Die stereotype Würdigung des Strafrechtsreformers Cesare Beccaria in einem ausschließlich von Verehrung geprägten Ton auf der Grundlage einer vereinfachenden Zusammenfassung seiner Leistungen wird von Wolfgang Naucke als Beccaria-Schema bezeichnet (2005: XIII ff.). Beccaria gilt als "Pionier moderner Kriminalpoltiik (Schwind), sein Werk Dei delitti e delle pene von 1764 als "weltbewegend" (Stintzing-Landsberg); mit Eberhard Schmidt zählt man es "zum geistigen Gemeingut der zivilisierten Welt".

Zum Beccaria-Schema gehört, dass man einige seiner Forderungen etwa in diesem Sinne für unsterblich erklärt: "Nützlich sind Verbrechensbestimmung, Strafe und Strafprozess nur, wenn die präventive Notwendigkeit nicht überschritten wird. Das Verbrechen muss gesetzlich bestimmt werden, sonst leidet die Abschreckung. Die drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative müssen getrennt werden, denn sonst ist das größte Glück der größten Zahl nicht zu sichern. Die Justiz muss unabhängig sein, damit das Strafgesetz ohne Ansehen der Person seine abschreckende Wirkung entfalten kann. Im Prozess muss die Unschuldsvermutung beachtet werden; Prozesse gegen Unschuldige schaden der Prävention. Die Strafen müssen verhältnismäßig sein, sonst verrohen sie die Bürger. Strafprozess und Strafvollstreckung müssen öffentlich sein, damit der Bürger weiß, was ihn erwartet, wenn er ein Verbrechen begeht. Die nützliche Abschreckung verlangt, dass die Strafe möglichst schnell auf das Verbrechen folgt. Alle Strafschärfungen, die der Verbrechensvorbeugung nicht dienen, sind zu lassen. Die Todesstrafe ist für die Vorbeugung nutzlos, muss abgeschafft werden und abgeschafft bleiben. Die Folter garantiert die Wahrheit einer Aussage nicht; Verurteilungen aufgrund erzwungener Geständnisse schwächen die Verbrechensvorbeugung, die Folter muss abgeschafft werden und abgeschafft bleiben" (Naucke 2005: XV).

Zum Beccaria-Schema gehört schließlich auch, dass der Marchese als einer der großen Bewirker der neueren Strafrechtsgeschichte gilt - und dass man in der Bewunderung verharrt.

Beccaria wird für die Begründung des säkularen humanen rechtsstaatlichen Strafrechts und als Vorkämpfer der Abschaffung von Folter und Todesstrafe gepriesen. Kriminalpolitik wird als ewige Aufgabe einer vollständigen Realisierung seiner Forderungen verstanden. So schreibt Wilhelm Alff (1966: 40): "Beccaria ist der Begründer der modernen Rechtszivilisation genanntworden. Mögen indessen die meisten seiner Forderungen erfüllt sein: losgelöst von der Gesinnung, der einst sie entsprachen, bleiben sie noch als erfüllte diesseits der Schranke, die zwischen den Menschen und der Menschlichkeit errichtet wurde."

Zum Das Beccaria-Schema ist einerseits nicht vollkommen falsch, es verabsolutiert aber andererseits gewisse Züge des Reformers, "verdinglicht" sie gewissermaßen und verdeckt vor allem entscheidende Widersprüche und Schwächen in der Begründung für "humane" Reformen des Strafrechts, die das Bild des Reformers deutlich verdunkeln. Letztlich nämlich wird die Humanisierung des Strafens als Königsweg der Effektivierung des Strafens legitimiert - Humanität ist also deshalb wünschenswert, weil sie auch nützlicher für die Gesellschaft ist. Das Problem dieser Begründung (von Peter Strasser als Beccaria-Falle bezeichnet) ist das unglückliche Verhältnis von Wert- und Zweckrationalität: der Wert der Humanität ist nur dann durchsetzungsfähig, wenn das Humane auch zugleich das Nützliche ist. Wo das aber nicht der Fall ist, geht dann (selbstverständlich) die Zweckmäßigkeit vor. Wenn der Verzicht auf die Todesstrafe zu einem rasanten Anstieg der Kriminalität führt - muss man dann die Todesstrafe nicht schleunigst wieder einführen? Das Beccaria-Schema vermeidet die Thematisierung dieses Problems zugunsten einer "monumentalischen" Historie, die das Vorbild verehrt, aber nicht analysiert.

Naucke selbst zieht folgendes Fazit:

Beccarias Strafrecht ist gesetzlich, relativ, rational, präventiv und säkular. Human ist es nicht. Kritisch ist es gegen ein nicht-säkulares, d.h. nicht-präventives Strafrechts. Diese Kritik hat keinen Gegenstand mehr. - Das rationale, relative, säkulare, präventive Strafrecht bei Beccaria und im Beccaria-Schema hat gegen sich selbst keine Möglichkeit der Kritik. 'Von den Verbrechen und von den Strafen' enthält die prinzipielle Strafrechtsbeurteilung nicht, die man in dieser Schrift sieht. Die elementaren Probleme des Strafrechts sind ungeklärt. Vielleicht hatm na sich zu sehr auf Beccaria verlassen. Das ist kein Einwand gegen Beccaria, aber gegen seine in Bewunderung verharrenden Interpreten" (2005: XLIII).


Literatur

  • Naucke, Wolfgang (2005) Einführung. In: Cesare Beccaria, Von den Verbrechen und von den Strafen (1764). Aus dem Italienischen von Thomas Vormbaum. Berlin: BWV I-XLVI).