Moralische Panik

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Moralische Panik (aus dem engl. Moral Panic) bezeichnet ein Phänomen, bei dem eine soziale Gruppe oder Kategorie aufgrund ihres Verhaltens von der breiten Öffentlichkeit als Gefahr für die moralische Ordnung der Gesellschaft gekennzeichnet wird. Ziel der öffentlichen Aufruhr ist die Unterbindung des als Bedrohung empfundenen Verhaltens auf langfristige Sicht. Die dabei entstehende öffentliche Dynamik wird durch eine sensationsfokussierte Medienberichterstattung und privat organisierte Initiativen begleitet. Häufig handelt es sich dabei um Problematiken wie Kindesmissbrauch, Drogenmissbrauch oder kriminelles Verhalten von Jugendlichen. Letztendlich führt die moralische Panik zu einer Verstärkung der sozialen Kontrolle und der Verringerung der Wahrscheinlichkeit für einen normativen Wertewandel.[1]

Inhaltsverzeichnis

Geschichte und Bedeutung

Auf das Phänomen Moral Panic wurde erstmalig durch den britischen Soziologen Jock Young im Jahr 1971 Bezug genommen.[1] Dieser stellte einen Zusammenhang zwischen der, unter Befürchtungen geführten Diskussion über einen Anstieg der statistischen Daten zum Missbrauch von Drogen und dem verstärkten Aufgebot von Polizeieinsätzen sowie dem Anstieg von gerichtlichen Verurteilungen in diesem Zusammenhang her. [2] Systematisch führte Stanley Cohen, in seinem 1972 veröffentlichten Werk "Folk devils and Moral Panics", in das Konzept der moralischen Panik ein. Darin fokussiert er hauptsächlich die Reaktion der Medien und das Verhalten der politischen sowie öffentlichen Akteure von Jugendlichen, sogenannten ''Mods and Rockers'', in den 1960-er Jahren in Großbritannien.[1] [3]

Stanley Cohen: "Folk Devils and Morals Panics"

In "Folk Devils and Moral Panics" analysierte Stanley Cohen den Ausbruch einer moralischen Panik, ausgelöst durch das deviante Verhalten jugendlicher Gruppen in britischen Kleinstädten. Auslöser der Panik war ein aufsehenerregender Straßenkampf in Clacton, einem Küstenort in Großbritannien. Am Karsamstag im Jahr 1964 wurde Clacton Schauplatz einer Aufruhr von Jugendlichen. Es fand ein Streit darüber statt, dass ein Barbesitzer die Bedienung einer Gruppe Jugendlicher verweigerte. Daraufhin entwickelte sich ein Handgemenge, ein Pistolenschuss wurde abgegeben und eine Scheibe im Wert von 500 Pfund zerbrach. Die Polizei inhaftierte infolgedessen circa 100 Jugendliche aufgrund missbräuchlichen Verhaltens gegenüber der Polizei.Referenzfehler: Ungültige Verwendung von <ref>: Der Parameter „name“ ist ungültig oder zu lang. Die Reaktion der britischen Medien auf diesen Vorfall war enorm. Bis auf die britische "Times" befand sich das Ereignis auf allen Titelseiten bedeutungsvoller, britischer Tageszeitungen. Darüber hinaus entwickelten sich in der Bevölkerung Bezeichnungen der jugendlichen Gruppen, als "Mods and Rockers" und deren Deklaration als gefährliche "Folk Devils".[4]

Cohen ging bei seiner Analyse von einem Stufenmodell aus, welches aus dem Bereich des Katastrophenverhalten stammt. Demzufolge ereignete sich bei den Vorfällen in Clacton zunächst eine anfängliche, als stark deviant charakterisierte Phase, welche später in eine Stufe der Beständigkeit überging. In diesem Zusammenhang untersuchte Cohen die Rolle der Medien nach drei Kriterien:

  1. Übertreibung und Verzerrung: Cohen konnte in den Medienberichten ein breite Verwendung von melodramatischem Vokabular und sensationslüsternen Schlagzeilen erkennen. Außerdem bemerkte er fälschliche Aussagen in den Zeitungsberichten. Beispielsweise veröffentlichte eine Zeitung, dass die Fenster aller Diskotheken zerbrochen waren. Faktisch gab es in Clacton aber nur eine Diskothek bei der nur einzelne Fenster zu Bruch gegangen waren. [5]
  2. Prognosen: Die Zeitungen meldeten Prognosen über mögliche Wiederholungen und Ausbreitungen solcher Unruhen. Dabei gingen sie sogar von Verschlimmerungen der Situation und einer Bedrohung des Frieden aus.[5]
  3. Symbolisierungen: Zudem fand eine Symbolisierung der vermeintlichen Täter statt. Beispielsweise wurden Schlüsselsymbole wie Haarschnitte oder Kleidungsstile ihrer neutralen Konnotation entnommen und mit negativen Assoziationen belegt. Dies wurde auch daran ersichtlich, dass vor den Ereignissen in Clacton eine mediale Berichterstattung über "Hooligans" oder "Gang Fights" stattgefunden hatte, welche aber nicht von einem extremen Gefahrenpotenzial dieser Gruppen gekennzeicnet war.

Neben den Medien spielt bei der Entwicklung einer moralischen Panik über jugendliches, gewalttätiges Verhalten das Handeln von Politikern und sozialen Gruppen eine bedeutende Rolle. Im Fall von Clacton wollten die lokalen Politiker die Diskussion über die Vorfälle sowie die damit verbundene Problematik auf nationale politische Ebene bringen. Dazu sendeten sie Berichte in das britische Innenministerium sodass vor dem Hintergrund des Vorfalls und den mögliche Konsequenzen die Thematik im Unterhaus debattiert wurde. Daneben bildeten sich auch lokale Gruppen, die eine effektives Vorgehen gegen das deviante Verhalten forderten. [6]

Bedeutung im Kontext aktueller Forschung und neue Entwicklungen

Das Konzept der Moral Panic entstand in den 1960-er Jahren aus der Verbindung von Theorieströmungen aus den Bereichen der kritischen Soziologie, der Labeling Theorie und den "cultural politics" [7] Stanley Cohen zeichnet in der Einleitung zu "Folk Devils and Moral Panics" in der dritten Auflage aus dem Jahr 2002 einen aktualisierten Forschungskontext auf. Gegenwärtig ist das Konzept der moralischen Panik in den Media and Cultural Studies, in der Diskursanalyse sowie in der Soziologie über deviantes Verhalten präsent.

Cohen fasst sieben Cluster sozial konstruierter Identitäten, in dessen Umfeld moralische Paniken häufig auftreten, zusammen:

Zudem weist Cohen darauf hin, dass die Betrachtung der Medien im aktuellen Forschungskontext der moralischen Panik von großer Wichtigkeit sei. Medien gelten ihmzufolge als erste Quelle der öffentlichen Meinung und produzieren dabei das Wissen über die Devianz, der als problematisch bezeichneten Verhaltensweisen spezifischer Gruppen. Nach Cohen erfüllen sie in diesem Zusammenhang drei Rollen [7]:

  1. Weichenstellung: Die Repräsentanten der Medien wählen die Vorfälle aus über die sie berichten werden.
  2. Transmission der Darstellung: Innerhalb der medialen Berichterstattung über den Vorfall findet eine Übertragung in eine spezifische Rhetorik statt.
  3. Durchbrechen der Stille: Medien treten mittlerweile selber als Anspruchssteller auf. Beispielsweise lauten Schlagzeilen folgendermaßen: "Would you like a paedophile as your neighbour?"[8]

Insgesamt konnte in den letzten Jahren sowohl eine verstärkte Einmischung der Medien als auch eine Veränderungen der medialen Berichterstattung über abweichendes Verhalten beobachtet werden. Kriminalität und abweichendes Verhalten werden dabei als in der Gesellschaft weit verbreitete Phänomene dargestellt. Zudem findet eine stärkere Fokussierung der Opfer statt. Der Hintergrund des Täters, seine Motive und sein Kontext, treten dadurch in den Hintergrund und können leichter mit bösartigen und gefährlichen Eigenschaften ausgestattet werden. Insgesamt hat sich die Repräsentantion von Kriminalität in den Medien und deren Umgang damit gewandelt. Beispielsweise gibt es Entwicklungen die als Virtueller Gerichtsvollzug (''virtual vigilantism'')[9] bezeichnet werden. Diese Entwicklungen werden vor allem in Boulveradblättern sowie einigen Talkshows sichtbar. [7]

Merkmale

Ein zentrales Merkmal besteht in der als Spiraleffekt[1] bezeichneten Verlaufsform einer moralischen Panik. Dieser Spiraleffekt zieht sich folgendermaßen hin: Zunächst entstehen Befürchtungen über das Verhalten einer sozialen Gruppe oder Klasse, welche von Teilen der Bevölkerung als Bedrohung der gesellschaftlichen Werte bzw. der moralischen Ordnung eingeordnet wird. Diese Bedrohung wird daraufhin in einer sensationslüsternen Berichterstattung von den Medien rezipiert und unterstützt dadurch das Ausmaß und die Intensität der gesellschaftlichen Befürchtung. An diesem Punkt folgt eine Reaktion von Autoritäten oder einflussreichen Meinungsmachern, welche zur Unterbindung des Verhaltens aufrufen.[1]

Die Soziologen Erich Goode und Nachman Ben- Yehuda arbeiten in ihrem Buch "Moral Panics: The social construction of deviance" fünf signifikante Merkmale, welche einer moralischen Panik inhärent sind, heraus.[10]

Besorgnis

(Concern)

Innerhalb der Gesellschaft entstehen Befürchtungen über das spezifische Verhalten einer Gruppe. Dieses wird von den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern als abweichend und bedrohlich empfunden. Die Befürchtungen kommen in Form öffentlicher Umfragen, Medienkommentaren, Gesetzgebungen oder sozialen Bewegungen zum Ausdruck. [10]

Feindesligkeit

(Hostility)

Es liegt eine kollektiv geteilte Feindseligkeit gegenüber der als Bedrohungen und als grundsätzlich bösartig empfundenen, gesellschaftlichen Gruppe oder Klasse vor. Dabei entsteht eine Dichotomie zwischen "Wir" und "Denen", welche durch die Bildung von Stereotypen verstärkt wird. Diese Stereotypenbildung weist in ihrer Struktur Ähnlichkeiten zu der Bildung von Stereotypen, welche im Rahmen von Verdächtigungen gegenüber Kriminellen durch die Polizei verwendet werden, auf. [10]

Übereinstimmung

(Consensus)

Um von einer moralischen Panik zu sprechen besteht keine Voraussetzung darin, dass die gesamte Gesellschaft die Besorgnis über das Verhalten einer Gruppe teilen muss. Da Gefahr eine subjektiv wahrgenommene Größe darstellt, kann es keine klare Definition darüber geben, wann deren Ausmaß grundlegende, moralische Werte ernsthaft bedroht. Zu welchem Zeitpunkt von einer Gefahrensituation gesprochen werden kann ist relativ. Demzufolge gilt für das Auftreten einer moralischen Panik, dass ein substantieller Teil der Bevölkerung Besorgnis über das Verhalten einer gesellschaftlichen Gruppe zeigt und diese Sorge von spezifischen Aktueren [11]zum Ausdruck gebracht wird.[10]

Disproportionalität

(Disproportionality)

Disproportionalität beschreibt die Unverhältnismäßigkeit zwischen dem in der Gesellschaft subjektiv wahrgenommenen und objektiven Ausmaß der Gefahr. Folgendes Zitat benennt diese Unverhältnismäßigkeit in ihrem Kern: "Objective molehills have been made into subjective mountains." [12] Der Aspekt der Disproportionalität ist umstritten, da es sich hierbei um eine Größe handelt, die praktisch nicht messbar ist. Kritiker, vor allem Vertreter des Konstruktivismus [13] gehen davon aus, dass Disproportionalität sozial konstruiert ist und objektiv gesehen eine leere Hülle darstellt.[10] Die empirische Validität ist folglich fragwürdig. Yehuda und Goode zufolge kann ein gewisses Ausmaß an Disproportionalität allerdings mittels einer Gegenüberstellung von empirischen Datenmaterial und den im öffentlichen Diskurs geführten Aussagen festgestellt werden. Beispielsweise konnten die Wissenschaftler anhand eines Vorfalls im israelischen Parlament von 1982 die Vorlegung übertriebener Zahlen, welche zur Entwicklung einer moralischen Panik beitrugen, aufzeigen. In diesem Zusammenhang legten ein Parlamentsmitglied und Repräsentanten der Polizei Zahlen vor, denen zufolge die Hälfte aller israelischen Gymnasiasten Haschisch konsumieren würden. Daten aus systematischen Erhebungen belegten demgegenüber einen Haschischkonsum von 3-5 % der Schüler. [14] Dieser Vergleich deutet darauf hin, dass im Kontext von Diskursen über abweichendes Verhalten Daten verwendet werden, welche eine besorgte Stimmung unterstützen oder auch intensivieren können. Des Weiteren weisen Goode und Yehuda auf das Vorliegen einer Disproportionalität hin, sobald extreme Besorgnis über eine Problematik besteht, welche im Vergleich zu anderen Problematiken einen wesentlich größeren Umfang aufweist.[14] In der Feststellung von Disproportionalität ist es außerdem sinnvoll zwischen aktuellen (z.B. Drogenmissbrauch) und zukünftigen (z.B. Klimawandel) Bedrohungen zu unterscheiden,[10] da empirische Daten über zukünftige Bedrohungen im Wesentlichen auf Hypothesen basieren, was wiederum zu einer erschwerten Aussage über Proportionalität führt.

Votalität

(Volatility)

Das Ausmaß einer moralische Panik ist temporär begrenzt und von schwankender Intensität gekennzeichnet. Die dabei aufkommende, extreme Feindseligkeit von Bevölkerungsteilen gegenüber sozialen Gruppen ist nur über einen begrenzten Zeitraum tragfähig. Oftmals tritt eine moralische Panik erruptiv ein und kann anschließend wieder zügig verschwinden oder, nachdem sie ihren Lauf genommen hat, institutionalisiert werden. In Zeiträumen bei denen die Besorgnis anhält können Phasen moralischer Panik hintereinander auftreten.[10] Anhand der Charakteristika: Dauer und Schwankungen kann eine moralische Panik von anderen, öffentlichen Befürchtungen über mögliche Gefahren unterschieden werden.[10]

Moralische Panik wird nach Goode und Yehuda in ihrem Auftreten außerdem von der Überlappung vier folgender Gebiete gekennzeichnet: Devianz, soziale Probleme, kollektives Verhalten und soziale Bewegungen. [15]

Akteure

Ausdrucksform

Anhand der Untersuchung von Akteuren versucht Stanley Cohen die praktische Ausdrucksform einer moralischen Panik zu skizzieren und fasst diese in fünf Segmenten zusammen.

Medien

Medien stellen in der Verbreitung von öffentlicher, moralischer Erregung eine Kernposition dar. Dabei funktionieren sie nach ihren eigenen Spielregeln. Zunächst ist wichtig zu beachten, dass die Informationsgewinnung in modernen Gesellschaften über den zweiten Weg verläuft. Dies bedeutet, dass die Informationen von politischen und kommerziellen Beschränkungen geformt werden, bevor sie an die Öffentlichkeit gelangen. Ein Zitat von Cohen benennt diesen Umstand: "(…) this means that the information has been subject to alternative definitions of what constitutes news and how it should be gathered and presented." [16]. Die Medienberichterstattung weist zudem hohe Auswirkungen auf die emotionale Gefühlslage ihrer Leserschaft auf. Meist hinterlässt sie in der Darstellung ihrer Geschichten bei den Lesern unklare Gefühlslagen, welche für den weiteren Verlauf einer moralischen Panik wesentlich sind. Darüber hinaus sind Medienberichten von der Herstellung von Mythen (''myth-making'') gekennzeichnet und folgen einem stereotypen Muster. [17] Die mediale Berichterstattung steht auch in Verbindung zu einem statistisch, erfassten Anstieg über deviantes Verhalten in der Gesellschaft. Hierbei stellt ''Leslie T. Wilkins'' in seinem Buch: "Social deviance: social policy, action and research" eine Reaktionsverkettung zwischen der medialen Berichterstattung, der gesellschaftlichen Reaktion und dem Anstieg von Devianz her. [18]

Öffentlichkeit

Um von einer moralischen Panik zu sprechen muss die Öffentlichkeit ihre Besorgnis über das Verhalten einer Gruppe ausdrücken. Nicht alle Medienberichte lösen eine moralische Panik aus. Eine zentrale Voraussetzung besteht darin, dass innerhalb der Gesellschaft eine Unsicherheit und ein damit einhergehendes, latentes Potenzial zum Ausbruch einer extremen Befürchtung bereits existieren.[19]

Polizei und gerichtliche Instanzen

Im öffentlichen und medialen Diskurs wird eine Unterbindung und stärkere Kontrolle von dem als bedrohlich deklarierten Verhalten gefordert. Polizei und rechtliche Instanzen gelten dabei als effektive Akteure um das abweichende Verhalten zu unterbinden und ein Gefühl der Kontrolle zu erzeugen. Die Forderungen und der erhöhte Einsatz von polizeilichen sowie gerichtlichen Maßnahmen können Strukturen einer Kultur der sozialen Kontrolle etablieren.[20] Nach Cohen ist die Reaktion einer Kultur der Kontrolle in drei Elementen geteilt: Diffusion, Eskalation und Innovation.

  1. Diffusion: In diesem Zusammenhang erhält die Stärkung der Zusammenarbeit von Polizeistellen auf regionaler sowie nationaler Ebene und deren verstärkte Verbindungen zu national agierenden, gerichtlichen Institutionen eine wichtige Bedeutung. Diese führt zu einer Diffusion des devianten Verhaltens auf breiterer regionaler Ebene und wird in der Ausweitung von Polizeieinsätzen, polizeilichen Maßnahmen und dem Anstieg von Inhaftierungen ersichtlich.
  2. Eskalation: Das Ausmaß und die Intensität der Kultur der sozialen Kontrolle kann durch eines von der breiten Öffentlichkeit geteilten, generalisierten Systems von Überzeugungen über die Auslösenden des abweichenden Verhaltens wesentlich bestimmt werden. Sobald sich vorurteilsbasierte Überzeugungen und Gedanken entwickeln kann es zu einer Eskalation zwischen der Öffentlichkeit und den Maßnahmen der Polizei kommen.
  3. Innovation: Unter dem Leitsatz "new situations need new remedies" wird der Einsatz neuer Methoden und Kontrollen in rechtlichen Institutionen gefordert.[19] [20] Dieser Teil der Reaktion wird von Cohen als Innovation bezeichnet.

Politik und Gesetzgeber

Stanley Cohen stellt in seinem Buch "Folk Devils and Moral Panics" fest, dass Politiker ein ausgeprägtes Interesse an Störungen bzw. Unruhen in ihren eigenen Wahlkreisen zeigen. Dies kommt oftmals in der öffentlichen Verständigung zwischen den Politikern und betroffenen Personen aus der Bevölkerung zum Ausdruck. Im Fall von Clacton wurden beispielsweise Berichte über Gespräche zwischen lokalen Politikern und Personen aus der Bevölkerung an das Innenministerium gesendet. Daraufhin erhielt die Diskussion über die Thematik Einzug in das britische Unterhaus und wurde somit auf nationaler politischer Ebene diskutiert.[19] Debatten in diesem politischen Rahmen können zu Gesetzesveränderungen führen. Die Rolle der Politiker besteht zudem darin, sich auf der Seite der Guten zu positionieren. "Politicians and other groups alligned themselves against a devil and on the side of angels (...)“.[19]

Soziale Bewegungen

Moralische Panik kann die Entstehung von Kampagnen und Aktionsgruppen hervorrufen. Diese Gruppen bilden sich aus der Bevölkerung heraus und werden auch als moral entrepeneurs [21] bezeichne. Diese Gruppen bewerten die bereits existierende Rechtsmittel zur Unterbindung des devianten Verhaltens als ineffektiv. In ihrer Organisation und Entstehung werden sie auch als geminal social movements, sogenannte Grasswurzelbewegungen aufgefasst.[19]

weitere Merkmale

Zwei weitere Aspekte deuten darüber hinaus auf das Vorhandensein einer moralische Panik hin: die Bestimmung sogenannter "folk devils" und die Existenz einer "Katastrophenmentalität".

"Folk Devils" sind sozial konstruierte Gruppen, die von der Öffentlichkeit als grundsätzlich böses charakterisiert werden und eine Bedrohung für die Gesellschaft darstellen. Diese Bezeichnung (im engl. auch "labeling" genannt) und daraus resultierende soziale Konsequenzen können anhand der ''Labeling Theory'' nachvollzogen werden.[19] Die soziale Herstellung von etwas grundsätzlich Bösen ist außerdem in der Symbolik des ''Sündenbockes''[22] enthalten. Diese Symbolik ist der Logik der moralischen Panik ebenfalls inhärent, da die Bezeichnung einer Person oder einer Gruppe als Gefahr moralischer Werte für die Stiftung einer Panik ausschlaggebend sein kann. [23]

Im Rahmen einer Katastrophenmentalität werden Parallelen zum sozialen Verhalten bei Naturkatastrophen wie sie auch vor, während und nach Naturkatastrophen auftreten, sichtbar. Beispielsweise entstehen Vorhersagen über einen bevorstehenden Untergang und es findet eine Sensibilisierung der Bevölkerung für mögliche Warnsignale statt. Dies drückt sich in gehäuften Überreaktionen, Gerüchten über mögliche Ereignisse oder dem Auslösen von Fehlalarmen aus.[24]

Außerdem tauchen im Verlauf einer moralischen Panik Tabuisierungen von Handlungen auf, welche ein weiteres Kennzeichen der Ausdrucksform darstellen. [25]

Erklärungsansätze

Für das Auftreten einer moralischen Panik existieren mehrere Erklärungsansätze aus unterschiedlichen Theorieperspektiven.

Ein Erklärungsansatz für die Entwicklung moralischer Panik liegt in der sich immerfort modernisierenden Gesellschaft. In diesem Kontext wird die Theorie der Risikogesellschaft nach Ulrich Beck herangezogen.[26] [27]

In der Theorie wird davon ausgegangen, dass in der gegenwärtigen modernen Gesellschaft ein hohes Maß an Risiko, in Form technisch-ökologischer Konsequenzen, z.B. durch eine zu starke Umweltbelastung, oder in Form sozialer Risiken, wie Arbeitslosigkeit, produziert wird. Durch die erhöhte Produktion von Risiko steigt auch das gesellschaftliche Bewusstsein über mögliche Risiken an. Dies hat letztendlich eine veränderte soziale und politische Dynamik zur Folge. [28] Diese Dynamik drückt sich laut Stanley Cohen darin aus, dass eine Kultur der Unsicherheit, Furcht und Schikanierung entsteht, welche in Strategien der Kriminalitätsbekämpfung zum Ausdruck kommt. [7] Das globale Ausmaß der sich entwickelnden Risikogesellschaft erzeugt überdies eine neue Kulisse für das Auftreten moralischer Panik.[7] Ein Zusammendenken von Risikogesellschaft und moralischer Panik befürwortet David Garland in dem Artikel: "On the concept of moral Panic" aus dem Jahr 2008.[29] Er sieht in der Beziehung von objektiven Risiken (z.B. Naturkatastrophen, Epidemien, technologische Katastrophen) und subjektiven Risiken (z.B.kriminelles Verhalten, Kindesmissbrauch, schulische Gewalt) eine Verbindung. Ihm zufolge endet eine, auf objektive Risiken zurückzuführende Panik, oft in der Frage nach moralischen Werte und deren Ausdrucksweise in der Lebensführung.[29]

Wissenschaftliche Forschungen aus dem Bereich des Sozialkonstruktivismus stellen brauchbare Modelle zur Untersuchung unterschiedlicher Forderungen einzelner Parteien (Interessengruppen, soziale Gruppen etc.) ,vor dem Hintergrund der Konstruktion neuer Problemkategorien, zur Verfügung.[7] Dabei können die Forderungen der Öffentlichkeit und die sozialen Problematiken im Kontext der Herstellung von sozialen Konstruktionen betrachtet werden. Moralische Panik wird in diesem Zusammenhang als Teil eines Gesamtprozesses sozialer Konstruktion verstanden.[7]

Auch unter dem diskurstheoretischen Ansatz von Michel Focault wird versucht das Phänomen moralischer Panik zu erklären. Dabei werden Diskurse über Sexualität oder Drogenmissbrauch als Repräsentanten von Machtkämpfen über moralische Regelungen gesehen. Aufgrund der Vielzahl, der in einer modernen Gesellschaft geführten Diskurse können Elemente aus diesen Diskursen von den Medien aufgenommen und somit in den Dynamisierungsprozess einer moralischen Panik eingeführt werden.[30]

Die Psychoanalyse bietet ebenfalls theoretische Instrumente für die Erklärung einer moralischen Panik. Unter Rückgriff auf Sigmund Freud steht moralische Panik häufig in Verbindung zur Verdrängung von indiviudellen Problematiken oder Konflikten in das Unterbewusstsein. Dabei wird Panik oftmals als Ausdruck für irrationale, soziale oder unbewusste Ängste aufgefasst. Phantasie bestimmt in diesem Kontext ebenfalls eine bedeutende Komponente in der Entwicklung moralischer Panik. Durch den Zusatz der Imagination kann Panik innerhalb weniger Bewegungen über mögliche Gefahren ausbrechen Daraus ergibt sich eine Verdichtung von real existierenden Bedrohungen und irrationalen Befürchtungen. Diese stellen komplexe Entitäten dar, welche die Stofflichkeit moralischer Panik charakterisieren. [31]

Kritik

Die Validität des theoretischen Konzeptes der moralischen Panik bleibt von kritischer Seite her nicht unangefochten. Breite Kritik streute P.A.J. Waddington im Jahr 1986 in seinem Artikel "Mugging as a moral panic: a question of proportion".[32] Darin greift er die Argumentation der Autoren des Buches "Policing the Crisis" [33] an. Die Argumentation geht darauf zurück, dass die herrschenden Eliten in Großbrittanien kriminelle Überfälle als dermaßen bedrohlich deklarierten damit sich daraus eine moralische Panik entwickeln würde. Die Panik diente dem Zweck die Bevölkerung von der damaligen ökonomischen Krise abzulenken. Darüber hinaus bezeichnet Waddington moralische Panik eher als ein polemisches denn analytisches Konzept. [32] Er geht darauf ein, dass der Begriff der moralischen Panik nicht gelten kann, da der Aspekt der Proportionalität auf nicht messbare Bedingungen zurückzuführen ist. Dadurch würde kein valides Kriterium bestehen, welches eine gültige Aussage über das zeitliche Auftreten einer moralischen Panik wiedergeben könnte. Waddington äußert sich dazu folgendermaßen: "The ´principial difficulty` of the moral panic is in „establishing the comparison between the scale of the problem and the scale of response to it (…)." [32] Die Kritik über den Aspekt der Disproportionalität greift Stanley Cohen in seiner überarbeiteten, dritten Auflage von "Folk Devils and Moral Panics" nochmals auf. Er argumentiert, dass das Kriterium der Proportionalität mit externen Verbindlichkeiten, wie Menschenrechten, Ziel sozialer Gleichheit oder sozialer Gerechtigkeit gedacht werden muss. [7] Zudem geht er darauf ein, dass sich Messungen über Emotionen auf qualitative Basis gründen, welche wiederum auf sozialen Konstruktionen beruhen. [7] Häufig wird dem Konzept der moralischen Panik vorgeworfen, dass es sich dabei um ein wertbeladenes Konzept mit politischem Beigeschmack handelt.[7] Cohen gesteht ein, dass das Konzept vor allem in links-liberalen Denkstrukturen Gebrauch findet und in der Vergangenheit häufig zur Untergrabung konservativer Ideologien angewendet wurde.[7] Dennoch geht er davon aus, dass der Begriff neutral ist und in seiner Verwendung auch umgekehrt werden kann. Er definiert den Begriff in diesem Zusammenhang folgendermaßen: " (...)the term is not just value-laden but intended to be a critical tool to expose dominant interests and ideologies."[7] [34]

Literatur

Zur Theorie und Bedeutung

  • Cohen Stanley, Folk Devils and Moral Panics, 2002, 3. Auflage, Routledge, London
  • Goode, Erich/ Ben- Yehuda Nachman, Moral Panics: the social construction of deviance, 1994, Blackwell Publishing, Malden
  • Thompson, Kenneth, "Moral Panics",1998 ,Routledge, New York

Fallstudien

  • Cohen Stanley, Folk Devils and Moral Panics, 2002, 3. Auflage, Routledge, London
  • Hall, S./ Critcher, C. / Jefferson, T./ Clarke, J./ Roberts, B : Policing te Crisis: Mugging, The State and Law and Order, 1978, London: Macmillan
  • Lancaster, Roger N. : Sex Panic and the Punitive State, 2011, University of California Press, London

Weblinks

Einzelnachweise

<references>

  1. 1,0 1,1 1,2 1,3 1,4 Thompson, Kenneth: Why the Panic? - The History and Meaning of the Concept In: Moral Panics, 1998, Routledge, New York S. 1-22
  2. Young, Jock: The role of the Police as Amplifiers of Deviancy, Negotiators of Reality and Translators of Fantasy In: Some consequences of our present system of drug control as seen in Notting Hill, In: Cohen, Stanley: Images of Deviance, Penguin Books, Harmondsoworth, 1971 S.27-62
  3. Cohen Stanley, Folk Devils and Moral Panics, 2002, 3. Auflage, Routledge, London
  4. Thompson, Kenneth: The Classic Moral Panic - Mods and Rockers In: Moral Panics, 1998, Routledge, New York S. 31 f.
  5. 5,0 5,1 Thompson, Kenneth: The Role of the Media In:Moral Panics, 1998, Routledge, New York S. 33 f.
  6. Thompson, Kenneth: Social Control Agents and Moral Entrepreneurs In: Moral Panics, 1998, Routledge, New York S. 38
  7. 7,00 7,01 7,02 7,03 7,04 7,05 7,06 7,07 7,08 7,09 7,10 7,11 7,12 Cohen, Stanley: Introduction to the Third Edition In: Folk Devils and Moral Panics, 2002, Routledge, London, S. vii-xxxv
  8. The Sun
  9. Reiner,Robert, The Rise of Virtual Vigilantism: Crime Reporting Since World War II, Criminal Justice Matters 43 2001, aus Cohen,Stanley: Folk Devils and Moral Panics, 2002, Routledge, London, S. xxiv
  10. 10,0 10,1 10,2 10,3 10,4 10,5 10,6 10,7 Goode, Erich/ Ben- Yehuda Nachman: Indicators of the Moral Panic In: Moral Panics: the social construction of deviance, 1994, Blackwell Publishing, Malden
  11. siehe dazu Punkt 3
  12. Jones, Brian J./Gallagher Bernard J./III/ and Mc. Falls Jr., Joseph A.: Toward a unified model for social problems theory, In: Journal for the Theory of Social Behaviour ,Nr. 19, 1989, S. 337 -56
  13. Für ausführliche Informationen siehe: Joseph Schneider and John. J. Kitsuse: Studies in the Sociology of Social Problems, 1989, Norwood, NJ oder Woolgar, Steve/ Pawluch, Dorothy:Ontological gerrymandering: the anatomy of social problems explanations, Social Problems, 32, 1985, S. 213 -27, http://epl.scu.edu/~stsvalues/readings/OntologicalGerrymandering.pdf, aufgerufen am 16.07.12, aus Goode, Erich/ Ben- Yehuda Nachman: Indicators of the Moral Panic In: Moral Panics: the social construction of deviance, 1994, Blackwell Publishing, Malden S. 37
  14. 14,0 14,1 Goode, Erich/ Ben- Yehuda Nachman: Criteria of Disproportionality In: Moral Panics: the social construction of deviance, 1994, Blackwell Publishing, Malden S. 43 f.
  15. Goode, Erich/ Ben- Yehuda Nachman: Moral Panics: Four Overlapping Terrotories In: Moral Panics: the social construction of deviance, 1994, Blackwell Publishing, Malden S. 52 f.
  16. Cohen Stanley: Deviance and Moral Panics In: Folk Devils and Moral Panics , 2002, Routledge, London, S.1-16
  17. Goode, Erich/ Ben- Yehuda Nachman: Enter Stanley Cohen In: Moral Panics: the social construction of deviance, 1994, Blackwell Publishing, Malden S. 24 f.
  18. Wilkins, Leslie T.: A general Theory of Deviance In: Social deviance: social policy, action and research, 1964, London Travistock, Kap.4, S.45-104
  19. 19,0 19,1 19,2 19,3 19,4 19,5 Goode, Erich/ Ben- Yehuda Nachman:Actors in the Drama of the Moral Panic In: Moral Panics: the social construction of deviance, 1994, Blackwell Publishing, Malden, S.24-28
  20. 20,0 20,1 Cohen Stanley,Reaction: The rescue and Remedy PhaseIn: Folk Devils and Moral Panics, 2002, Routledge, London, S.59-119) Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag. Der Name „social control“ wurde mehrere Male mit einem unterschiedlichen Inhalt definiert.
  21. Becker, Howard S.: Outsiders: Studies in the Sociology of Deviance, 1963, New York Free Press S.147
  22. Sir James George Frazer, The golden bough: A study in Magic and Religion vol. 9, pt. 6, The scapegoat 1920; repr. New York: Elibron Classics, 2005 aus Lancaster, Roger N. : Panic: A Guide to the Uses of Fear In: Sex Panic and the Punitive State, 2011, University of California Press, London, S.23
  23. Lancaster, Roger N.: Panic: A Guide to the Uses of Fear" In: Sex Panic and the Punitive State, 2011, University of California Press, London, S.23-38
  24. Cohen Stanley,The Control Agents In: Folk Devils and Moral Panics, 2002, Routledge, London, S. 144-48
  25. A.R. Radcliffe- Brown, "Taboo" in Reader in Comparative Religion, ed. William A. Lessa and Evon Z. Vogt Evanston Ill. :Harper and Row 1979, S.46-56 aus Lancaster, Roger N.: Panic: A Guide to the Uses of Fear" In: Sex Panic and the Punitive State, 2011, University of California Press, London, S.23
  26. Beck,Ulrich: Risk Society: towards a new modernity, 1992, Sage, London
  27. Zur aktuellen Weiterentwicklung der Theorie über die Risikogesellschaft von Ulrich Beck siehe auch Beck, Ulrich: Risikogesellschaft: auf dem Weg in eine andere Moderne, 2010, Suhrkamp, Frankfurt am Main
  28. Thompson, Kenneth: Risk Society In: Moral Panics, 1998, Routledge, London S.22
  29. 29,0 29,1 Garland, David: On the concept of moral panic, 2008, SAGE, London, S.27, http://cmc.sagepub.com/content/4/1/9.abstract, aufgerufen am 16.07.12
  30. Thompson, Kenneth: Discourses and Discursive Practices In: Moral Panics, 1998, Routledge, London, S.24-26
  31. Lancaster, Roger N.:Panic: A Guide to the Uses of Fear In: Sex Panic and the Punitive State,2011,University of California Press, London, S.23-25
  32. 32,0 32,1 32,2 Waddington, P.A.J.: Mugging as a moral panic: a question of proportion, In: The british Journal of 37,(2), 1986, S. 245-59
  33. Hall, S./ Critcher, C. / Jefferson, T./ Clarke, J./ Roberts, B : 'Policing the Crisis: Mugging, The State and Law and Order, 1978, London: Macmillan
  34. Zur aktuellen Auseinandersetzung mit Cohens Überarbeitung siehe auch: Garland, David: On the concept of Moral Panic: Crime, Media, Culture; April 2008, Sage http://cmc.sagepub.com/content/4/1/9.short, aufgerufen am 11.07.12