Welt ohne Gefängnisse: Unterschied zwischen den Versionen

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Die Vorstellung einer Gesellschaft ohne Gefängnisse ist den meisten Menschen suspekt, weil sie Schwerverbrecher weder barbarisch töten noch blauäugig und grob fahrlässig frei herumlaufen lassen wollen. Vielleicht finden auch manche, dass einige super-gefährliche Straftäter den Tod verdient hätten - während auf der anderen Seite nicht gleich jeder, der auf die schiefe Bahn geraten ist, unbedingt ins Gefängnis gehört. Aber insgesamt sieht man das Gefängnis gleichwohl als ein notwendiges Übel, das man in manchen Fällen vielleicht optimieren oder gar durch Alternativen ersetzen, nie aber ganz und gar abschaffen kann - und auf das man, davon abgesehen, im Interesse der Sicherheit der Bevölkerung auch nicht verzichten sollte. Wer die öffentliche Diskussion verfolgt, könnte die Hypothese aufstellen, dass sogar viele Politiker die Existenz von Gefängnissen für so selbstverständlich halten, dass sie ohne weiteres der Aussage zustimmen würden: Gefängnisse hat es immer schon gegeben; Gefängnisse gibt es heute noch; und Gefängnisse wird es immer geben.  
Die Vorstellung einer Gesellschaft ohne Gefängnisse ist den meisten Menschen suspekt, weil sie Schwerverbrecher weder barbarisch töten noch frei herumlaufen lassen wollen: was bleibt da noch außer dem Gefängnis? Das Gefängnis ist das notwendige Übel par excellence. Gefängnisse, so scheint es, gehören zu der Klasse von Institutionen, die es immer schon gegeben hat und die es (leider) immer geben muss.  
 
Die Überzeugung von der Unmöglichkeit einer Welt ohne Gefängnisse erscheint trivial. In Wirklichkeit stellt sie aber eine überaus bemerkenswerte soziale Tatsache dar, illustriert sie doch die überraschende Situation einer überaus tiefen Kluft zwischen Alltagswissen und Wissenschaft. Vielleicht ist die Diskrepanz zwischen dem Stand der Wissenschaft und dem Stand der öffentlichen Meinung nirgendwo so riesig wie beim Thema "Verbrechen und Strafe".
Die Überzeugung von der Unmöglichkeit einer Welt ohne Gefängnisse erscheint trivial. In Wirklichkeit stellt sie aber eine überaus bemerkenswerte soziale Tatsache dar, illustriert sie doch die überraschende Situation einer überaus tiefen Kluft zwischen Alltagswissen und Wissenschaft. Vielleicht ist die Diskrepanz zwischen dem Stand der Wissenschaft und dem Stand der öffentlichen Meinung nirgendwo so riesig wie beim Thema "Verbrechen und Strafe".


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Welch Kontrast: als am Ende des 16. Jahrhunderts in Holland die ersten Zucht- und Arbeitshäuser gegründet wurden, kamen Delegationen aus aller Herren Länder, um diese wunderbaren Werke der Mildtätigkeit und Effizienz zu bestaunen und umgehend zu kopieren. Die zivilisierte Welt war begeistert von diesen Monumenten des Fortschritts und der Humanität. Noch besser war der Ruf der ersten amerikanischen Gefängnisse in Philadelphia und Auburn an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Die besten Köpfe der Zeit priesen das eine und/oder das andere System, aber alle waren überzeugt, dass die Gefängnisse etwas Gutes seien auf dem Weg zu mehr Humanität, Bildung und sozialer Entwicklung. Je mehr Gefängnisse eine Gesellschaft vorweisen konnte, desto stolzer waren ihre Bürger. Doch das ist heute anders. Je größer das Gefängnissystem in einem Staat, desto peinlicher ist es ihm. Das ist ein guter Nährboden für die Suche nach Alternativen. Wer im 18. Jahrhundert progressiv war, der entwarf Gefängnisse. Wer heute progressiv ist, sucht nach Alternativen. Das könnte durchaus darauf hindeuten, dass das Gefängnis seine beste Zeit schon hinter sich hat.  
Welch Kontrast: als am Ende des 16. Jahrhunderts in Holland die ersten Zucht- und Arbeitshäuser gegründet wurden, kamen Delegationen aus aller Herren Länder, um diese wunderbaren Werke der Mildtätigkeit und Effizienz zu bestaunen und umgehend zu kopieren. Die zivilisierte Welt war begeistert von diesen Monumenten des Fortschritts und der Humanität. Noch besser war der Ruf der ersten amerikanischen Gefängnisse in Philadelphia und Auburn an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Die besten Köpfe der Zeit priesen das eine und/oder das andere System, aber alle waren überzeugt, dass die Gefängnisse etwas Gutes seien auf dem Weg zu mehr Humanität, Bildung und sozialer Entwicklung. Je mehr Gefängnisse eine Gesellschaft vorweisen konnte, desto stolzer waren ihre Bürger. Doch das ist heute anders. Je größer das Gefängnissystem in einem Staat, desto peinlicher ist es ihm. Das ist ein guter Nährboden für die Suche nach Alternativen. Wer im 18. Jahrhundert progressiv war, der entwarf Gefängnisse. Wer heute progressiv ist, sucht nach Alternativen. Das könnte durchaus darauf hindeuten, dass das Gefängnis seine beste Zeit schon hinter sich hat.  


== Ein mögliches Ziel ==
== Ohne Gefängnisse oder ohne Einschließungsmilieus? ==
Gefängnisse sind Orte der Bestrafung durch Freiheitsentzug. Eine Welt ohne Gefängnisse ist dann ein lohnendes Ziel, wenn es sich dabei entweder um eine Welt ganz ohne Strafen handelt - dann braucht man logischerweise auch keine Gefängnisse mehr - oder wenn es sich um eine Welt handelt, die anders und besser straft.  
Gefängnisse sind Orte der Bestrafung durch Freiheitsentzug. Eine Welt ohne Gefängnisse ist dann ein lohnendes Ziel, wenn es sich dabei entweder um eine Welt ganz ohne Strafen handelt - dann braucht man logischerweise auch keine Gefängnisse mehr - oder wenn es sich um eine Welt handelt, die anders und besser straft.  


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*In einer breit angelegten Sekundäranalyse kommt John Braithwaite (2001) zu dem Schluss, dass es Alternativen zur traditionellen Strafjustiz und zum Gefängnis gibt, die diesen in jeder Hinsicht überlegen sind. In jeder Hinsicht heißt: im Hinblick auf die Bedürfnisse der Opfer von Straftaten, aber auch im Hinblick auf die Einwirkung auf die Täter und im Hinblick auf die Erwartungen des sozialen Umfeldes im Stadtviertel oder in der Gemeinde. Interessanterweise zeitigt Restorative Justice in der Praxis sogar im Hinblick auf die Ziele der Abschreckung, der Sicherung (Unschädlichmachung) und Resozialisierung bzw. Rehabilitation bessere Ergebnisse als das herkömmliche Strafsystem. "Aktive Abschreckung" als Teil einer dynamischen Regulationspyramide im Sinne Braithwaites ist geradezu ein Markenzeichen gut funktionierender Restorative Justice in einem dynamischen Eskalationssystem, das jeweils nur dann zur nächsten Stufe übergeht, wenn Reaktionen auf der darunter liegenden Intensitätsstufe wiederholt wirkungslos bleiben.
*In einer breit angelegten Sekundäranalyse kommt John Braithwaite (2001) zu dem Schluss, dass es Alternativen zur traditionellen Strafjustiz und zum Gefängnis gibt, die diesen in jeder Hinsicht überlegen sind. In jeder Hinsicht heißt: im Hinblick auf die Bedürfnisse der Opfer von Straftaten, aber auch im Hinblick auf die Einwirkung auf die Täter und im Hinblick auf die Erwartungen des sozialen Umfeldes im Stadtviertel oder in der Gemeinde. Interessanterweise zeitigt Restorative Justice in der Praxis sogar im Hinblick auf die Ziele der Abschreckung, der Sicherung (Unschädlichmachung) und Resozialisierung bzw. Rehabilitation bessere Ergebnisse als das herkömmliche Strafsystem. "Aktive Abschreckung" als Teil einer dynamischen Regulationspyramide im Sinne Braithwaites ist geradezu ein Markenzeichen gut funktionierender Restorative Justice in einem dynamischen Eskalationssystem, das jeweils nur dann zur nächsten Stufe übergeht, wenn Reaktionen auf der darunter liegenden Intensitätsstufe wiederholt wirkungslos bleiben.
*In der Schweiz kommt man, was die Jugendstrafe angeht, mit einer Höchststrafe von vier Jahren (bis 2006: einem Jahr) aus. Im Vergleich zu Deutschland befindet sich nur ein Bruchteil der verurteilten jungen Mörder, Sexual- und Gewalttäter in offenen Maßregeleinrichtungen; die Mehrheit befindet sich in offenen Maßregeleinrichtungen.
*In Neuseeland wurde die Anzahl der Jugendstrafverfahren um zwei Drittel reduziert. Stattdessen wurden Alternativen zur Strafjustiz angewandt, vor allem Family Group Conferences und andere Formen der Restorative Justice. In Deutschland ist die quantitative Bedeutung von Mediation, Täter-Opfer-Ausgleich und anderen Alternativen hingegen äußerst gering.


== Literatur ==
== Literatur ==
*Bernhard, Sigrid et al. (1990) Arnoldshainer Thesen zur Abschaffung der Freiheitsstrafe. Zeitschrift für Evangelische Ethik 34: 218-294.
*Bernhard, Sigrid et al. (1990) Arnoldshainer Thesen zur Abschaffung der Freiheitsstrafe. Zeitschrift für Evangelische Ethik 34: 218-294.


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