Milgram-Experiment

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Unter den Begriff Milgram-Experiment wird eine Reihe von psychologischen Versuchen subsumiert, die in den frühen 1960er Jahren von einer Gruppe von Wissenschaftlern an der Yale-University in New Haven unter der Leitung des US-amerikanischen Sozialpsychologen Stanley Milgram durchgeführt wurden. In diesen Experimenten wurde der Einfluss von Autoritäten auf das Verhalten von Versuchspersonen und deren Bereitschaft zum Gehorsam untersucht. Nicht zuletzt aufgrund der selbst die Fachwelt überraschenden und geradezu schockierenden Ergebnisse erlangten diese Experimente zu einiger Berühmtheit und werden allgemein zu den Klassikern unter den sozialpsychologischen Experimenten zum sozialen Einfluss gezählt (vgl. Gilovich/Keltner/Nisbett 2006: 10).[1] Sie trugen ob der vielfach postulierten forschungsethischen Problematik ihres Versuchsaufbaus und wegen ihrer häufig kritisierten Methodik allerdings in gehörigem Maße dazu bei, einen Katalog von moralischen und ethischen Grundsätzen in der Psychologie und den Sozialwissenschaften zu entwickeln.[2]

Grundlegendes

Problematisierung

Ausgangspunkt für Milgrams Experimente war die Erkenntnis, dass seit Menschengedenken Situationen im Rahmen zwischenmenschlichen Verhaltens eine Rolle spielen, in denen innerhalb einer Dreieckskonstellation eine Person einer anderen Person befiehlt, einer dritten Person zu schaden oder diese gar zu vernichten. Von dieser Beobachtung ausgehend, konzipierte Milgram mit seinen Kollegen einen Versuchsaufbau, der die entscheidende Frage klären sollte (vgl. Milgram 2005: S. 15): Wenn X dem Y sagt, er solle Z schädigen, unter welchen Umständen wird Y diesen Befehl von X ausführen und unter welchen Umständen wird er sich weigern, dieses zu tun? Diese allgemeine Problematisierung wurde den einschränkenden Möglichkeiten einer Laborsituation entsprechend zugespitzt, so dass Milgrams Experimenten folgende Fragestellung zugrunde lag:

Wenn ein Versuchsleiter der Versuchsperson aufträgt, eine andere Person zu schädigen, unter welchen Bedingungen wird die Versuchsperson diese Anweisung befolgen, und unter welchen Bedingungen wird sie sich weigern?

Mit diesem Untersuchungsgegenstand beabsichtigte Milgram eine Lücke zu schließen, da das Allerweltsphänomen Gehorsam als Forschungsgegenstand noch nicht besonders in Erscheinung getreten sei. Dies bleibe unverständlich, schließlich "[ist] eine Handlung, die auf Befehl hin ausgeführt wird, [...] psychologisch etwas völlig anderes als eine spontan unternommene Handlung" [Milgram 1982: 9]. Zwar ging aus den Konformitätsstudien von Asch (einem Lehrer und Mentor Milgrams mit großem Einfluss auf dessen späteres Wirken) aus den 1950er Jahren hervor, dass Menschen dazu neigen, konformes Verhalten an den Tag zu legen und sich nicht nur der Meinung einer Gruppe anzuschließen, sofern sie sich selbst keine differenzierte Meinung über eine bestimmte Sachlage gebildet haben, sondern sie stattdessen auch wider besseren Wissens die Meinung einer Gruppe übernehmen, wenn sie mit ihrer Einstellung allein einer größeren Gruppe (ab etwa drei Personen) gegenüber stehen und diese homogen auftritt. Allerdings untersuchte Asch diese Sachverhalte u. a. anhand der Längeneinschätzung von Linien, also relativ harmlosen und nicht mit schwerwiegenden Konsequenzen verbundenen Settings. Milgram hingegen fragte sich, wie wohl das Verhalten von Personen sei, wenn sie damit rechnen müssten, dass ihr Handeln (zumindest kurzfristig) mit schweren Folgen für einen Mitmenschen verbunden wäre.[3]

Aus diesen Überlegungen heraus stellte er die Vermutung auf, dass selbst solche Menschen, die aus innerster Überzeugung die körperliche oder seelische Schädigung einer anderen Person etwa durch Diebstahl, Körperverletzung oder Tötung verabscheuen, allein aufgrund eines Befehls durch eine Autorität ohne den kleinsten Anflug von Hemmungen zu solchen Taten fähig sein könnten.

Milgram war sich dabei den Konsequenzen seiner Untersuchung, in der er unbescholtene und aufrechte Bürger in äußerst dramatische Situationen zu bringen beabsichtigte, sehr wohl bewusst, sah aber keine Möglichkeit der Abschwächung, im Gegenteil: Eben weil er das Verhalten der Versuchspersonen in aufreibenden Situationen beobachten wollte, bedurfte es eines drastischen Settings, "denn die psychologischen Kräfte, die in Fällen heftiger und lebensnaher Konflikte wirken, könnten unter abgeschwächten Bedingungen nicht ins Spiel gebracht werden" (Milgram 2005: 16). Beließe man es bei einer bloßen Befragung (etwa: "Bis zu welcher Schockstufe würden Sie gehen?"), erhielte man vermutlich Ergebnisse, die in Richtung der sozialen Erwünschtheit verzerrt wären (vgl. Neubacher 2005: 46). Folglich blieb ihm nur das experimentelle Design, in dem er die Probanden einerseits im Unklaren über ihre tatsächliche Rolle lassen musste, andererseits aber auch nicht um das Problem herumkam, die Probanden möglicherweise großem physischen wie auch psychischen Stress auszusetzen.[4]

Terminologie

Um den bewussten Gebrauch des Begriffes Gehorsam (engl. „obedience“) und dessen Vorzug vor ähnlichen Bezeichnungen (wie etwa Konformität oder Kooperation) zu rechtfertigen und eine gewisse Trennschärfe zur alltäglichen Verwendung dieses Begriffes herzustellen, legt Milgram schon zu Beginn seiner Ausführungen fest, wie Gehorsam im Rahmen seiner Experimente zu verstehen ist: Demnach zeigt Person Y dann Gehorsam, wenn sie einen Befehl des X befolgt; tut sie dieses nicht und widersetzt sich stattdessen, so zeigt sich Y ungehorsam. "Die Begriffe gehorsam sein und ungehorsam sein beziehen sich, so wie sie hier verwendet werden, nur auf die äußere sichtbare Handlung der Versuchsperson und treffen keine Aussage über das Motiv oder den Erfahrungshintergrund, aus dem heraus die Handlung vorgenommen wird" (Milgram 2005: 16f.).

Ein Proband wird darüber hinaus nur dann als gehorsame Versuchsperson bezeichnet, wenn er einer ganzen Reihe von experimentellen Kommandos bis zum Schluss Folge geleistet hat; sofern er sich an einem beliebigen Punkt des Experiments einem Befehl des Versuchsleiters erfolgreich widersetzt, so gilt er als ungehorsame Versuchsperson. Diese Aussagen gelten nur für das Experiment und nicht etwa als generelle Verhaltensdisposition des Probanden (ebd.: 17).

Methodik

Teilnehmer

Um an geeignete Versuchspersonen zu kommen, schaltete Milgram in der örtlichen Zeitung eine Anzeige, aus der hervorging, dass an der Yale University im Rahmen einer Studie zum Thema "Lernen und Gedächtnisvermögen" männliche Versuchspersonen aller Berufsrichtungen (ausgenommen Studenten) gesucht würden. Da auf diesem Wege lediglich knapp 300 Teilnehmer gewonnen werden konnten, wurde zudem noch eine direkte briefliche Aufforderung an mehrere tausend dem örtlichen Telefonbuch entnommene Einwohner geschickt.[5] Somit handelte es sich in allen Versuchsreihen (bis auf einer) um männliche Erwachsene, die im Großraum New Haven und Bridgeport lebten, 20 bis 50 Jahre alt waren und verschiedenen Berufen nachgingen (es waren auch Akademiker darunter); in jeder Versuchsreihe wurden 40 neue Versuchspersonen eingesetzt, welche sorgfältig nach Alter und Beruf verteilt wurden (Milgram 2005: 18). Obwohl Milgram hauptsächlich männliche Probanden testete, wurde auch in Replikationsstudien, die sich auf seine Ergebnisse bezogen, festgestellt, dass Frauen in dem selben Maße zu Gehorsam neigen wie Männer (vgl. Neubacher 2005: 54f.).[6]

Verfahren

Ausgangssituation der Versuchsanordnung des Milgram-Experiments (Quelle: Milgram [1982])

In jedem Experiment, welches überwiegend in einem eleganten Laboratorium in einem Gebäude der Yale University stattfand, gab es die nicht eingeweihte Versuchsperson (welche aber in dem Glauben gelassen wurde, der Lehrer zu sein), das vermeintliche "Opfer", welches aber tatsächlich ein eingeweihter Schauspieler war, sowie einen Versuchsleiter im weißen Kittel (vgl. Milgram 1982: 34ff.). Dieses Ausgangssetting wurde im Laufe der Zeit von Milgram in insgesamt 25 Testreihen variiert (s. u.) - das Grundschema mit mindestens einem Lehrer, einem Schüler und einer Versuchsleitung wurde aber in der Regel beibehalten.

Mit Hilfe einer fingierten "Auslosung" wurde zu Beginn festgelegt, welche Person die Rolle des Lehrers und welche die des Schülers einzunehmen hatte. Unmittelbar danach wurden beide Personen in einen Nebenraum geführt, in dem der Proband Zeuge wurde, wie der "Schüler" an eine Apparatur gefesselt wurde, die entfernt an einen "elektrischen Stuhl" erinnerte. Von der Unmöglichkeit des selbstständigen Befreiens überzeugt, musste der Proband annehmen, dass er dem Schüler über Kabel, die von dessen Handgelenken bis zum Schockgenerator im nächsten Raum reichten, eine äußerst schmerzhafte, jedoch keine bleibende Gewebsschädigung zugefügt würde, wenn er die Schalter des Generators betätigte.

Anschließend wurde die Versuchsperson zurück zum Generator geführt und vom Versuchsleiter instruiert: Demnach bestand die Aufgabe des Lehrers darin, dem Schüler zunächst einige Wortpaare vorzulesen, die sich dieser zu merken hatte. Danach las der Lehrer nur noch das erste Wort vor, gefolgt von vier weiteren Wörtern, aus denen der Schüler das zugehörige "gelernte" Wort mittels einer Box mit leuchtenden Zahlen von 1 bis 4 angeben musste. Gelang ihm die richtige Antwort nicht, musste der Lehrer zwecks "Verbesserung der Lernleistung" dem Schüler einen Stromstoß verabreichen, indem er einen der Kippschalter am Generator umlegte, und zwar bei jeder falschen Antwort eine Stufe höher. Zudem musste der Lehrer die jeweilige Voltstufe laut nennen, bevor er den Schock verabreichte, um beständig an die wachsende Heftigkeit des Schocks erinnert zu werden. Wenn der Proband bei der dreißigsten und letzten Schockstufe von 450 Volt angelangt war, wurde er angehalten, mit dieser Maximalspannung fortzufahren, ehe der Versuchsleiter nach zwei weiteren Versuchen das Experiment abzubrechen pflegte.

Der Schockgenerator

Nachbau des von Milgram benutzten Schockgenerators (Installation: Rod Dickinson in Kooperation mit Graeme Edler und Steve Rushton - Quelle: www.flickr.com)

Die Schalttafel bestand aus 30 Kippschaltern in waagerechter Anordnung, wobei jeder Schalter eine deutliche Voltbezeichnung trug, die von 15 bis 450 Volt reichte - nach rechts hin erhöhte sich die Stärke pro Schalter um 15 Volt. Zudem waren immer vier Schalter, entsprechend der zunehmenden Voltstärke, mit folgenden Bezeichnungen wie "Leichter Schock", "Mittlerer Schock", "Schwerer Schock", "Gefahr: Bedrohlicher Schock" u. ä. versehen. Die letzten beiden Schalter waren nur noch mit "XXX" markiert. Daneben befand sich auf der Schalttafel ein gut sichtbares Voltmeter, dessen Zeiger bei jedem Umlegen nach rechts ausschlug, unterstützt vom Geräusch klickender Relais.

Zudem erhielten die Versuchsperson zu Demonstrationszwecken vor Versuchsbeginn einen Probeschock von 45 Volt am Handgelenk, was sie von der "Echtheit" des Generators überzeugen sollte.

Rückkopplung zum Versuchsleiter

Zu verschiedenen Zeitpunkten während der Durchführung der Experimente pflegten die Probanden die (hilfesuchende) Kommunikation mit dem Versuchleiter, um zu erfahren, ob sie mit der Durchführung des Versuchs fortfahren sollten, bzw. sie meldeten Protest an oder äußerten gar den Willen, das Experiment abzubrechen. In all diesen Fällen antwortete der Versuchsleiter mit im Vorfeld festgelegten anspornenden Bemerkungen, um die Versuchsperson zum Weitermachen zu bewegen. Die mit Bestimmtheit, aber nicht unhöflich vorgetragenen Bemerkungen lauteten (vgl. Milgram 1982: 38):

  1. Bitte, fahren Sie fort! Oder: Machen Sie weiter!
  2. Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen!
  3. Sie müssen unbedingt weitermachen!
  4. Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen!

Diese Anspornbemühungen erfolgten nacheinander in dieser Reihenfolge, wobei die nächst folgende Bemerkung nur benutzt wurde, wenn die vorherige wirkungslos geblieben war. Sobald sich eine Person weigerte, war das Experiment beendet.

Rückkopplung vom Opfer

Wie der Versuchsleiter, so handelte bzw. äußerte sich auch der Schüler in einer vorher festgelegten Art und Weise.[7] Grundsätzlich gab der Schüler auf drei falsche Antworten eine richtige.

Jeder Schockstufe war ein Laut und/oder eine Äußerung zugeordnet, deren Heftigkeit mit der Höhe des Schocks korrespondierte. So gab es bis 75 Volt keinerlei Unmutsäußerung des Opfers, bis 105 Volt gab dieses ein leichtes Knurren von sich, ehe es ab 120 Volt "schmerzhaft würde". Über schmerzliches Stöhnen bei 135 Volt kam es bei 150 Volt zu einem ersten Schrei und der Forderung, das Prozedere unverzüglich zu beenden. Bei wachsender Intensität der Äußerungen ging es weiter - bei 195 Volt schrie das Opfer "Ich kann den Schmerz nicht mehr aushalten!", verbunden mit der Forderung, aus dem Raum entlassen zu werden, bei 270 Volt kam nur noch ein eindeutig qualvolles Brüllen, stets in Kombination mit der Forderung auf Entlassung aus dem Experiment. Bei 300 Volt weigerte sich der verzweifelte Schüler, weitere Antworten zu geben. Auf die zumeist unsicheren Fragen der Versuchpersonen an den Versuchsleiter, wie fortzufahren sei, kam stets die Anordnung, fehlende Antworten als falsche Antworten zu werten und entsprechend zu bestrafen.

Damit wurden die Probanden von Milgram in eine reale Konfliktsituation versetzt, in der einerseits der Versuchsleiter auf der Fortsetzung des Experiments insistierte, andererseits jedoch das Drängen des Schülers auf Beendigung der "schmerzhaften" Prozedur im Verlauf stetig zunahm. So muss sich der Proband das gesamte Experiment über entscheiden, ob er den Anweisungen einer "anerkannten" Autorität Folge leisten oder aber sich über deren Befehle hinwegsetzen will. Die Autorität des Versuchsleiters wirkt dabei nicht in einem freien Kräftefeld, sondern gegen den wachsenden Druck der bestraften Person (Milgram 2005: 19).

Vorannahmen

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Vergleich der Expertenvorhersage mit dem tatsächlich gezeigten Verhalten (Quelle: Milgram [2005])

Milgram war überzeugt, dass es eine beachtliche Diskrepanz zwischen erwartetem und gezeigtem Verhalten gebe. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, ermittelte er die Vorhersagen von 40 anerkannten Experten (Psychiatern einer führenden medizinischen Fakultät), um einen Vergleich der (Experten-)Erwartung mit dem tatsächlich gezeigten Verhalten der Versuchspersonen vornehmen zu können.

Die als kompetent eingestuften Fachleute wurden über alle Details des Experiments (inklusive Erscheinungsbild des Schockgenerators) unterrichtet, anschließend sollten sie das Verhalten von 100 hypothetischen Probanden vorhersagen (vgl. Milgram 2005: 37). Dabei stellte sich heraus, dass die Experten den Grad des Gehorsams für gewöhnlich weit unterschätzten: Ihrer Meinung nach würden die meisten nicht über die zehnte Schockstufe hinausgehen (150 Volt), die zwanzigste (300 Volt) würden nur noch etwa 3 bis 4 Prozent der Probanden verabreichen, und lediglich eine von tausend Personen würde den höchsten Schock von 450 Volt anwenden. Anhand dieses Ergebnisses ist bereits abzuleiten, dass die Stärke der Situation, so wie sie die Probanden im Experiment erlebten, von Außenstehenden - und seien es auch Fachleute auf dem Gebiet der Psychologie - für gewöhnlich extrem unterschätzt wird (vgl. Abbildung rechts).

Ergebnisse der einzelnen Versuchsreihen

Basisexperimente (Nähe des Opfers)

Diese erste Versuchsreihe begann in der Ausgangssituation der Versuchsanordnung (s. o.), also der räumlichen Trennung von Lehrer und Schüler mit Anwesenheit des Versuchsleiters, um die Distanz zwischen Lehrer und Schüler anschließend nach und nach zu verringern. Im Anschluss daran wurden die Ergebnisse (d. h. die durchschnittliche Höhe des Maximalschocks pro Versuchsreihe) miteinander verglichen (vgl. Milgram 1982: 50f.).

Fernrückkopplung

Im ersten Experiment gab das "Opfer" dem Lehrer keinerlei akustische Rückmeldung (vom Klopfen an die Wand einmal abgesehen), was zu äußerst hohen Durchschnittswerten führte. Zwar waren Zeichen der inneren Spannung und Aufregung (Erheben vom Stuhl, Schwitzen, Augenreiben) bei den Versuchspersonen zu vernehmen, doch blieb die Abbrecherquote sehr gering.

Akustische Rückkopplung

Im zweiten Experiment (klassischerweise als das Milgram-Experiment bezeichnet) machte das Opfer – wie oben beschrieben – auf sich aufmerksam, indem es verbale Äußerungen und Schmerzlaute von sich gab, bei den hohen Schockstufen wiederum unterstützt durch heftiges Hämmern an die Wand. Die Versuchsperson war nunmehr in der Lage, das Befinden des Opfers akustisch wahrzunehmen.

Raumnähe

In der dritten Versuchsanordnung wurde das Opfer aus dem Nebenraum in den selben Raum wie die Versuchsperson geholt, wo es nur wenige Meter von dieser entfernt platziert wurde. Nun war es nicht nur zu hören, sondern auch noch zu sehen; zudem wurden Worthinweise gegeben.

Berührungsnähe

Die Distanz zwischen Lehrer und Schüler wurde im vierten Experiment nochmals verringert, indem das Opfer nur dann einen elektrischen Schock erlitt, wenn seine Hand auf einer Schockplatte lag. Bei 150 Volt weigerte es sich, fortzufahren, und nahm seine Hand von der Platte. Dem Lehrer wurde nun befohlen, die Hand des Opfers – notfalls mit Gewalt – zurück auf die Schockplatte zu legen, was zwingend einen körperlichen Kontakt zur Folge hatte.

Ergebnis

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Mittelwerte der Maximalschocks in der Opfernähe-Serie. (Quelle: Milgram [2005: 23])

Die Ergebnisse dieser ersten Testreihe (jeweils N = 40) zeigen ganz deutlich, wie sich die Gehorsamsbereitschaft verringerte, je geringer die Distanz zwischen Lehrer und Schüler ausfiel (vgl. Abbildung rechts). Umgekehrt ausgedrückt: Beim Fernraum-Experiment widersetzten sich 34 Prozent der Versuchspersonen dem Versuchsleiter, bei der akustischen Rückkopplung 37,5 Prozent, beim Raumnäheversuch bereits 60 Prozent, und bei der Berührungsnähe leisteten immerhin 70 Prozent so starken Widerstand, dass das Experiment noch vor Verabreichung des Maximalschocks abgebrochen wurde. Milgram selbst gibt sechs mögliche Erklärungen für diese Abnahme der Gehorsamsbereitschaft an (vgl. Milgram 1982: 53ff., 2005: 24ff.):

  • Hinweise auf Einfühlungsvermögen
In den ersten beiden Experimenten, in denen die Distanz sehr groß war, besaß auch der Schmerz des Opfers für den Lehrer einen abstrakten, "ungefühlten" Charakter – dieser ist ihm zwar in einem begrifflichen Sinne bewusst, nicht jedoch in einem affektiven. Dieses geschieht womöglich erst in dem Augenblick, in dem der visuelle Reiz des leidenden Opfers hinzukommt und dessen Schmerzen für den Probanden unmittelbar begreifbar macht. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Abbrecherquote nicht nur steigt, weil der Lehrer das Opfer aus dessen misslicher Lage befreien möchte, sondern weil er selbst den Erregungszustand, in dem er sich befindet, als zunehmend unzumutbar empfindet und daher seinen Gehorsam verweigert.
  • Unbewusste Leugnung und Verengung des Erkenntnisbereichs
Ein weiterer Faktor könnte die Verdrängung des Opfers aus dem Bewusstsein des Lehrers sein: War es den Probanden in den ersten beiden Fernraum-Anordnungen noch möglich, die Person auf der anderen Seite der Wand aus ihrer bewussten Wahrnehmung auszublenden (schließlich waren die Reaktionen des Opfers erst nach der Verabreichung des Schocks zu vernehmen), gelang ihnen dieses in den letzten beiden Experimenten in dieser Form nicht mehr, weil die Person, der sie Schmerzen zufügten, unmittelbar zugegen und ihnen daher stets visuell bewusst war.
  • Reziproke Bereiche
In diesem Kontext ist ein weiterer Faktor interessant: Nicht nur das Opfer rückt näher an die Versuchsperson heran, sondern umgekehrt diese auch an das Opfer. Dieser trivial erscheinende Sachverhalt ist deshalb wichtig, weil es durchaus denkbar erscheint, dass ein Mensch eher dazu in der Lage ist, einem anderen Schmerzen zuzufügen, wenn er sich von diesem unbeobachtet fühlt; sobald er aber das Gefühl hat, sein Opfer könne ihn bei seinem Handeln beobachten, führt das womöglich zu Scham- und Verlegenheitsgefühlen, die eine weitere Ausführung der "Tat" erschweren.[8]
  • Erfahrung der Einheitlichkeit der Handlung
Bei den Fernraum-Versuchen, in denen eine räumliche Trennung zwischen Ursache (Betätigen des Kippschalters) und Wirkung (vermeintlicher Stromschock, der zu Schmerzen führte) bestand, war es für den Probanden nicht unmittelbar einsichtig, dass eine Verbindung zwischen dieser Handlung und deren Auswirkung bestand. Dieses "Kognitionsdefizit" wurde durch die Verringerung der Distanz reduziert und durch die Berührungs-Anordnung schließlich gänzlich beseitigt.
  • Beginnende Gruppenbildung
Eine weitere Erklärungsmöglichkeit für die Verhaltensänderung der Probanden im Verlauf der ersten Versuchsreihe liegt in dem (sozial-)psychologischen Phänomen, dass mit größerer Distanz zwischen Schüler und Lehrer (v. a. bei Platzierung des Opfers in einem anderen Raum) eine engere Bindung zwischen Lehrer und Versuchsleiter "erzeugt" werden kann. Es bildet sich unwillkürlich eine Art Kleingruppe, aus der das Opfer auf der anderen Seite der Wand aufgrund der räumlichen Entfernung ausgeschlossen ist; diese Grenzziehung kann der Versuchsperson ein Gefühl der Vertrautheit mit dem Versuchsleiter vermitteln – was mit im wahrsten Sinne des Wortes außenstehenden Personen schlicht nicht möglich ist.
Dieses Vertrauen, welches der Proband der Autoritätsperson entgegenbringt, wirkt sich auf die Versuchsergebnisse dahingehend aus, dass den Anweisungen des Versuchsleiters bedingungsloser gefolgt wird – eventuell auch wider besseren Wissens. Wenn sich aber das Opfer mit den beiden anderen Personen in einem Raum aufhält, findet der Proband bei möglichen Zweifeln am Experiment in dem protestierenden Schüler einen Verbündeten; diese neue Kleingruppe ist wesentlich eher in der Lage, der vermeintlichen Kompetenz und Autorität des Versuchsleiters erfolgreich entgegenzutreten.
  • Erworbene Verhaltensdispositionen
Eine letzte Erklärung liegt in dem auf Scott zurückgehenden Phänomen der passiven Hemmung. Darunter versteht man die in der Lerntheorie bedeutsame Fähigkeit von Menschen (aber auch Tieren), zu lernen, andere nicht zu schädigen, gerade indem sie anderen im alltäglichen Leben keinen Schaden zufügen (schließlich fügt der andere einem - ähnlich der Reziprozitätsnorm - im Gegenzug auch keinen Schaden zu). Dies bezieht sich allerdings in der Regel auf nahe stehende Personen, während ein solches Verhalten bei großer Distanz nicht unbedingt vorteilhaft sein muss, im Gegenteil: "Der Organismus lernt, dass es auf Distanz sicherer ist, aggressiv zu sein, dass es aber, wenn der Widersacher in Reichweite ist, prekär wird, sich so zu verhalten" (Milgram 2005: 26). Womöglich aus seinen Erfahrungen mit diesem System von Belohnung und Bestrafung heraus ist der Proband bei den Fernraum-Versuchen bereit, dem Opfer Schaden zuzufügen, während bei den Nahraum-Versuchsreihen die passive Hemmung greift.

Weitere Variationen des Experiments

Im Folgenden soll in aller Kürze ein Überblick darüber gegeben werden, auf welch kreative Weise Milgram sein Ausgangsexperiment jeweils leicht veränderte, um zu noch differenzierteren Aussagen über Bedingungen des Gehorsams zu gelangen (vgl. Milgram 1982: 73ff.).

So variierte er das Setting u. a. durch

  • Neuanordnungen der Operationslinie
Umzug in den schlichteren Keller des Uni-Gebäudes, akustische Rückkopplung in Form von Schreien, zudem noch kleinere Hinweise auf einen Herzfehler durch das Opfer;
  • Wechsel des Personals
Einsatz eines zweiten Versuchleitungsteams (mit einer evtl. weniger kraftvollen Persönlichkeit);
  • Frauen als Versuchspersonen
Wechsel der Probanden – statt Männern führten Frauen die Versuche aus;
  • eingeschränkte Verpflichtung des Opfers
Zögern des Opfers bei vorhergehender Unterschrift zur Haftungsentlassung (wg. „Herzbeschwerden“) in Anwesenheit der Versuchsperson mit anschließender Teilnahme „nur unter der Bedingung, dass das Experiment auf den Wunsch des Schülers hin abgebrochen" würde;
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Prozentsatz gehorsamer Versuchspersonen in verschiedenen Versuchsreihen (Quelle: Neubacher [2005: 48])
  • Änderung des institutionellen Zusammenhangs
Umzug in einen schmucklosen Bürokomplex der nahegelegenen Industriestadt Bridgeport, erfundener Institutsname („Research Associates of Bridgeport“), keinerlei Zusammenhang zu Yale erkennbar;
  • selbstwählbare Schockhöhe
Probanden konnten Schockhöhe in dreißig kritischen Proben selbst bestimmen.

Des Weiteren wurden etwa Rollenwechsel; Einbeziehung von Befehlen durch gewöhnliche Menschen; mehrere (eingeweihte und sich z. T. widersetzende) Versuchspersonen; Abwesenheit des Versuchsleiters u. ä. in die Experimente eingebaut. Die nebenstehende Abbildung zeigt den Prozentsatz der Gehorsamen bei einer Auswahl der oben genannten Experimente.

Schlussfolgerungen aus den Experimenten

Milgram erkannte natürlich die Tragweite seiner Experimente und zog aus diesen folgende Schlüsse (Neubacher 2005: 52f.):

  1. Eine beträchtliche Anzahl von Menschen tut, was ihr befohlen wird, ungeachtet des Befehlinhalts und ohne Gewissensbisse, solange sie die befehlende Autorität für legitim hält.
  2. Menschen haben ein positives Selbstbild von sich; nach ihrem zukünftigen Verhalten befragt, antworten sie entsprechend ihren Idealen, Werten und Selbstentwürfen (z. B. "Ich bin nicht die Sorte von Mensch, die bereit wäre, anderen im Namen der Wissenschaft Schaden zuzufügen"). Diese Werte werden aber in der konkreten Handlungssituation von den situativen Zwängen überrannt.
  3. Unter gewissen Umständen ist es deshalb nicht die Persönlichkeit eines Menschen, die seine Handlungen bestimmt, sondern die Situation, in die er gestellt wird.
  4. Es fällt uns leichter, eine Person zu verletzen, die distanziert ist und uns nicht sehen kann. Je näher das Opfer an uns heranrückt und je unmittelbarer wir es wahrnehmen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns Befehlen einer Autorität, das Opfer zu schädigen, widersetzen.
  5. Dass sich der Mensch gegen eine Autorität auflehnt, ist am wahrscheinlichsten, wenn er darin dem Beispiel anderer folgen kann.

Relevanz für die Kriminologie

Es ist unmittelbar einleuchtend, dass die beschriebenen Ergebnisse in direktem Zusammenhang stehen mit kriminologisch relevanten Fragestellungen, schließlich geht es bei Milgrams Gehorsams-Experimenten um die Umsetzung fragwürdiger Befehle, deren Befolgung zu Lasten eines Dritten gehen und damit in der Regel gravierende Verletzungen von gesellschaftlichen Normen darstellen. Solche Eingriffe in die körperliche wie auch seelische Unversehrtheit eines Menschen tangieren immer die grundlegenden Menschenrechte, besitzen also stets eine strafrechtlich relevante und damit grundsätzlich für die Kriminologie interessante Komponente. In besonderer Form gilt das für jenen Bereich der kriminologischen Forschung, der sich mit der Frage beschäftigt, welche Rolle die Persönlichkeit eines Täters (als eines handelnden Individuums) bei der Ausführung eines Verbrechens spielt, und in welchem Ausmaß die Situation und der Handlungskontext zur eigentlichen Tat beigetragen haben.

Milgrams Forschungsergebnisse auf dem Gebiet des Gehorsams gegenüber Autoritäten lassen zahlreiche (insbesondere menschenverachtende) Verbrechen - zumindest hinsichtlich der tatsächlichen praktischen Ausführung - plausibler erscheinen, ohne die Folgen dieser Handlungen relativieren zu wollen: Mit ihrer Hilfe wird deutlich, welche Mechanismen ausschlaggebend für Entwicklungen sind, die letztlich zu solch bestialischen Verbrechen wie etwa dem Holocaust führen konnte.

Die Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten im Dritten Reich wird von Milgram selbst eingangs seiner monografischen Aufbereitung des Experiments als Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum menschlichen Gehorsam angeführt (Milgram 1982 [1974]): Entsprangen jene pathologischen und grauenhaften Gedanken vielleicht zu Beginn einigen wenigen Gehirnen, so bedurfte es zur Umsetzung des geplanten systematischen Massenmordes schlichtweg sehr vieler willfähriger Helfer, deren Moralvorstellungen aber im Regelfall denen der Nazis entgegenstanden. Über viele kleine Schritte, welche schließlich in der Machtergreifung durch Hitler und seine Schergen resultierten, gelang es dem nationalsozialistischen Regime jedoch, die oberste Autorität in Deutschland zu bilden – mit der bitteren und weitreichenden Folge, dass viele Menschen den Befehlen der faschistischen Obrigkeit bedingungslos gehorchten. Selbstverständlich taten viele dieses mit einem gewissen Unbehagen, und eine nicht unwesentliche Menge der Täter beugte sich der Macht nur aufgrund von Angst vor möglichen Repressalien („Bist du nicht für uns, bist du gegen uns!“)[9], doch handelten sie letzlich in der Weise, wie es ihnen befohlen worden war, ohne sich nach außen gegen die Autorität aufzulehnen. Während also die große Masse der Helfer (die eigentlichen Täter) die tatsächliche Vernichtung durchführten, saßen die nationalsozialistischen Ideologen in großer Distanz zu den Opfern an ihren Schreibtischen und organisierten den Genozid aus sicherer Entfernung. Nur einige wenige der führenden Nazis waren an den Tötungen unmittelbar beteiligt. Am eindringlichsten wird die paradoxe Situation, in der sich zahlreiche führende Köpfe des Dritten Reiches befanden, etwa am Beispiel des Kommandanten von Treblinka, Franz Stangl, der in einem späteren Interview freimütig bekannte, nicht die mentale Fassung gehabt zu haben, bei der grausamen Vernichtung abertausender Menschen unter seinem Kommando zugegen zu sein oder gar mitzuhelfen ("In Sobibor konnte man fast vollkommen vermeiden, es zu sehen") (vgl. Welzer 2007: 23ff.). Aber auch andere Formen des (erfolgreichen) Genozids, Verbrechen an mitunter ganzen Volksgruppen sowie weitere unmenschliche Verfehlungen v. a. in Verbindung mit Kriegen lassen sich mit den Ergebnissen Milgrams zumindest in Teilen erklären, wenn sie auch aus rationaler Sicht unverständlich bleiben.

Neubacher (2005: 63f.) weist darüber hinaus darauf hin, "dass im Zusammenhang mit Verbrechen aus Gehorsam die herkömmliche Betrachtung von Verbrechen als Normabweichung zweifelhaft wird". Denn in bestimmten Konstellationen erscheine nicht die Befolgung der Norm (im rechtlichen Sinne) die Regel zu sein, sondern umgekehrt: Wenn in einer konkreten Situation die Regeln der Autorität gelten (in Form eines Befehls, der legitim erscheint), auch wenn sie gesetzlichen Normen widersprechen, dann sei eben die Auflehnung gegen diesen Befehl und die Verweigerung des Gehorsams abweichend - "die Normabweichung wird selbst zur Norm (im Sinne einer Normalität)". Dies führe konsequenterweise dazu, dass nunmehr das (auf der übergeordneten rechtlichen Ebene) normkonforme Verhalten – ähnlich dem Postulat der Kontrolltheorien – erklärungsbedürftig werde. Hieraus folge die für Kriminologen zwingende Notwendigkeit, bei der Betrachtung und Erforschung von Kriminalitätsphänomenen nicht nur "anerkannte" Problemgruppen in den Blick zu nehmen, sondern insbesondere auch der Situation, in der eine Straftat bzw. ein Verbrechen begangen wird, Rechnung zu tragen; somit rückten insbesondere Verbrechen in Verbindung mit Macht und deren Missbrauch (wie Wirtschafts- und Umweltkriminalität, aber auch Kriegsverbrechen) in den Fokus kriminologischer Forschung. Neubacher stellt fest, "dass die Sozialschädlichkeit solcher Verhaltensweisen proportional zum Maß der innegehabten Macht ansteigt" (2005: 63).

Die Untersuchungen zum Gehorsam stellen demnach elementare Teilchen im Puzzle des abweichenden Verhaltens von Menschen dar; Milgram kommt das Verdienst zu, als einer der ersten die Macht der Situation experimentell nachgewiesen zu haben, und nicht nur Vorbild für weitere bahnbrechende Versuche (wie das Stanford-Prison-Experiment von Zimbardo) gewesen zu sein, sondern auch nach fast 50 Jahren nichts von seiner beunruhigenden Aktualität verloren zu haben.

Fußnoten

[1] Neubacher (2005: 43) stellt die Relevanz von Milgrams Ergebnissen gar auf eine Stufe mit den drei großen Kränkungen des Menschen und seiner Eigenliebe durch die Wissenschaft, wonach zunächst Kopernikus das heliozentrische Weltbild etablierte, später dann Darwin die Abstammung vom Affen nachwies und zuletzt Freud die Kraft des Unbewussten postulierte. Demnach gebühre Milgram die Ehre, die Erkenntnis gewonnen zu haben, "dass ganz normale, durchschnittlich moralische Menschen, die mit Verstand und Gewissen ausgestattet sind, durch die Befehle einer Autorität dazu gebracht werden können, anderen Menschen, die sie nicht kennen und denen gegenüber sie keinen Groll hegen, zu quälen oder sogar zu töten".

[2] Wegen der ethischen Kritikpunkte des Experiments sei beispielhaft auf die unmittelbar der Veröffentlichung folgende Reaktion von Baumrind (1964) verwiesen; die Probleme bzgl. der Methodik fasst z. B. Neubacher (2005: 58ff.) zusammen.

[3] Interessant ist die Tatsache, dass Milgram ursprünglich in Anlehnung an Asch die Auswirkungen von Konformitätsdruck auf verletzendes Verhalten zu untersuchen beabsichtigte, sich jedoch zunächst darauf beschränkte, anhand einer Kontrollgruppe, welche nicht dem Druck einer anwesenden Gruppe ausgesetzt war, die grundsätzliche Bereitschaft zu solchem Verhalten auszutesten. Die Ergebnisse dieser als "Voruntersuchung" gedachten Experimente waren jedoch so unerwartet drastisch, dass er von seinem ursprünglichen Plan absah (vgl. Evans 1980).

[4] Milgram (1982: 221ff.) rechtfertigte die konsequente Durchführung der Versuchsreihen stets mit dem Hinweis a) auf die nicht-intendierte Erzeugung und aus diesem Umstand folgend die Unvorhersehbarkeit des Stress- und Spannungsausmaßes bei den Probanden, sowie b) auf Nachuntersuchen, die im Anschluss an das Experiment (bzw. ein Jahr nach der Teilnahme) mit zahlreichen Versuchspersonen durchgeführt wurden und ergaben, dass 84 Prozent der Probanden froh waren, an dem Versuch teilgenommen zu haben, während nur 1,3 Prozent ihr Bedauern äußerten.

[5] Über die Zeit hinweg nahmen etwa 1.000 Personen an den Testreihen teil (Milgram 2005: 40).

[6] Diese Replikationsstudien ergaben zudem, dass der Grad der Gehorsamsbereitschaft für gewöhnlich auch über kulturelle Unterschiede hinweg besteht (vgl. Shanab/Yahya 1977).

[7] Milgram hatte in einer Pilotstudie bei identischer Versuchsanordnung, nur ohne Rückmeldung und Protest durch das Opfer, festgestellt, dass so gut wie alle Versuchspersonen die maximale Schockstufe verabreichten. Dieses zweifellos erschreckende, aber aus wissenschaftlicher Sicht auch ziemlich unbefriedigende Ergebnis nahm er zum Anlass, dem vermeintlichen Opfer "mehr Gehör zu schenken", und dessen zunehmende Unmuts- und Schmerzäußerungen mit in den Versuchskontext einzubinden, um den Widerstand zu erhöhen und eine Verschärfung der Situation, verbunden mit - wie Milgram annahm - wesentlich höhere Ungehorsamsquoten, herbeizuführen (vgl. Milgram 1982: 39; 2005: 20f.).

[8] Ähnliches ist etwa bei Exekutionen zu beobachten: Die Augenbinde des Delinquenten dient offenbar dazu, ihm die "unangenehme" Prozedur zu erleichtern, allerdings dürfte sich diese damit auch für den Henker wesentlich "angenehmer" gestalten. "Unter den Bedingungen der Raumnähe-Anordnungen spürt die Versuchsperson möglicherweise, daß sie im Wahrnehmungsbereich des Opfers größeres Gewicht gewonnen hat, und sie wird deshalb befangener, verlegener, gehemmter, wenn sie das Opfer strafen soll" (Milgram 1982: 54).

[9] Interessanterweise wurde diese Formulierung auch von George W. Bush nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 benutzt, um die Amerikaner - wie auch die übrige westliche Welt - auf den von seiner Regierung initiierten Krieg gegen den Terrorismus einzuschwören.

Literatur

  • Baumrind, D. (1964), Some Thoughts on Ethics of Research: After Reading Milgram's "Behavioral Study of Obedience", American Psychologist 19, S. 421-423.
  • Evans, R. (1980), The Making of Social Psychology, New York.
  • Gilovich, T./ Keltner, D./ Nisbett, R. E. (2006), Social Psychology, New York/London.
  • Milgram, S. (1963), Behavioral Study of Obedience, Journal of Abnormal and Social Psychology 67 (4), S. 371-378).
  • Milgram, S. (1974), Obedience to Authority. An Experimental View, New York.
  • Milgram, S. (1982), Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, Reinbek bei Hamburg.
  • Milgram, S. (2005 [1965]), Einige Bedingungen von Gehorsam und Ungehorsam gegenüber Autoritäten, in: Neubacher/Walter (Hg.), Sozialpsychologische Experimente in der Kriminologie, Münster, S. 15-42.
  • Neubacher, F. (2005), Verbrechen aus Gehorsam - Folgerungen aus dem Milgram-Experiment für Strafrecht und Kriminologie, in: Neubacher/Walter (Hg.), Sozialpsychologische Experimente in der Kriminologie, Münster, S. 43-67.
  • Neubacher, F./ Walter, M. (Hg.) (2005): Sozialpsychologische Experimente in der Kriminologie (2. Aufl.), Münster.
  • Shanab, M. E./ Yahya, K. A. (1977), A Behavioral Study of Odedience in Children, Journal of Personality and Social Psychology 35 (7), S. 530-536.
  • Welzer, H. (2007), Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt a. M.

Weblinks