Suchtkranke im Maßregelvollzug

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Neben psychisch kranken Straftätern (§ 63 StGB) befinden sich auch Suchtkranke im Maßregelvollzug (§ 64 StGB). Für beide Gruppen erfolgt die Unterbringung nicht - wie bei den Sicherungsverwahrten - innerhalb der Gefängnisse, sondern in speziellen Kliniken des Maßregelvollzugs. Während die "Dreiundsechziger" grundsätzlich ohne zeitliche Befristung in Psychiatrischen Kliniken untergebracht werden, ist die Aufenthaltsdauer der "Vierundsechziger" in den Entziehungsanstalten grundsätzlich auf zwei Jahre befristet, obwohl dieser Zeitraum sich durch entsprechende Höchstfristberechnungen auch verlängern kann (§ 67d Abs. 1 StGB).

Voraussetzung ist eine richterliche Anordnung aufgrund eines symptomatischen Zusammenhangs zwischen dem Hang, Rauschmittel (Alkohol und Drogen) im Übermaß zu konsumieren und der abgeurteilten Straftat. Bevor eine Unterbringung in den Maßregelvollzug richterlich angeordnet wird, holt das Gericht nach § 246a StPO zur Frage der Wiederholungsgefahr und zur Frage der Therapieaussichten eine Stellungnahme, namentlich ein forensisch-psychiatrisches Gutachten von einem Sachverständigen ein. Besteht neben einer Suchterkrankung primär eine psychische Erkrankung, so sind die Voraussetzungen für § 63 StGB zu prüfen. Die Voraussetzungen für § 63 StGB sind: 1. rechtswidrige Tat, 2. Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit und 3. Anlasstat symptomatisch für die vom Täter infolge seines krankheitsbedingten Zustands ausgehende Gefährlichkeit.


Maßregelvollzug

Aufgrund des Behandlungsauftrages des Maßregelvollzugs werden Menschen in Maßregelvollzugseinrichtungen nicht als Gefangene, sondern als Patienten mit entsprechenden Rechten eingestuft.

Das Äquivalent zur Untersuchungshaft ist in diesem Bereich die einstweilige Unterbringungen in einer Maßregelvollzugseinrichtung gemäß § 126a StPO. Voraussetzung sind neben den normalen Haftgründen dringende Gründe für die Annahme, dass jemand seine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) begangen hat.

Die Eingangsmerkmale für § 20 StGB sind: Krankhafte seelische Störung (Schizophrenie, Psychosen), tiefgreifende Bewusstseinsstörung (dissoziative Störungen), Schwachsinn (Oligophrenien) oder schwere seelische Abartigkeit (Sucht, sexuelle Deviation, Persönlichkeitsstörungen, Neurose, Psychogene Reaktionen). Bei den kursiv gesetzten Begriffen handelt es sich um juristische Begriffe. Die psychiatrischen Krankheitsbegriffe sind in Klammern gesetzt.

Freiheitsentziehende Maßregeln in der Entziehungsanstalt

Mit der Aussetzung tritt Führungskraft ein (§ 67d Abs. 2 Satz 2 StGB). Anders als im Psychiatrischen Krankenhaus werden in der Entziehungsanstalt auch schuldfähige Menschen behandelt. Die Entziehungsanstalt unterliegt nicht vorrangig dem Sicherungs-, sondern dem Resozialisierungsgedanken analog dem Strafvollzug (Volkart 2003: 203), gilt aber auch für den § 63 StGB. Eine Maßregel der Besserung der Sicherung darf nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht (§ 62 StGB). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit berührt den freien Willen des Betroffenen (Artikel 2 GG - Handlungsfreiheit) auf der einen Seite und auf der anderen Seite das Schutzinteresse der Gesellschaft. Die Verhältnismäßigkeit wird innerhalb bestimmter Fristen gerichtlich geprüft: Nach 6 Monaten in der Entziehungsanstalt und nach 1 Jahr im Psychiatrischen Krankenhaus (§ 67e Absatz 1 und 2 StGB). Der § 64 StGB führt in der geltenden Fassung vom 20.07.2007 aus: "Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Die Anordnung ergeht nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen."


Schuldfähigkeit

Die Schuldfähigkeit kann aufgrund einer psychischen Störung aufgehoben (§ 20 StGB) oder vermindert (§ 21 StGB) sein. Schuld stellt grundsätzlich die Zuschreibung von Verantwortung dar. Das Gericht lässt die Schuldfähigkeit von einem Sachverständigen prüfen, wenn im Hintergrund die Frage steht, ob der Mensch für seine Taten verantwortlich gemacht werden kann bzw. ob er aufgrund einer Krankheit rechtswidrige Taten begangen hat. Wird letzteres bejaht, ordnet der Richter im Rahmen des zweispurigen Strafsystems eine Unterbringung in den Maßregelvollzug zur Besserung (durch Behandlung) und Sicherung (zum Schutz der Bevölkerung vor weiteren Straftaten) an (Volkart 2009). "In Hinsicht auf die Gewährleistung dieses staatlichen (Selbst-)Schutzauftrags ist die Existenz einer schuldunabhängigen, sozialethisch neutralen Sanktionsart unverzichtbar. Dessen Einbettung in das strafrechtliche Rechtsfolgeinstrumentarium begründet sich indes nur aus dem Gesichtspunkt des Sachzusammenhangs mit einer Straftat" (Best 2007: 251).


Unterbringungsdelikte

Bei den Unterbringungsdelikten fallen Suchtkranke mit einer Alkoholabhängigkeit häufig mit Gewaltdelikten auf, Suchtkranke mit einer Drogenabhängigkeit vermehrt mit Raub und Eigentumsdelikten (Kemper 2008: 20). Zu den wichtigsten harten Drogen zählen in der Polizeilichen Kriminalstatistik Heroin, Kokain, Amphetamin/ Methampetamin und LSD. "Seit 1981 werden die Fälle nach wichtigen Drogenarten gesondert ausgewiesen... Den größten Anteil, allerdings bei rückläufigen Fallzahlen, weisen die registrierten Cannabisfälle (148.667) auf. Eine geringe Zunahme ist bei den Fällen von Amphetamin/Methamphetamin und deren Derivate (einschl. Ecxtasy) (31.503) zu verzeichnen. Eine Abnahme ist bei den Heroin- (30.349) und Kokain-Fällen (20.127) festzustellen" (PKS Berichtsjahr 2006). Die Anzahl der Unterbringungen nach § 64 StGB ist seit 1970 kontinuierlich gestiegen (Statistisches Bundesamt 2009).

Zur Kriminalprognose

Es gibt keine Methode, mit der das menschliche Verhalten sicher vorhergesagt werden kann. Daher sollte es weniger um Risikoeinschätzung gehen als um Risikoreduktion und Risikomanagement im Rahmen der Unterbringung nach § 64 StGB. Zur Gefährlichkeit eines Menschen wird im Rahmen kriminalprognostischer Wahrscheinlichkeitsaussagen keine (statischen) Eigenschaften eines Menschen beschrieben, sondern Aussagen zur Wahrscheinlichkeit einer Wiederholungsgefahr rechtswidriger Taten getroffen (Volkart 2009). Die Gefahr rechtswidriger Taten von "erheblicher" Art betreffen die Wahrscheinlichkeit künftiger Delinquenz und das Ausmaß oder Schwere des erwarteten Schadens. Für die Verständigung zwischen Forensischer Psychiatrie und Justiz fehlt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt an allgemeinverbindlichen Standards (vgl. Mokros 2010: 82).


Der Zusammenhang zwischen Sucht und Straftaten

Die Anlasstat kann ein Beschaffungsdelikt sein, indem der Täter eine rechtswidrige Tat begeht, um seine Suchtmittelabhängigkeit zu finanzieren. Nach kriminologischen Daten zeigen viele Drogenkonsumenten strafbares Verhalten, bevor sie eine Abhängigkeitsproblematik entwickeln. Hingegen waren Gewalttäter mit einer Alkoholerkrankung in ihrer Vorgeschichte selbst Opfer von Gewalt. Hier ist ein Zusammenhang mit der eigenen Gewaltbereitschaft häufig feststellbar. Drogenabhängigkeit führt nicht monokausal zur Straffälligkeit, verfestigt jedoch kriminelle Karrieren, intensiviert delinquentes Verhalten und verzögert das Hinauswachsen aus der Kriminalität. Letzteres gilt in gleicher Weise für schweren Alkoholmissbrauch (Der Landesbeauftragte für den Maßregelvollzug Nordrhein-Westfalen 2006: 8).


Erledigung der Maßregel

Patienten, die auf der Grundlage des § 64 StGB im Maßregelvollzug untergebracht sind, können sich jederzeit aus der Therapie abmelden. Die Einrichtung kann ihrerseits auch eine Empfehlung zur Erledigung der Maßregel abgeben, wenn aus ihrer Sicht die Therapie keine Aussicht auf Erfolg hat, aus Gründen, die in der Person des untergebrachten Patienten liegen (§ 67d Abs. 5 StGB). Über die Erledigung oder Fortdauer der Therapie entscheidet der Richter. Eine Entlassung in die Freiheit ist möglich, wenn ein Suchtkranker aufgrund § 20 StGB schuldunfähig ist und keine Begleitfreiheitsstrafen aus Vorstrafen bestehen. Bei einer Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel kann ein Patient aus einer Entziehungsanstalt in ein Psychiatrisches Krankenhaus verlegt werden, wenn (seine) Resozialisierung dadurch besser gefördert werden kann (§ 67a StGB). Der Patient behält seine Strafzeitberechnung und kommt nach Erreichen der Höchstfrist frei (§ 67a Abs. 4 StGB). Einen "typischen Erlediger" gibt es nicht - die Erledigungspraxis scheint sich eher an der Belegungsdichte als an objektiven Kriterien zu orientieren (Kemper 2009: 210).


Kriminologische Relevanz

Zwischen Drogenabhängigkeit und Kriminalität ist ein Kausalzusammenhang wissenschaftlich nicht nachweisbar. Nach einer Studie von Wilms (2005) werden Drogenabhängigkeit und Kriminalität aus kriminologischer Sicht "als zwei voneinander unabhängige Ausdrucksformen eines devianten Lebensweges aufgefasst" (zit. nach Hahn 2007). Aus psychiatrischer Sicht besteht ein Kausalzusammenhang zwischen Gewaltdelikten und Suchtmittelabhängigkeit. Dieser Zusammenhang treffe jedoch nur bei einer Minderheit der Patienten im Maßregelvollzug zu (Schalast 2000). In Bezug auf die Strafzurückstellungsregelung bei Suchtkranken mit Drogenabhängigkeit wäre es "aus motivationspsychologischer und therapeutischer Sicht sinnvoll, eine Zurückstellungsregelung auch für Suchtkranke mit Alkoholabhängigkeit in das Strafrecht einzuführen. Der Zwangsrahmen hat insgesamt eher ungünstige Auswirkungen auf das therapeutische Klima und Potential der Einrichtung, aber "für einzelne Patienten ist es sicher sinnvoll, daß sie eine Zeit mit äußerem Zwang in therapeutischen Bezügen gehalten werden". Insofern sollte die Maßregelbestimmung des § 64 StGB eher als eine "Kann-Vorschrift" gefasst werden, zumal "sich derart viele Täter mit Suchtproblemen in den Haftanstalten befinden, daß bei einer stringenten Anwendung der Bestimmungen des § 64 StGB das System an seine Grenzen käme" (ebd.).

Literatur

  • Kemper Andrea (2008) Fehleinweisungen in die Entziehungsanstalt. Ergebnisse eines Forschungsprojekts zum Maßregelvollzug gem. § 64 StGB in NRW. R&P 26: (15-26)
  • Kemper Andrea (2009) Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zwischen Fehleinweisung und Fehlkonstruktion. Analyse des § 64 StGB in der nordrhein-westfälischen Praxis. Dissertation. Universität Bremen
  • Best Dominik, Rössner Dieter (2007) Die Maßregeln der Besserung und Sicherung. In: Kröber Hans-Ludwig, Dölling Dieter, Leygraf Norbert, Sass Henning (Hrsg.): Handbuch der Forensischen Psychiatrie (250-269)
  • Mokros Andreas (2010) Rückfallrisiko oder Freiheitsentzug? Der Preis der Freiheit und die Kosten der Sicherheit. In: Saimeh Nahlah (Hrsg.): Kriminalität als biografisches Scheitern. Forensik als Lebenshilfe? Forensik 2010. 25. Eickelborner Fachtagung zu Fragen der Forensischen Psychiatrie (73-83)
  • Pllähne, Helmut (2007) Fehleinweisungen in die Entziehungsanstalt (§ 64 StGB): Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zum nordrhein-westfälischen Maßregelvollzug - Entlassungsjahrgang 2005. Münster: Lit-Verlag
  • Reinke, Sebastian (2010) Privatisierung des Maßregelvollzugs nach §§ 63, 64 StGB, § 7 JGG und der Aufgaben nach §§ 81, 126a StPO : dargest. am Beispiel des Brandenburger Modells. Potsdam: Univ.-Verlag
  • Schalast Norbert (2000) Maßregelvollzug gemäß § 64 StGB: Motivation der Patienten, Behandlungserläufe und gesetzliche Rahmenbedingungen. In: Egg Rudolf, Geisler Claudius (Hrsg): Alkohol, Strafrecht und Kriminalität. Wiesbaden: Eigenverlag der Kriminologischen Zentralstelle (205-216)
  • Töller, Annette Elisabeth (2010) Die Privatisierung des Maßregelvollzugs: die deutschen Bundesländer im Vergleich. Hagen: Inst. für Politikwiss.
  • Volckart Bernd & Grünebaum Rolf (2009) Maßregelvollzug: Das Recht der Unterbringung nach §§ 63, 64 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt. Mit allen Landesgesetzen 7. Auflage Köln: Carl Heymanns Verlag

Links

Ausgewählte Gesetze in Deutschland http://www.buzer.de (06.01.2010)

Hahn Gernod Rezension vom 12.05.2007 zu: Yvonne Wilms (2005): Drogenabhängigkeit und Kriminalität. Eine kritische Analyse des § 64 StGB http://www.socialnet.de/rezensionen/3933.php (24.02.2011)

Leitlinie für die Behandlung nach § 64 StGB. Der Landesbeauftragte für den Maßregelvollzug Nordrhein-Westfalen http://www.massregelvollzug.nrw.de/pdf/BLSucht.pdf

PKS Berichtsjahr 2006. Rauschgiftkriminalität 8910-218. http://www.bka.de/pks/pks2006/download/pks_jb_2006_bka.pdf

Statistisches Bundesamt, Maßregelvollzugsstatistik 2009/2010 http://www.destatis.de/