Stadtguerilla

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Stadtguerilla ist die Übertragung der Guerilla auf urbane Verhältnisse. Die rurale Guerilla, benannt nach einer historisch wirkungsvollen Praxis aus den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts, wurde Mitte des 20. Jahrhunderts zum Modell für Versuche, auch eine urbane Guerilla zu entwickeln, die zu ähnlichen Leistungen in der Lage sei.

Merkmale

Von den vier Merkmalen des Partisanen nach Carl Schmitt (1963) erfüllt die Stadtguerilla die drei ersten:

  1. Irregularität der äußeren Form der partisanischen Kriegführung, in der dem einzelnen Partisanen gerade nicht die Legitimation des gemeinen Soldaten zugutekommt, da er gegen alle Konventionen des Kriegsvölkerrechts verstößt
  2. Gesteigerte Mobilität, d.h. die taktische Bewegungsfreiheit, die den objektiv militärisch-technischen Wert des Partisanen ausmacht
  3. Intensität, d.h. eine innere Haltung, die in einer unbedingten Einsatzbereitschaft sowie einer außergewöhnlichen „Kampfmoral“ zum Ausdruck kommt und den Partisanen von anderen Kämpfern unterscheidet
  4. Tellurischer Charakter, d.h. die Erd- und Heimatverbundenheit des Partisanen, die die prinzipiell defensive Haltung des Partisanen begründet (d.h. die Begrenzung seiner Feindschaft, welche ihn vom exportierbaren Terroristen unterscheidet).

Strategie

Aus der strategischen Defensive geht die Stadtguerilla unter Vermeidung offener Feldschlachten durch zahlreiche punktuelle Angriffe kleiner Kommandos (Entführungen, Attentate...) in die Offensive. Das veranlasst den Gegner entweder zum Rückzug oder zu Unterdrückungsmaßnahmen, die ihrerseits irregulär sind und - wenn sie die Stadtguerilla nicht völlig vernichten - Sympathie für die Stadtguerilla erzeugen können. Letztlich kann das zu einem Ressourcentransfer auf die Stadtguerilla führen, der diese in die Lage versetzt, die Auseinandersetzung in ein höheres Stadium zu überführen.

Geschichte

Politische Herrschaft ist nur begrenzt responsiv; Partizipation ist de facto an den Verzicht auf Transformation gekoppelt: die Subsumtion des Einzelnen unter die bestehenden Strukturen erscheint alternativlos. Für diejenigen, die sich damit nicht abfinden wollen oder können (Konformität, Ritualismus, Rückzug), bleiben nur Innovationsversuche (Anti-Parteien-Partei; 5-Sterne-Bewegung etc.) oder Revolte, Rebellion, Revolution - und im Extremfall Märtyrertum. So kann der Guerillero (nach Carl Schmitt) das letzte wirklich politische Wesen der Gegenwart darstellen, weil er sich einer Subsumtion unter die traditionellen politischen Strukturen verweigert und dadurch als neuer, eigenständiger politischer Typus etabliert.

Erfolge der antikolonialen Guerilla und die Wertorientierung junger urbaner Eliten (Wertewandel, postmaterialistische Orientierungen; Elitenstau) führten in den 1960er Jahren zu optimistischen Einschätzungen der Chancen bewaffneter urbaner Revolten.

  • 1950er Jahre: in Südafrika soll der Mandela-Plan den Untergrundkampf vor allem im urbanen Umfeld der Townships vorbereiten; später agierte der MK (Umkhonto we Sizwe = Spear of the Nation) teilweise als Stadtguerilla
  • 1953-59: Städtische Llano- und ländliche, von Fidel Castros M-26-7 praktizierte, Sierra-Strategie der kubanischen Revolution
  • 1966: Abraham Guillén Estrategia de la Guerrilla Urbana. engl.: Urban Guerilla Strategy
  • 1968-74: Stadtguerilla in Brasilien. Carlos Marighella

Nach dem Militärputsch von 1964 wurde das Land von so genannten Todesschwadronen terrorisiert. Kinder, Jugendliche, Menschenrechtsaktivisten und politische Gegner wurden (und werden bis heute gelegentlich) verschleppt und ermordet.

Offiziellen Angaben zufolge wurden unter dem brasilianischen Militär-Regime 100.000 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert, 50 000 gefoltert, 480 Menschen umgebracht und von 160 Verschwundenen gibt es keine Spur mehr (Michahelles 2013; 30 000 Verschwundene in Argentinien, 2.950 in Chile. - Insgesamt gehören zur Bilanz der lateinamerikanischen Repressionspolitik 50.000 Ermordete, 350.000 Verschwundene und 400.000 Gefangene).

Aufgabe

In seinem Minihandbuch des Stadtguerillero schreibt Carlos Marighella:

Die wichtigsten Aufgaben des Stadtguerilleros sind es, die Militärdiktatur und die Kräfte der Repression abzulenken, sie aufzureiben und zu demoralisieren; ferner hat er die Güter und Besitztümer der Nordamerikaner, anderer ausländischer Unternehmer und die der brasilianischen Großbourgeoisie zu überfallen und sie zu zerstören oder zu plündern. Der Stadtguerillero ist entschlossen darauf bedacht, das bestehende ökonomische, politische und gesellschaftliche System Brasiliens zu entlarven und zu zerstören, sein Ziel ist es, die Landguerilla zu unterstützen und beim Aufbau einer neuen gesellschaftlichen Struktur im Land mitzuhelfen, an deren Spitze das bewaffnete Volk steht. Der Stadtguerillero muß sich ein Minimum an politischen Kenntnissen aneignen und daher versuchen, gedruckte oder in Form von Pamphleten abgezogene Arbeiten zu lesen, z. B. »Der Guerillakrieg« von Che Guevara.

Feindschaft

Von der begrenzten zur totalen Feinschaft? Carl Schmitt in seiner Theorie des Partisanen:

„Die Menschen, die jene Mittel gegen andere Menschen anwenden, sehen sich gezwungen, diese anderen Menschen, d.h. ihre Opfer und Objekte, auch moralisch zu vernichten. Sie müssen die Gegenseite als Ganzes für verbrecherisch und unmenschlich erklären, für einen totalen Unwert. Sonst sind sie eben selber Verbrecher und Unmenschen.“ Wert und Unwert entfalten nach Schmitt ihre eigene Logik, und diese zwinge zu einer „immer neuen, immer tieferen Diskriminierung, Kriminalisierung und Abwertung bis zur Vernichtung allen lebensunwerten Lebens“ – der Vernichtung der Träger des Unwerts.
„Die Feindschaft wird so furchtbar werden, dass man vielleicht nicht einmal mehr von Feind oder Feindschaft sprechen darf und beides sogar in aller Form vorher geächtet und verdammt wird, bevor das Vernichtungswerk beginnen kann. Die Vernichtung wird dann ganz abstrakt und ganz absolut. Sie richtet sich überhaupt nicht mehr gegen einen Feind, sondern dient nur noch einer angeblich objektiven Durchsetzung höchster Werte, für die bekanntlich kein Preis zu hoch ist. Erst die Ableugnung der wirklichen Feindschaft macht die Bahn frei für das Vernichtungswerk einer absoluten Feindschaft.“

C.M.: 502

Tupamaros West-Berlin (TW)

  • 1969-1970: The Tupamaros West-Berlin (TW) use urban guerrilla tactics. Founder Dieter Kunzelmann. Georg von Rauch. They refer to the concept of urban guerilla and are forerunners of the Bewegung 2. Juni and the Red Army Faction. Their first action was an attempted bombing of West Berlin's Jewish Community Centre on November 9, 1969 (the anniversary of Kristallnacht); the bomb, supplied by the undercover government agent Peter Urbach, failed to explode. This was followed in the fall of 1969 by a number of bombings and arsons targeting police, judges, and US and Israeli targets. The TW claimed responsibility for these attacks under a variety of different names in order to exaggerate the size of their movement. The group was led by Kunzelmann and von Rauch, and dissolved after the former was arrested in 1970 and the latter was killed by police in 1971. Its core members then formed the Movement 2 June, while some others joined the Red Army Faction.
  • 1970: Tupamaros-Chef Kunzelmann versucht Anfang März ohne Erfolg, Baader und Ensslin zum Beitritt zu bewegen. Baader zieht aber vor, zu der Gruppe des ebenfalls anwesenden Mahler zu gehen. Among those involved at this early date are: Mahler, Baader, Ensslin, Astrid Proll, Manfred Grashof, his girlfriend Petra Schelm, and Mahler’s secretary Monika Berberich. Bei der Verhaftung Kunzelmanns am 19.7.1970 werden Pläne für Anschläge während der Olympischen Spiele in München 1972 gefunden. Autor: Georg von Rauch.

RAF

In Deutschland bekannte sich neben den kurzlebigen Tupamaros West-Berlin vor allem die RAF und die Bewegung 2. Juni zum Konzept der Stadtguerilla, nicht zu vergessen die Revolutionären Zellen und der Revolutionäre Kampf.

  • Ende Mai 1970: Horst Mahler liest die gerade erschienene deutsche Übersetzung des Minihandbuchs des Stadtguerilleros von Carlos Marighella und macht die anderen Mitglieder der Gruppe damit bekannt.
  • Zum einjährigen Bestehen verfasste Ulrike Meinhof im Frühjahr 1971 - angeregt durch das Minihandbuch - Das Konzept Stadtguerilla. Das erste Halbjahr 1972 ist der ersten Offensive der ersten Generation der RAF gewidmet, die mit der Zerschlagung der Gruppe endete. Es sieht so aus, als sei die Gruppe aufgelöst.

Die Repression führt den Gefangenen Sympathisanten und neue Kämpfer zu (2. Generation). 1977, nach den Todesfällen von Stammheim, erneut: militärisch gescheitert, durch Verhaftungen dezimiert; zehn RAF-Mitglieder mit Hilfe der Stasi in der DDR untergetaucht.

1982 war das zentrale Erddepot der RAF von Pilzsuchern in einem Wald bei Frankfurt gefunden worden: die Polizei konnte auf Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar einfach warten. Die hatten vor ihrer Verhaftung mit einem Mai-Papier von 1982 für einen Strategiewechsel hin zu Massenbewegungen plädiert.

Wolfgang Grams und seine Freundin Birgit Hogefeld gehören nicht mehr zur Studentenbewegung, sondern zur Anti-Atomkraftszene, zu Startbahn-West-Protesten und zum Protest gegen die NATO; Grams war ein nachdenklicher Mensch, der einige Leute von der RAF in der Haft besucht hatte und zehn Jahre lang gegen die Haftbedingungen protestiert hatte ... Die Offensive startet mit einem Hungerstreik der Häftlinge; Brigitte Mohnhaupt gibt im Gericht am 4. Dezember 1984 das Signal zum Losschlagen; doch die Hinrichtungen der RAF wecken keine »klammheimliche Freude« mehr.

3. Generation (1984/85-93): Perfektionisten des Terrors sprengen 1989 das Auto des Deutsche-Bank-Chefs Alfred Herrhausen mit einer per Lichtschranke gezündeten Bome. 1991 wird Treuhandchef Detlev Karsten Rohwedder aus 63 Meter ­Entfernung in seinem Arbeitszimmer erschossen. Die Strafverfolger kennen nicht einmal die Hälfte der bis zu 20 Mitglieder der dritten RAF-Generation mit Namen und können nur Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld mit gewisser Sicherheit der Kommandoebene zuordnen. Nur bei einer von zehn Tötungen zwischen 1985 und 1993 kennen sie den Namen des Täters.

Justizminister Kinkel befördert die Spaltung der RAF mit Angeboten an Aussteiger. Die Stockholm-Attentäter Dellwo und Taufer signalisieren Bereitschaft. Der Verfassungsschutz kann seinen ersten und einzigen V-Mann in der Gruppe unterbringen.

1993 kommt es auf dem Bahnhof von Bad Kleinen zur letzten Konfrontation – und einer Polizeipanne: V-Mann Steinmetz will sich in der ostdeutschen Provinz mit Hogefeld und Grams treffen. Aber obwohl fast 100 Polizisten vor Ort sind, darunter 37 GSG-9-Beamte, gelingt es nicht, das Terroristenpärchen reibungslos festzunehmen. Es kommt zu einem Schusswechsel. Wolfgang Grams erschießt einen GSG-9-Mann, bevor er unter ungeklärten Umständen selbst mit einer Kugel im Kopf stirbt. Eine vierte Generation gibt es nicht. Der V-Mann hat zudem das Misstrauen tief in die eigenen Reihen getragen.

Nach 28 Jahren (und 34 Tötungen) geht im April 1998 - fünf Jahre nach dem letzten Anschlag (auf den Gefängnisneubau Weiterstadt/Hessen - ohne Personenschäden) - bei einer Nachrichtenagentur ein Schreiben ein: "Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte." Der Anstoß zur Selbstauflösung kam vermutlich von Birgit Hogefeld (1984-93 Leitfigur der 3. Generation; 1998 schon fast fünf Jahre hinter Gittern; 1996 zu lebenslanger Haft verurteilt; am vorletzten Prozesstag sprach sie überraschend von »Verirrungen und Fehlern«, nannte den Mord an einem US-Soldaten, dessen Ausweis die RAF 1985 für den Anschlag auf die US-Airbase Ramstein brauchte, »zutiefst unmenschlich«; das Ende der RAF sei »lange überfällig«; »Wir waren denen, die wir bekämpfen wollten, sehr ähnlich und sind ihnen wohl immer ähnlicher geworden.« – »Heute denke ich, dass eine Selbstreflexion allerspätestens 77 hätte einsetzen müssen.« - Niemand weiß, wer die Selbstauflösungserklärung formuliert hat.

Ähnlich argumentierte auch Ulrike Meinhof 1975: "Die Bildung der RAF 1970 hatte in der Tat spontaneistischen Charakter. Die Genossen, die sich ihr anschlossen, sahen darin die einzige wirkliche Möglichkeit, ihre revolutionäre Pflicht zu erfüllen. Angeekelt von den Reproduktionsbedingungen, die sie im System vorfanden, der totalen Vermarktung und absoluten Verlogenheit in allen Bereichen des Überbaus, zutiefst entmutigt von den Aktionen der Studentenbewegung und der APO hielten sie es für nötig, die Idee des bewaffneten Kampfes zu propagieren. Nicht weil sie so blind waren, zu glauben, sie könnten diese Initiative bis zum Sieg der Revolution in Deutschland durchhalten, nicht weil sie sich einbildeten, sie könnten nicht erschossen und nicht verhaftet werden. Nicht weil sie die Situation so falsch einschätzten, die Massen würden sich auf ein solches Signal hin einfach erheben. Es ging darum, den ganzen Erkenntnisstand der Bewegung von 1967/68 historisch zu retten; es ging darum, den Kampf nicht mehr abreißen zu lassen."

Literatur

  • Beckett, Ian F.W.: Encyclopedia of Guerilla Warfare. Checkmark Books, New York 2001
  • Guillén, Abraham (1966) Estrategia de la guerrilla urbana.
  • Heinz, Wolfgang & Frühling, Hugo: Determinants of gross human rights violations by state and state-sponsored actors in Brazil, Uruguay, Chile, and Argentina, 1960-1990. Martinus Nijhoff Publishers.
  • Mao Tse Tung (1937/1966) Theorie des Guerillakrieges. Reinbek: rororo aktuell
  • Marighella, Carlos: Minimanual of the Urban Guerrilla. Abraham Guillen Press, Oakland 2002, „ISBN 1894925025“
Online zu lesen „hier“

Weblinks