Moralische Panik: Unterschied zwischen den Versionen

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Ein zentrales Merkmal besteht in der als [[Spiraleffekt]]<ref name= "Thomson8"/> bezeichneten Verlaufsform einer moralischen Panik.
Ein zentrales Merkmal besteht in der als [[Spiraleffekt]]<ref name= "Thomson8"/> bezeichneten Verlaufsform einer moralischen Panik.
Dieser zieht sich folgendermaßen hin: Zunächst entstehen Befürchtungen über das Verhalten einer sozialen Gruppe oder Klasse, welches von Teilen der Bevölkerung als Bedrohung der gesellschaftlichen Werte bzw. der moralischen Ordnung eingeordnet wird. Diese Bedrohung wird daraufhin in einer sensationslüsternen Berichterstattung von den Medien rezipiert und unterstützt dadurch das Ausmaß und die Intensität der gesellschaftlichen Befürchtung. An diesem Punkt folgt eine Reaktion von Autoritäten oder einflussreichen Meinungsmachern, welcher zur Unterbindung des als abweichend und gefährlich charakterisierten Verhaltens aufrufen.<ref name= "Thomson8"/>
Dieser Spiraleffekt zieht sich folgendermaßen hin: Zunächst entstehen Befürchtungen über das Verhalten einer sozialen Gruppe oder Klasse, welches von Teilen der Bevölkerung als Bedrohung der gesellschaftlichen Werte bzw. der moralischen Ordnung eingeordnet wird. Diese Bedrohung wird daraufhin in einer sensationslüsternen Berichterstattung von den Medien rezipiert und unterstützt dadurch das Ausmaß und die Intensität der gesellschaftlichen Befürchtung. An diesem Punkt folgt eine Reaktion von Autoritäten oder einflussreichen Meinungsmachern, welche zur Unterbindung des Verhaltens aufrufen.<ref name= "Thomson8"/>
   
   
Die Soziologen [[Erich Goode]] und [[Nachman Ben- Yehuda]] arbeiten in ihrem Buch ''"Moral Panics: The social construction of deviance"'' fünf signifikante Merkmale, welche das Phänomen der  moralischen Panik näher charakterisieren, heraus.<ref name="Indicators of the Moral Panic"> Goode, Erich/ Ben- Yehuda Nachman: ''Indicators of the Moral Panic'' In: ''Moral Panics: the social construction of deviance'', 1994, Blackwell Publishing, Malden S. 33- </ref>
Die Soziologen [[Erich Goode]] und [[Nachman Ben- Yehuda]] arbeiten in ihrem Buch '' "Moral Panics: The social construction of deviance"'' fünf signifikante Merkmale, welche einer moralischen Panik inhärent sind, heraus.<ref name="Indicators of the Moral Panic"> Goode, Erich/ Ben- Yehuda Nachman: ''Indicators of the Moral Panic'' In: ''Moral Panics: the social construction of deviance'', 1994, Blackwell Publishing, Malden S. 33- </ref>
=== Besorgnis ===
=== Besorgnis ===
(''Concern'')  
(''Concern'')  
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Innerhalb der Gesellschaft entstehen Befürchtungen über das spezifische Verhalten einer Gruppe. Dieses wird von den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern als abweichend und bedrohend empfunden. Die Befürchtungen kommen in Form [[öffentlicher Umfragen]], [[Medienkommentare]], [[Gesetzgebungen]] oder [[sozialen Bewegungen]] zum Ausdruck. <ref name="Indicators of the Moral Panic"/>
Innerhalb der Gesellschaft entstehen Befürchtungen über das spezifische Verhalten einer Gruppe. Dieses wird von den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern als abweichend und bedrohlich empfunden. Die Befürchtungen kommen in Form [[öffentlicher Umfragen]], [[Medienkommentaren]], [[Gesetzgebungen]] oder [[sozialen Bewegungen]] zum Ausdruck. <ref name="Indicators of the Moral Panic"/>
=== Feindesligkeit ===
=== Feindesligkeit ===
(''Hostility'')'''
(''Hostility'')'''
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Es liegt eine kollektiv geteilte Feindseligkeit gegenüber der als Bedrohungen und als grundsätzlich bösartig empfundenen gesellschaftlichen Gruppe oder Klasse vor. Dabei entsteht eine Dichotomie zwischen ''"Wir"'' und ''"Denen"'', welche durch die Bildung von [[Stereotypen]] forciert wird. Diese [[Stereotypenbildung]] weist in ihrer Struktur Ähnlichkeiten zu der Bildung von Stereotypen, welche bei der Verdächtigung von Kriminellen von der Polizei verwendet werden, auf. <ref name="Indicators of the Moral Panic"/>
Es liegt eine kollektiv geteilte Feindseligkeit gegenüber der als Bedrohungen und als grundsätzlich bösartig empfundenen gesellschaftlichen Gruppe oder Klasse vor. Dabei entsteht eine Dichotomie zwischen ''"Wir"'' und ''"Denen"'', welche durch die Bildung von [[Stereotypen]] verstärkt wird. Diese [[Stereotypenbildung]] weist in ihrer Struktur Ähnlichkeiten zu der Bildung von Stereotypen, welche im Rahmen von Verdächtigungen gegenüber [[Kriminellen]] durch die Polizei verwendet werden, auf. <ref name="Indicators of the Moral Panic"/>
=== Übereinstimmung ===
=== Übereinstimmung ===
(''Consensus'')
(''Consensus'')
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Um von einer moralischen Panik zu sprechen besteht keine Voraussetzung darin, dass die gesamte Gesellschaft die Besorgnis über das Verhalten einer Gruppe teilen muss. Da Gefahr eine subjektiv wahrgenommene Größe darstellt, kann es  keine klare Definition darüber geben, wann deren Ausmaß grundlegende, moralische Werte bedroht. Zu welchem Zeitpunkt von einer Gefahrensituation gesprochen werden kann ist relativ. Demzufolge gilt für das Auftreten einer moralischen Panik, dass ein substantieller Teil der Bevölkerung Besorgnis über das Verhalten einer gesellschaftlichen Gruppe zeigt und diese Sorge in den [[fünf Segmenten]] zum Ausdruck gebracht wird.<ref name="Indicators of the Moral Panic" />
Um von einer moralischen Panik zu sprechen besteht keine Voraussetzung darin, dass die gesamte Gesellschaft die Besorgnis über das Verhalten einer Gruppe teilen muss. Da Gefahr eine subjektiv wahrgenommene Größe darstellt, kann es  keine klare Definition darüber geben, wann deren Ausmaß grundlegende, moralische Werte ernsthaft bedroht. Zu welchem Zeitpunkt von einer Gefahrensituation gesprochen werden kann ist relativ. Demzufolge gilt für das Auftreten einer moralischen Panik, dass ein substantieller Teil der Bevölkerung Besorgnis über das Verhalten einer gesellschaftlichen Gruppe zeigt und diese Sorge von spezifischen Aktueren <ref>siehe dazu Punkt 3</ref>zum Ausdruck gebracht wird.<ref name="Indicators of the Moral Panic" />
=== Disproportionalität ===
=== Disproportionalität ===
(''Disproportionality'')
(''Disproportionality'')
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Disproportionalität beschreibt die Unverhältnismäßigkeit zwischen dem in der Gesellschaft subjektiv wahrgenommenen und objektiven Ausmaß der Gefahr. Folgendes Zitat benennt diese Unverhältnismäßigkeit in ihrem Kern: ''"Objective molehills have been made into subjective mountains."''<ref>Jones, Brian J./Gallagher Bernard J./III/ and Mc. Falls Jr., Joseph A.: Toward a unified model for social problems theory, In: '' Journal for the Theory of Social Behaviour'' ,Nr. 19, 1989, S. 337 -56 </ref> Der [[Aspekt der Disproportionalität]] ist umstritten, da es sich hierbei um eine Größe handelt, die praktisch nicht messbar ist. Kritiker, vor allem Vertreter des Konstruktivismus <ref> Für ausführliche Informationen siehe: Joseph Schneider and John. J. Kitsuse: ''Studies in the Sociology of Social Problems'', 1989, Norwood, NJ oder Woolgar, Steve/ Pawluch, Dorothy:''Ontological gerrymandering: the anatomy of social problems explanations'', Social Problems, 32, 1985, S. 213 -27, http://epl.scu.edu/~stsvalues/readings/OntologicalGerrymandering.pdf, aufgerufen am 16.07.12, aus Goode, Erich/ Ben- Yehuda Nachman: ''Indicators of the Moral Panic'' In: ''Moral Panics: the social construction of deviance'', 1994, Blackwell Publishing, Malden S. 37 </ref>  gehen davon aus, dass Disproportionalität sozial konstruiert ist und objektiv gesehen eine leere Hülle darstellt.<ref name="Indicators of the Moral Panic" /> Die empirische Validität ist folglich fragwürdig. Yehuda und Goode zufolge kann ein gewisses Ausmaß an Disproportionalität allerdings anhand einer Gegenüberstellung von empirischen Datenmaterial und den im öffentlichen Diskurs geführten Aussagen festgestellt werden. Beispielsweise konnten die Wissenschaftler anhand eines Vorfalls im israelischen Parlament von 1982 die Vorlegung übertriebener Zahlen, welche zur Entwicklung einer moralischen Panik beitrugen, aufzeigen. In diesem Zusammenhang legten ein Parlamentsmitglied und Repräsentanten der Polizei Zahlen vor, denen zufolge die Hälfte aller israelischen Gymnasiasten [[Haschisch]] konsumieren würden. Daten aus systematischen Erhebungen belegten demgegenüber einen Haschischkonsum von 3-5 % der Schüler. <ref name="Criteria of Diproportionality">:Goode, Erich/ Ben- Yehuda Nachman: ''Criteria of Disproportionality'' In: Moral Panics: the social construction of deviance, 1994, Blackwell Publishing, Malden S. 43 f. </ref> Diese Vergleich deutet darauf hin, dass im Kontext von Diskursen über abweichendes Verhalten Daten verwendet werden, welche eine besorgte Stimmung unterstützen oder auch intensivieren können. Des Weiteren weisen Goode und Yehuda auf das Vorliegen einer Disproportionalität hin, sobald extreme Besorgnis über eine Problematik besteht, welche im Vergleich zu einer anderen Problematik in ihrem Umfang wesentlich extremer ist.<ref name="Criteria of Diproportionality"/>  In der Feststellung von Disproportionalität ist es außerdem sinnvoll zwischen aktuellen [[(z.B. Drogenmissbrauch)]] und zukünftigen (z.B. Klimawandel) Bedrohungen zu unterscheiden.<ref name="Indicators of the Moral Panic"/> Empirische Daten über zukünftige Bedrohungen basieren im Wesentlichen auf Hypothesen, was eine Aussage über die Proportionalität erschwert.
Disproportionalität beschreibt die Unverhältnismäßigkeit zwischen dem in der Gesellschaft subjektiv wahrgenommenen und objektiven Ausmaß der Gefahr. Folgendes Zitat benennt diese Unverhältnismäßigkeit in ihrem Kern: ''"Objective molehills have been made into subjective mountains."''<ref>Jones, Brian J./Gallagher Bernard J./III/ and Mc. Falls Jr., Joseph A.: Toward a unified model for social problems theory, In: '' Journal for the Theory of Social Behaviour'' ,Nr. 19, 1989, S. 337 -56 </ref> Der [[Aspekt der Disproportionalität]] ist umstritten, da es sich hierbei um eine Größe handelt, die praktisch nicht messbar ist. Kritiker, vor allem Vertreter des Konstruktivismus <ref> Für ausführliche Informationen siehe: Joseph Schneider and John. J. Kitsuse: ''Studies in the Sociology of Social Problems'', 1989, Norwood, NJ oder Woolgar, Steve/ Pawluch, Dorothy:''Ontological gerrymandering: the anatomy of social problems explanations'', Social Problems, 32, 1985, S. 213 -27, http://epl.scu.edu/~stsvalues/readings/OntologicalGerrymandering.pdf, aufgerufen am 16.07.12, aus Goode, Erich/ Ben- Yehuda Nachman: ''Indicators of the Moral Panic'' In: ''Moral Panics: the social construction of deviance'', 1994, Blackwell Publishing, Malden S. 37 </ref>  gehen davon aus, dass Disproportionalität sozial konstruiert ist und objektiv gesehen eine leere Hülle darstellt.<ref name="Indicators of the Moral Panic" /> Die empirische Validität ist folglich fragwürdig. Yehuda und Goode zufolge kann ein gewisses Ausmaß an Disproportionalität allerdings mittels einer Gegenüberstellung von empirischen Datenmaterial und den im öffentlichen Diskurs geführten Aussagen festgestellt werden. Beispielsweise konnten die Wissenschaftler anhand eines Vorfalls im israelischen Parlament von 1982 die Vorlegung übertriebener Zahlen, welche zur Entwicklung einer moralischen Panik beitrugen, aufzeigen. In diesem Zusammenhang legten ein Parlamentsmitglied und Repräsentanten der Polizei Zahlen vor, denen zufolge die Hälfte aller israelischen Gymnasiasten [[Haschisch]] konsumieren würden. Daten aus systematischen Erhebungen belegten demgegenüber einen Haschischkonsum von 3-5 % der Schüler. <ref name="Criteria of Diproportionality">:Goode, Erich/ Ben- Yehuda Nachman: ''Criteria of Disproportionality'' In: Moral Panics: the social construction of deviance, 1994, Blackwell Publishing, Malden S. 43 f. </ref> Dieser Vergleich deutet darauf hin, dass im Kontext von Diskursen über abweichendes Verhalten Daten verwendet werden, welche eine besorgte Stimmung unterstützen oder auch intensivieren können. Des Weiteren weisen Goode und Yehuda auf das Vorliegen einer Disproportionalität hin, sobald extreme Besorgnis über eine Problematik besteht, welche im Vergleich zu anderen Problematiken einen wesentlich größeren Umfang aufweist.<ref name="Criteria of Diproportionality"/>  In der Feststellung von Disproportionalität ist es außerdem sinnvoll zwischen aktuellen ([[z.B. Drogenmissbrauch]]) und zukünftigen (z.B. Klimawandel) Bedrohungen zu unterscheiden,<ref name="Indicators of the Moral Panic"/> da empirische Daten über zukünftige Bedrohungen im Wesentlichen auf Hypothesen basieren, was wiederum zu einer erschwerten Aussage über Proportionalität führt.
=== Votalität ===
=== Votalität ===
(''Volatility'')  
(''Volatility'')  
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Das Ausmaß einer moralische Panik ist temporär begrenzt und von schwankender Intensität gekennzeichnet. Die dabei aufkommende, extreme Feindseligkeit von Bevölkerungsteilen gegenüber sozialen Gruppen ist nur über einen begrenzten Zeitraum tragfähig. Oftmals tritt eine moralische Panik erruptiv ein und kann anschließend wieder zügig verschwinden oder, nachdem sie ihren Lauf genommen hat, institutionalisiert werden. Bei länger andauernden Befürchtungen können Phasen moralischer Panik hintereinander auftreten.<ref name="Indicators of the Moral Panic" /> Anhand der Charakteristika: Dauer und Schwankungen kann eine moralische Panik von anderen, öffentlichen Befürchtungen über mögliche Gefahren unterschieden werden.     
Das Ausmaß einer moralische Panik ist temporär begrenzt und von schwankender Intensität gekennzeichnet. Die dabei aufkommende, extreme Feindseligkeit von Bevölkerungsteilen gegenüber sozialen Gruppen ist nur über einen begrenzten Zeitraum tragfähig. Oftmals tritt eine moralische Panik erruptiv ein und kann anschließend wieder zügig verschwinden oder, nachdem sie ihren Lauf genommen hat, institutionalisiert werden. Bei länger andauernden Befürchtungen können Phasen moralischer Panik hintereinander auftreten.<ref name="Indicators of the Moral Panic" /> Anhand der Charakteristika: Dauer und Schwankungen kann eine moralische Panik von anderen, öffentlichen Befürchtungen über mögliche Gefahren unterschieden werden.<ref name="Indicators of the Moral Panic"/>    


Moralische Panik tritt außerdem auf sobald sich die folgenden vier Gebiete überlappen: Devianz, soziale Probleme, [[kollektives Verhalten]] und [[soziale Bewegungen]]. <ref> Goode, Erich/ Ben- Yehuda Nachman: ''Moral Panics: Four Overlapping Terrotories'' In: ''Moral Panics: the social construction of deviance'', 1994, Blackwell Publishing, Malden S. 52 f. </ref>
Moralische Panik wird nach Goode und Yehuda in ihrem Auftreten außerdem von der Überlappung vier folgender Gebiete gekennzeichnet: Devianz, soziale Probleme, [[kollektives Verhalten]] und [[soziale Bewegungen]]. <ref> Goode, Erich/ Ben- Yehuda Nachman: ''Moral Panics: Four Overlapping Terrotories'' In: ''Moral Panics: the social construction of deviance'', 1994, Blackwell Publishing, Malden S. 52 f. </ref>


== Akteure ==
== Akteure ==
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