Sozialstruktur

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Allgemein gesagt bezeichnet die Sozialstruktur die Zusammensetzung und Gliederung eines sozialen Systems bzw. einer Gesellschaft in unterschiedlichen Gruppen oder Schichten nach Merkmalen, denen man soziale Bedeutung beilegt.

Darunter kann die demographische Grundgliederung der Bevölkerung, sowie ihrer Gliederung bezüglich begehrter, knapper Güter wie Einkommen, Bildung etc. zusammengefasst werden.


Etymologie

"Sozialstruktur" ist ein elementarer Grundbegriff aus der Soziologie, welcher im Jahr 1905 von dem deutschen Soziologen und Philosophen Ferdinand Tönjes eingeführt wurde.

Für ein erstes Verständnis ist es hilfreich, nach der Bedeutung der Wortbestandteile zu fragen. Der Begriff Sozialstruktur setzt sich aus den Teilbegriffen "Sozial" und "Struktur" zusammen.

Dabei beschreibt der Teilbegriff "Sozial" (lat.: socialis = die Gesellschaft betreffend) die Beziehungen, die zwischen Menschen bestehen. Damit ist in der Soziologie „Zwischenmenschlich" gemeint. Mit „sozial“ im Sinne von „gut zu Mitmenschen“, wie es etwa der allgemeine Sprachgebrauch nahelegt, hat es nicht notwendigerweise etwas zu tun.

Der Teilbegriff "Struktur" (lat.: structura = Ordnung) beschreibt hingegen in der Soziologie die beständige Zueinanderordnung von Elementen eines Ganzen. Damit ist der "Inneren Aufbau" bzw. das "Gerippe" gemeint.

Wenden Soziologen den Strukturbegriff auf ihren spezifischen Forschungsgegenstand an, sprechen sie von der "Struktur einer Gesellschaft" oder einfach von "Sozialstruktur".


Definition

Es gibt diverse, teilweise sehr unterschiedliche, Definitionen des Begriffs Sozialstruktur, die jeweils von ihrem Erkenntnisinteresse abhängen.

Grob gesehen, kann man diese in mikrosoziologische und makrosoziologische Definitionen unterteilen.

Die mikrosoziologischen Definitionen greifen auf den Rollenbegriff zurück und beziehen sich auf soziales Handeln.

Somit versteht man als Beispiel für eine mikrosoziologische Definition (in Anlehnung an Parson, 1951) unter dem Begriff Sozialstruktur das Geflecht der Beziehungsmuster zwischen Handelnden, in ihrer Eigenschaft als Rollenträger.

Möchte man den Zustand und den Wandel einer Gesellschaft beschreiben, empfiehlt es sich auf die makrosoziologische Definition zurückzugreifen. Diese bezieht sich auf soziale Gebilde wie Organisationen, Gruppen und Institutionen. Diese sozialen Gebilde sind je nach Erkenntnisinteresse zu unterscheiden.

So fragt der Marxist nach Klassenstruktur und Produktionsverhältnissen, der Durkheimianer nach dem Grad der Arbeitsteilung und der Weberianer nach Graden der Rationalisierung und Bürokratisierung (weiteres zu diesen Ansätzen siehe Punkt 5). Am weitesten verbreitet ist jedoch der demographische Ansatz, der nach der Verteilung der Bevölkerung nach Geschlecht, Alter, Beruf und bestimmten Ressourcen, wie Einkommen und Bildung, fragt.

Als Beispiel für eine makrosoziologische Definition versteht man somit (in Anlehnung an Wolfgang Zapf, 1989) unter dem Begriff Sozialstruktur die demographische Grundgliederung der Bevölkerung, die Verteilung zentraler Ressourcen wie Bildung, Einkommen und Beruf, die Gliederung nach Klassen und Schichten, Sozialmilieus und Lebensstilen, aber auch die soziale Prägung des Lebenslaufs in der Abfolge der Generationen.

Der mikrosoziologische (auf soziales Handeln bezogene) und makrosoziologische (auf soziale Gebilde bezogene) Begriff der Sozialstruktur stehen durchaus in einer Beziehung zueinander. Denn das Handeln der Akteure kann sich an den sozialen Gebilden, in Wirkung von Einschränkungen oder Optionen, orientieren.


Sozialstrukturanalyse

Die Sozialstrukturanalyse ist die empirisch-sozialwissenschaftliche Analyse der Sozialstruktur von Gesellschaften, die auf der Grundlage unterschiedlicher Theorien die wissenschaftliche Erforschung und Einteilung der Sozialstruktur leistet. Sie zergliedert die Gesellschaft in ihre relevanten Elemente und Teilbereiche und untersucht die zwischen ihnen bestehenden Wechselbeziehungen und Wirkungszusammenhänge.

Dabei befasst sie sich mit der Entwicklung und den gesellschaftlichen Einflüssen auf Strukturen sozialer Ungleichheit und mit den Positionen von Menschen in der Gesellschaftsgliederung. In diesem Sinne wird untersucht, inwieweit der Zugang zu allgemein verfügbaren materiellen, kulturellen und sozialen Ressourcen nicht für alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen gewährleistet ist und inwiefern dadurch Benachteiligungen und Begünstigungen einzelner Personen oder Gruppen in ihren Lebenschancen entstehen.

Abgesehen davon ermöglichen Sozialstrukturanalysen Planungen und Prognosen. Z.B. ist davon auszugehen, dass in einem Stadtteil mit einem hohen Anteil an alten Menschen eine starke Nachfrage nach Angeboten des Betreuten Wohnens entstehen.


Modelle der Sozialstruktur

Wie gerade beschrieben entsteht soziale Ungleichheit durch die ungleiche Verteilung knapper und begehrter Güter, wie Wohlstand, Ansehen, Gesundheit etc.

So liegt z.B. in Anlehnung an Hadril (1987) soziale Ungleichheit dann vor, wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von eben diesen knappen und begehrten Gütern einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten.

Um die Struktur der sozialen Ungleichheit in ihrer Gesamtheit zu gliedern und zu analysieren, hat die Soziologie die folgenden drei Ansätze mit unterschiedlichen Fragestellungen und Modellen entwickelt:

Zunächst das traditionelle, international verbreitete, vertikale Modell der Klassen und Schichten. Dann die beiden in den 1980er Jahren entwickelten und eher auf Deutschland beschränkten Modelle der sozialen Lagen und der sozialen Milieus. Sowie das neuere, ebenfalls internationale Modell der Exklusion und Inklusion.


Klassen und Schichten

Die Begriffe Schicht und Klasse fassen Menschen in ähnlicher sozioökonomischer Lage zusammen, mit der aufgrund ähnlicher Lebenserfahrung, ähnlicher Persönlichkeitsmerkmale wie z.B. Werteorientierung und Lebensstile, sowie ähnliche Lebenschancen und Risiken verbunden sind. Die beiden Begriffe unterscheiden sich jedoch auch in einigen Punkten.

Grundsätzlich orientiert sich die Einteilung einer Gesellschaft in Klassen stärker an ökonomischen Kriterien der Klassenlage wie z.B. am Produktionsmittelbesitz in Anlehnung an den Klassenbegriff von Karl Marx oder an den Erwerbs- und Marktchancen in Anlehnung an den Klassenbegriff von Max Weber. Die Klassen werden stets historisch-dynamisch in ihrer Entwicklung erfasst und es wird versucht die Konflikte und Machtbeziehungen zwischen den Klassen zu analysieren und die Ursachen zu ergründen.

So hatte z.B. nach dem ersten von Karl Marx entwickelten "Klassenkonzept", dieser die Vorstellung einer grob zweigeteilten Gesellschaft in Proletariat- und Kapitalistenklasse, mit einer ungleichen Verteilung von Produktionsmitteln.

Auch bei der Einteilung einer Gesellschaft in Schichten können ökonomische Kriterien herangezogen, Konflikte zwischen den Schichten, sowie Zusammenhänge von sozialer Schichtung und Machtstruktur berücksichtigt, Schichten in ihrer Veränderung erfasst und den Ursachen dieser Entwicklungen nachgegangen werden.

In Deutschland beschränken sich jedoch häufig die Studien zur sozialen Schichtung auf eine beschreibende, statistische Bestandsaufnahme von Soziallagen und teilweise ihren Zusammenhängen mit Teilen der Subkultur bzw. mit den Lebenschancen.

Die bekanntesten Schichtmodelle für die Bundesrepublik sind die "Bolte-Zwiebel", welche die deutsche Gesellschaft der 1960er Jahre nach den Kriterien Bildung, Einkommen und Beruf einteilt, dann das "Darendorfsche Haus" und das "Haus mit Anbau" von Rainer Geißler, welcher gegenüber Darendorf noch die Armutsgrenze und die ausländische Bevölkerung miteinbezieht.


Soziale Lagen und Milieus

In Anlehnung an Emile Durkheim bezeichnet ein soziales Milieu die soziale Umgebung, in der ein Individuum aufwächst und lebt. Der Milieu-Begriff bezieht sich dabei auf Gruppen von Menschen mit ähnlichen Lebenszielen / Lebensstilen und umfasst auch die Werteorientierung der Personen wie z.B. ob diese konsumorientiert oder eher konservativ sind.

Unter einer sozialen Lage versteht man die Lebensqualität und die Lebenschancen von Bevölkerungsgruppen. Bei der Unterteilung werden hierbei beispielsweise der Beruf, das Einkommen, die Bildung, die Arbeitsplatzsicherheit, die Wohngegend, die Freizeit und die Integration in die Gesellschaft miteinbezogen.

Als Modellbeispiel kann an dieser Stelle das der Sinus-Milieus, einer von dem Markt- und Sozialforschungsunternehmen Sinus entwickelte Zielgruppen-Typologie, genannt werden. Das Modell unterscheidet Gruppen, die sich in ihren Lebensweisen und Alltagseinstellungen abgrenzen. Aufgrund der sozialen Lage (Unter-, Mittel und Oberschicht) und der grundlegenden Werteorientierung wie z.B. traditionell oder modern, erfolgt eine Zielgruppeneinteilung.


Exklusion und Inklusion

In dem jüngsten Modell der Exklusion (soziale Ausgrenzung) und Inklusion (soziale Einschließung) geht es nicht mehr um die graduell abgestufte soziale Ungleichheit, indem bestimmt wird, wer oben, in der Mitte oder unten steht. Bei diesem Modell geht es darum, wer "drinnen" oder "draußen" ist.

Die Gesellschaft wird also in Zugehörige und Ausgeschlossene gespalten. Im Fokus stehen dabei die extrem Benachteiligten, denen ein Platz im anerkannten, gesellschaftlichen Gefüge verweigert wird, sowie Gruppen, deren Position "im Drinnen" prekär geworden ist.

Die Analyse der Exklusion erfolgt mehrdimensional. Als wichtigste Ausgangspunkte sind ab dieser Stelle die Arbeitslosigkeit als Ausschluss von Erwerbsleben, Armut, sowie räumliche Ausgrenzung durch Wohnen und Leben in sozialen Brennpunkten und Armutsvierteln zu benennen.

Ein analytischer Vorteil des Exklusion-Inklusion-Modells besteht darin, dass es ermöglicht, Exklusionsprozesse und -risiken in vielen Bereichen der Sozialstruktur, in verschiedenen Schichten, Soziallagen und Milieus ausfindig zu machen.


Sozialstrukturelle Kriminalitätstheorien

Der Sozialstruktur einer Gesellschaft wird insb. bei der Formulierung von Kriminalitätstheorien eine kriminologische Relevanz beigemessen.

In den sog. sozialstrukturellen Theorien werden die Erklärungsansätze für abweichendes und kriminelles Verhalten hauptsächlich aus der Sozialstruktur einer Gesellschaft und dadurch bedingte Missstände und Spannungszustände hergeleitet.

Vorwiegend gehen diese Theorien auf die von dem franz. Soziologen Emile Durkheim begründete Anomietheorie zurück.


Anomietheorie

Demnach ist laut Durkheim Kriminalität ein normaler, in der Gesellschaft integrierter Zustand, wobei das Verbrechen erst dann sozialschädlich ist, wenn es die innere Ordnung eines Gemeinwesens zerstört. Ein solcher Zustand sozialer Desintegration, gekennzeichnet durch Regel- und Normlosigkeit, wird von Durkheim als Anomie bezeichnet.

Anknüpfend an Durkheims Anomietheorie führt der amerikanische Kriminalsoziologe Robert K. Merton abweichendes Verhalten auf die Gesellschaftsstruktur, und zwar auf die Kluft zwischen kulturell bestimmten Zielen (z.B. wirtschaftlicher Erfolg) und sozialstrukturellen Mitteln zur Verwirklichung der Ziele (wie z.B. Bildungschancen) zurück.

Demnach werden durch die Gesellschaft die Chancen der Zielerreichung ungleich in den sozialen Strukturen verteilt, wodurch jeder der benachteiligt ist unter dem Druck steht sich eher deviant als konform zu verhalten, um die kulturell anerkannten Ziele zu erreichen.

Die Anomietheorie wurde häufig in andere Kriminalitätstheorien integriert, wie z.B. bei Cohens Subkulturtheorie, Cloward und Ohlins Theorie der differentiellen Gelegenheiten, Agnews Allgemeinen Belastungstheorie oder Greenbergs Alterstheorie.

Ebenso wurde die Anomietheorie aber auch beispielhaft für alle Arten der ätiologischen Kriminalitätserklärung kritisiert, wie es z.B. durch den Labeling Approach geschehen ist.

Auf eine abschließende Erläuterung aller sozialstruktureller Kriminalitätstheorien wird an dieser Stelle verzichtet und lediglich im Folgenden auf zwei klassische Varianten der Anomietheorie, nämlich der Theorie der differentiellen Gelegenheiten und der Theorie der deliquenten Subkultur, eingegangen.


Theorie der differentiellen Gelegenheiten

Als eine frühe Entwicklung des Anomiekonzeptes lässt sich die von Richard A. Cloward und Lloyd E. Ohlin entwickelte Theorie der differentiellen Gelegenheiten verstehen.

Die Erklärung dafür, dass längst nicht alle mit Anomiedruck Belastete kriminelle Handlungen verüben, findet sich gemäß der Theorie der differentiellen Gelegenheiten darin, dass eine unter Anomiedruck stehende Person auch Zugang zu illegetimen Mitteln, im weiteren Sinne von technischem Knowhow, faktischen Gelegenheiten und Neutralisation psychischer Hemmungen haben muss, um sich abweichend zu verhalten.


Subkulturtheorie

Wie auch die Anomietheorie kritisiert die Subkulturtheorie von Albert K. Cohen die sozialen Ungleichheiten in der Schicht- und Klassengesellschaft, welche für Druck- und Anpassungsprobleme des Einzelnen verantwortlich sind.

Der Subkulturtheorie zufolge ist Kriminalität eine Folge des Zusammenschlusses von eben diesen einzelnen Jugendlichen zu sogenannten Subkulturen, in denen normabweichende Werte- und Moralvorstellungen herrschen.


Literatur

  • Burmester, Jana (2006): Kriminalpädagogik im Jugendalter, Druck Diplomica Verlag GmBH
  • Clages, Horst und Zimmermann, Elmar (2010): Kriminologie, 2. Auflage, Verlag deutsche Polizeiliteratur GmbH
  • Gabriel, Oscar und Holtmann, Everhard (2005): Handbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschlands, Oldenbourg
  • Geißler, Rainer (2014): Die Sozialstruktur Deutschlands, 7. Auflage, Springer VS
  • Lüdke, H. (1992): Der Wandel von Lebensstilen, W. Glatzer (Hrsg.)
  • Kunz, Karl-Ludwig (2011): Kriminologie, 6. Auflage, UTB Haupt Verlag
  • Schroth, Yvonne (1999): Dominante Kriterien der Sozialstruktur - Zur Aktualität der Schichtungstheorie von Theodor Geiger, LIT Studien zur empirischen Sozialforschung
  • Steuerwald, Christian (2016): Die Sozialstruktur Deutschlands im internationalen Vergleich, 3. Auflage, Springer VS
  • Zapf, Wolfgang (1989): Sozialstruktur und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik Deutschland, In: Weidenfeld, Werner und Zimmermann, Hartmut. Eine doppelte Bilanz 1949 – 1989, S. 101, Deutschland Handbuch


Weblinks