: 151-155.

Weblinks


siehe auch: Behandlung im Strafkontext: Funktion der Strafe

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