Welt ohne Gefängnisse: Unterschied zwischen den Versionen

166 Bytes hinzugefügt ,  08:26, 11. Mär. 2008
keine Bearbeitungszusammenfassung
Zeile 7: Zeile 7:
Wenn in früheren Gesellschaften ein Leben ohne Gefängnisse möglich war, dann folgt daraus nicht zwingend, dass es auch heute oder morgen ohne Gefängnisse ginge. Doch der Mythos von der absoluten Notwendigkeit von Gefängnissen ist damit zerstört. Das Gefängnis ist eine historische Institution und wie alle historischen Phänomene hat es einen Anfang und ein Ende - und je jünger die Instititution ist, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass es sie über kurz oder lang nicht mehr geben wird. Nicht zuletzt deshalb fragen einige Wissenschaftler (Feest & Paul 2008): "Ist das Gefängnis noch zu retten?"
Wenn in früheren Gesellschaften ein Leben ohne Gefängnisse möglich war, dann folgt daraus nicht zwingend, dass es auch heute oder morgen ohne Gefängnisse ginge. Doch der Mythos von der absoluten Notwendigkeit von Gefängnissen ist damit zerstört. Das Gefängnis ist eine historische Institution und wie alle historischen Phänomene hat es einen Anfang und ein Ende - und je jünger die Instititution ist, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass es sie über kurz oder lang nicht mehr geben wird. Nicht zuletzt deshalb fragen einige Wissenschaftler (Feest & Paul 2008): "Ist das Gefängnis noch zu retten?"


== Vergangenheit: eine Welt ohne Gefängnisse ==
== Eine Welt ohne Gefängnisse als historische Tatsache ==
Uns Menschen gibt es seit zwei bis drei Millionen Jahren. Wenn wir nicht alle unsere Vorfahren mit der Bezeichnung "homo" berücksichtigen, sondern nur unsere allernächsten Vorfahren - also den "homo sapiens sapiens" - dann existieren menschliche Sozialgebilde erst seit 250 000 Jahren. Gefängnisse - also Gebäude, die der Verbüßung einer Freiheitsstrafe dienen - gibt es aber seit nicht einmal 1000 Jahren. Am weitesten wagte sich Gotthold Bohne zurück. Er behauptete, dass die Freiheitsstrafe und damit die Gefängnisse in Norditalien schon zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert entstanden. Andere sehen die "Geburt des Gefängnisses" (Michel Foucault) eher in der Zeit der "Großen Transformation" von 1760 bis 1840. So gesehen gibt es unsere heutige Welt "mit" Gefängnissen erst seit weniger als drei Jahrhunderten - für Historiker also erst seit relativ kurzer Zeit.
Uns Menschen gibt es seit zwei bis drei Millionen Jahren. Wenn wir nicht alle unsere Vorfahren mit der Bezeichnung "homo" berücksichtigen, sondern nur unsere allernächsten Vorfahren - also den "homo sapiens sapiens" - dann existieren menschliche Sozialgebilde erst seit 250 000 Jahren. Gefängnisse - also Gebäude, die der Verbüßung einer Freiheitsstrafe dienen - gibt es aber seit nicht einmal 1000 Jahren. Am weitesten wagte sich Gotthold Bohne zurück. Er behauptete, dass die Freiheitsstrafe und damit die Gefängnisse in Norditalien schon zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert entstanden. Andere sehen die "Geburt des Gefängnisses" (Michel Foucault) eher in der Zeit der "Großen Transformation" von 1760 bis 1840. So gesehen gibt es unsere heutige Welt "mit" Gefängnissen erst seit weniger als drei Jahrhunderten - für Historiker also erst seit relativ kurzer Zeit.


== Gefängnisse heute ==
== Eine Welt ohne Gefängnisse als konkrete Dystopie ==
In der Gegenwart ist das Gefängnis weitgehend als notwendig akzeptiert. In vielen Staaten steigen die Gefangenenzahlen - und nicht nur in der Dritten Welt. Die Zahl der Gefängnisse wächst. Besonders ausgeprägt ist dieser Trend in den Vereinigten Staaten von Amerika. Dort befinden sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehr Menschen im Gefängnis als jemals zuvor. Die Tendenz scheint darauf hinzudeuten, dass das Gefängnis Blütezeit noch vor sich hat. Allerdings steht das quantitative Wachstum der Institution in einem schroffen Gegensatz zum öffentlichen Ansehen des Gefängnisses. Während frühere Generationen stolz auf ihre Gefängnisse waren und sich allerlei moralischen Nutzen davon erhofften, kann von Stolz heute keine Rede mehr sein. Gefängnisse expandieren, aber ihr Ruf ist schlechter denn ja - und es werden heute weniger  Hoffnungen in ihre Wirksamkeit investiert als jemals zuvor. Das ist ein auffälliger Umstand, der durchaus als Indiz für eine verborgene Fragilität der Institution gewertet werden könnte. Aus der Geschichte der Sklaverei ist eine ähnliche Diskrepanz bekannt. Denn auch damals, im 19. Jahrhundert, erlebte der transatlantische Sklavenhandel just zu dem Zeitpunkt eine dramatische Blüte, als die moralische Rechtfertigung dieser Institution rapide abnahm. Nie wurden so viele Sklaven von Afrika nach Amerika transportiert als in den Jahrzehnten, die der Abolition unmittelbar vorausgingen. Das beweist zwar noch lange nicht, dass die Abschaffung der Gefängnisse unmittelbar bevorsteht - aber es zeigt immerhin, dass die rein quantitative Betrachtung einer Institution nicht viel über deren Zukunftsaussichten auszusagen vermag.   
In der Gegenwart ist das Gefängnis weitgehend als notwendig akzeptiert. In vielen Staaten steigen die Gefangenenzahlen - und nicht nur in der Dritten Welt. Die Zahl der Gefängnisse wächst. Besonders ausgeprägt ist dieser Trend in den Vereinigten Staaten von Amerika. Dort befinden sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehr Menschen im Gefängnis als jemals zuvor. Die Tendenz scheint darauf hinzudeuten, dass das Gefängnis Blütezeit noch vor sich hat. Allerdings steht das quantitative Wachstum der Institution in einem schroffen Gegensatz zum öffentlichen Ansehen des Gefängnisses. Während frühere Generationen stolz auf ihre Gefängnisse waren und sich allerlei moralischen Nutzen davon erhofften, kann von Stolz heute keine Rede mehr sein. Gefängnisse expandieren, aber ihr Ruf ist schlechter denn ja - und es werden heute weniger  Hoffnungen in ihre Wirksamkeit investiert als jemals zuvor. Das ist ein auffälliger Umstand, der durchaus als Indiz für eine verborgene Fragilität der Institution gewertet werden könnte. Aus der Geschichte der Sklaverei ist eine ähnliche Diskrepanz bekannt. Denn auch damals, im 19. Jahrhundert, erlebte der transatlantische Sklavenhandel just zu dem Zeitpunkt eine dramatische Blüte, als die moralische Rechtfertigung dieser Institution rapide abnahm. Nie wurden so viele Sklaven von Afrika nach Amerika transportiert als in den Jahrzehnten, die der Abolition unmittelbar vorausgingen. Das beweist zwar noch lange nicht, dass die Abschaffung der Gefängnisse unmittelbar bevorsteht - aber es zeigt immerhin, dass die rein quantitative Betrachtung einer Institution nicht viel über deren Zukunftsaussichten auszusagen vermag.   


== Gefängnisse morgen ==
== Eine Welt ohne Gefängnisse als konkrete Utopie ==
Eines ist unbestritten: Die Reputation des Gefängnissystems hält mit seiner Expansion nicht schritt. Während man früher von der positiven ethischen Qualität der Institution überzeugt war, ist man sich heute eher einig darin, das Gefängnis als ein Übel anzusehen. Bestenfalls als ein notwendiges Übel, dem man mit viel Mühe einige positive Nebenfolgen abnötigen kann, schlechtestenfalls als ein Übel, das gewissermaßen nur noch auf seine Abschaffung oder seine Ersetzung durch Besseres wartet.  
Eines ist unbestritten: Die Reputation des Gefängnissystems hält mit seiner Expansion nicht schritt. Während man früher von der positiven ethischen Qualität der Institution überzeugt war, ist man sich heute eher einig darin, das Gefängnis als ein Übel anzusehen. Bestenfalls als ein notwendiges Übel, dem man mit viel Mühe einige positive Nebenfolgen abnötigen kann, schlechtestenfalls als ein Übel, das gewissermaßen nur noch auf seine Abschaffung oder seine Ersetzung durch Besseres wartet.  


Welch Kontrast: als am Ende des 16. Jahrhunderts in Holland die ersten Zucht- und Arbeitshäuser gegründet wurden, kamen Delegationen aus aller Herren Länder, um diese wunderbaren Werke der Mildtätigkeit und Effizienz zu bestaunen und umgehend zu kopieren. Die zivilisierte Welt war begeistert von diesen Monumenten des Fortschritts und der Humanität. Noch besser war der Ruf der ersten amerikanischen Gefängnisse in Philadelphia und Auburn an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Die besten Köpfe der Zeit priesen das eine und/oder das andere System, aber alle waren überzeugt, dass die Gefängnisse etwas Gutes seien auf dem Weg zu mehr Humanität, Bildung und sozialer Entwicklung. Je mehr Gefängnisse eine Gesellschaft vorweisen konnte, desto stolzer waren ihre Bürger. Doch das ist heute anders. Je größer das Gefängnissystem in einem Staat, desto peinlicher ist es ihm. Das ist ein guter Nährboden für die Suche nach Alternativen. Wer im 18. Jahrhundert progressiv war, der entwarf Gefängnisse. Wer heute progressiv ist, sucht nach Alternativen. Das könnte durchaus darauf hindeuten, dass das Gefängnis seine beste Zeit schon hinter sich hat.  
Welch Kontrast: als am Ende des 16. Jahrhunderts in Holland die ersten Zucht- und Arbeitshäuser gegründet wurden, kamen Delegationen aus aller Herren Länder, um diese wunderbaren Werke der Mildtätigkeit und Effizienz zu bestaunen und umgehend zu kopieren. Die zivilisierte Welt war begeistert von diesen Monumenten des Fortschritts und der Humanität. Noch besser war der Ruf der ersten amerikanischen Gefängnisse in Philadelphia und Auburn an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Die besten Köpfe der Zeit priesen das eine und/oder das andere System, aber alle waren überzeugt, dass die Gefängnisse etwas Gutes seien auf dem Weg zu mehr Humanität, Bildung und sozialer Entwicklung. Je mehr Gefängnisse eine Gesellschaft vorweisen konnte, desto stolzer waren ihre Bürger. Doch das ist heute anders. Je größer das Gefängnissystem in einem Staat, desto peinlicher ist es ihm. Das ist ein guter Nährboden für die Suche nach Alternativen. Wer im 18. Jahrhundert progressiv war, der entwarf Gefängnisse. Wer heute progressiv ist, sucht nach Alternativen. Das könnte durchaus darauf hindeuten, dass das Gefängnis seine beste Zeit schon hinter sich hat.  


== Ohne Gefängnisse oder ohne Einschließungsmilieus? ==
Gefängnisse sind Orte der Bestrafung durch Freiheitsentzug. Eine Welt ohne Gefängnisse ist dann ein lohnendes Ziel, wenn es sich dabei entweder um eine Welt ganz ohne Strafen handelt - dann braucht man logischerweise auch keine Gefängnisse mehr - oder wenn es sich um eine Welt handelt, die anders und besser straft.  
Gefängnisse sind Orte der Bestrafung durch Freiheitsentzug. Eine Welt ohne Gefängnisse ist dann ein lohnendes Ziel, wenn es sich dabei entweder um eine Welt ganz ohne Strafen handelt - dann braucht man logischerweise auch keine Gefängnisse mehr - oder wenn es sich um eine Welt handelt, die anders und besser straft.  


Zeile 54: Zeile 53:


*In Neuseeland wurde die Anzahl der Jugendstrafverfahren um zwei Drittel reduziert. Stattdessen wurden Alternativen zur Strafjustiz angewandt, vor allem Family Group Conferences und andere Formen der Restorative Justice. In Deutschland ist die quantitative Bedeutung von Mediation, Täter-Opfer-Ausgleich und anderen Alternativen hingegen äußerst gering.  
*In Neuseeland wurde die Anzahl der Jugendstrafverfahren um zwei Drittel reduziert. Stattdessen wurden Alternativen zur Strafjustiz angewandt, vor allem Family Group Conferences und andere Formen der Restorative Justice. In Deutschland ist die quantitative Bedeutung von Mediation, Täter-Opfer-Ausgleich und anderen Alternativen hingegen äußerst gering.  
== Garantismus und Standards für Restorative Justice ==
== Makrokriminalität und Abolitionismus ==
== Eine Welt ohne Gefängnisse ist notwendig ==


== Literatur ==
== Literatur ==
Anonymer Benutzer