Mafias on the Move

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Mafias on the Move ist ein Buch des in Oxford lehrenden Kriminologieprofessors Federico Varese. Seine Untersuchung vergleicht mehrere Fälle unter der Fragestellung, unter welchen Umständen es mafiosen Organisationen gelingt, sich langfristig in neuen Gebieten zu etablieren. Die von ihm untersuchten Beispiele umfassen Aktivitäten der in Kalabrien beheimateten Ndrangheta in Piemont und Venetien, der sizilianischen Mafia in New York (vor und nach der Alkoholprohibition und in Rosario (Argentinien) sowie der in Moskau beheimateten Solnzewo- Bruderschaft mit ihren Niederlassungen in Rom und Budapest.

Vareses Forschungsinteresse in Mafias on the Move How Organized Crime Conquers New Territories besteht in der Identifikation von Faktoren, die Mafias dazu befähigen, sich in neuen und geographisch entfernten Gebieten dauerhaft zu etablieren. Hierzu untersucht er drei Mafiaorganisationen anhand von sechs exemplarischen Fällen, die zur Hälfte in eine erfolgreiche Erweiterung des gewohnten Einflussbereichs münden. Die Gegenbeispiele dienen der Darstellung von Faktoren, welche eine erfolgreiche Mafiatransplantation verhindern. Abschließend erläutert Varese einen aktuellen Fall aus China, dessen Ausgang noch ungewiss ist. Im letzten Kapitel erfolgt – vor dem Hintergrund demokratischer Paradoxien – eine Zusammenschau aller von Varese identifizierten Faktoren, die einer erfolgreichen Verankerung in für die Mafia neuen Einflussbereichen zuträglich sind. Varese zieht aus seiner Untersuchung die Bilanz, dass der Ursprung einer erfolgreichen Mafiatransplantation in einer Nachfrage nach den von Mafias angebotenen Schutz- und Dienstleistungen liegt. Diese Nachfrage ist durch Vorgänge in der Wirtschaft des neuen Standortes erklärbar und kann durch staatliches Handeln vorangetrieben oder eingeschränkt werden.

Hypothesen

Unter Mafia versteht Varese Organisationen, die Märkte und Akteure innerhalb eines bestimmten Wirkungsbereichs mit Schutzdiensten und Regulierungsmaßnahmen außerhalb des gesetzlichen Rahmens versorgen. Das am häufigsten dafür eingesetzte Hilfsmittel ist die Erpressung. Die Dienstleistungen einer Mafia können aufgrund ihrer Illegalität weder durch den Staat, noch durch andere legale Akteure angeboten werden. Den Begriff „Transplantation“ verwendet Varese, um die Fähigkeit einer Mafiagruppierung zu beschreiben, einen autonomen Außenposten über längeren Zeitraum und außerhalb ihres Ursprungs- und Hoheitsgebietes eröffnen zu können.

Derartige Außenposten sind entweder das Produkt rationaler Expansionsüberlegungen, oder aber durch erzwungene Migration einzelner Mafiamitglieder durch exogene Faktoren wie Zwangsumsiedlung, Flucht vor Gerichtsurteilen, mafiainterne Streitigkeiten, oder auch durch zufällige Abwanderung im Zuge verstärkter Migrationsbewegungen des letzten Jahrhunderts bedingt.

Die Höhe des Einflusses, den Mafias nehmen können, hängt stark mit lokalen Gegebenheiten zusammen und ist deshalb nach der Einschätzung von Diego Gambetta und Peter Reuter nur schwer in andere Gebiete übertragbar.[1] Dies liegt unter anderem daran, dass für langanhaltende Machtbeziehungen auch die regelmäßige und strikte Überwachung von Mitgliedern sowie das Einholen verlässlicher Informationen über den Alltag der Klienten nötig sind. Dies ist in einer fremden Umgebung schwerer durchsetzbar. Zudem beruht der Einfluss von Mafiaorganisationen auch auf der Fähigkeit zur Gewaltandrohung und –ausübung. Diese festigt sich wiederum über langfristige und persönliche Kontakte oder die Erzählungen von Augenzeugen – Voraussetzungen, die in neuen Gefilden zunächst einmal nicht bestehen. Folgt man den Argumenten von Gambetta, sollten die Anreize für die Eröffnung eines Außenpostens demnach eher gering ausfallen.

Auf Basis dieser Überlegungen geht Federico Varese davon aus, dass die langfristige Etablierung in fremden Gebieten nicht aufgrund rationaler Expansionsüberlegungen, sondern aufgrund unfreiwilliger Migration von Mafiamitgliedern stattfindet und in ihrem Erfolg erheblich von den strukturellen Bedingungen des neuen Gebietes abhängt.

Fallauswahl

Varese behandelt in seinem Buch sieben Fälle, von denen lediglich drei in die erfolgreiche Errichtung eines Außenpostens mündeten. Es handelt sich hierbei um Verfügbarkeitssamples mit einem Einschluss all jener Fälle, in denen das Phänomen von Interesse – Mafiatransplantation – auch eintreten kann. Ausgeschlossen wurden all jene Fälle, in denen Transplantation weder erfolgreich waren, noch versucht wurden. Als Negativbeispiele dienen die Transplantationsversuche der Mazzaferro-Familie aus Sizilien in Verona während der 1980er Jahre, die in Moskau beheimateten Solnzewo Bruderschaft in Rom Mitte der 1990er Jahre und die fehlgeschlagene Entstehung einer Mafia in Rosario im Zeitraum von 1910 – 1940. Taiwanesische und Japanische Triaden scheitern bislang ebenfalls daran, dauerhafte Machtstrukturen in China aufzubauen. Die untersuchten Fälle unterscheiden sich auch hinsichtlich struktureller Eigenschaften: So werden sowohl vorangeschrittene als auch neu entstandene Marktwirtschaften, große wie kleine Städte und regionale wie exportorientierte Märkte analysiert. Ebenfalls finden sich Regionen mit verschieden hohen Punktwerten an zwischenmenschlichem Vertrauen (gemessen anhand des Civic Community Indexes von Robert Putnam)[2] in der Stichprobe. Die Fälle wurden derart gegenübergestellt, dass sie sich in ihren regionalen und strukturellen Gegebenheiten gleichen.

Methodik

Die Untersuchung Vareses erstreckt sich über gut zehn Jahre und ist sowohl deduktiv, als auch induktiv angelegt. Sie beinhaltet die Analyse umfassenden Datenmaterials. Dazu zählen polizeiliche Akten und Abhörprotokolle, Behördenberichte, Zeitungsartikel, 27 Interviews mit Unternehmern, Polizeioffizieren, Ministern bzw. Lokalpolitikern, Staatsanwälten, Migrationsexperten und Gefängniswärtern. Varese begab sich zudem selbst auf Beobachtungs- und Forschungsreisen. Teilweise mussten Namen und Orte geändert werden, um die Identität aktiver Mafiamitglieder zu schützen.

Ergebnisse

Die ´Ndrangheta in Norditalien

Das Buch verbleibt zunächst in Italien; es werden zwei Versuche der ´Ndrangheta, sich in Norditalien zu implementieren, vorgestellt. Die ´Ndrangheta sind seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Reggio Calabria, ihrem Hauptwirkungsgebiet, aktiv. In den 1950ern erfolgte eine gerichtlich angeordnete Zwangsumsiedelung mehrerer Mitglieder sowohl nach Bardonecchia in der Region Piemont als auch nach Verona in Venetien. Die beiden norditalienischen Städte gleichen sich hinsichtlich des hohen Niveaus an interpersonellem Vertrauen und der Abwesenheit illegaler Schutzorganisationen. Ebenfalls entstanden zum Zeitpunkt der Übersiedelung der ´Ndrangheta-Mitglieder in beiden Städten neue und blühende Märkte (Bauwesen in Bardonecchia und Heroin in Verona). Bardonnecchia ist mit knapp 3500 Einwohnern im Gegensatz zu Verona eine kleine Gemeinde, die aber in den 1950er Jahren große Zuwanderungsschübe zu verzeichnen hatte. Viele der Immigranten wurden während der 1960er Jahre im boomenden Bauwesen beschäftigt. Dennoch überstieg das Angebot an arbeitswilligen Migranten die Nachfrage im Bauwesen. Dies hatte zur Folge, dass viele Einwanderer illegale Beschäftigungsverhältnisse mit Firmen des lokalen Bauwesens eingingen.

In der Großstadt Verona spielte Immigration eine untergeordnete Rolle und die meisten Einwanderer fanden Anstellungen in der lokalen Wirtschaft. Der zu dieser Zeit in Verona florierende Heroinmarkt war exportorientiert und besaß demnach wenig lokalen Regulierungsbedarf. Anders stellte sich die Situation in Bardnoecchia dar: Hier war eine für die Entstehung einer Mafia günstige Kombination an Faktoren präsent: Umfangreiche Zuwanderung zusammen mit illegaler Beschäftigung in einem regional begrenzten Markt innerhalb einer Kleinstadt führten zu (informellem) Regelungsbedarf und der Möglichkeit der Monopolbildung für die Verteilung billiger und illegaler Arbeitskräfte – eine Marktlücke, die durch die neu zugereisten Mitglieder der ´Ndrangheta geschlossen wurde. Dadurch, dass viele Migranten illegale Beschäftigungsverhältnisse eingingen, entzogen sie sich dem Schutz von Gewerkschaften oder des Staates und die Baufirmen profitierten von der Regulierungskraft des ´Ndrangheta Clans.

Ein illegaler Markt, wie er in Form eines blühenden Drogenmarktes in Verona vorhanden war, benötigt per se noch keine kriminellen Schutzdienste. Die Marktbeteiligten kannten sich bereits durch langfristige Kooperationsbeziehungen, in welche die Mitglieder der ´Ndrangheta nicht eindringen konnten. Überdies war der Drogenmarkt in Verona international orientiert und sehr mobil, was die örtlich begrenzte Regulierung durch eine Mafiaorganisation erheblich erschwerte. Somit gelang es den ´Ndrangheta nur in Bardoneccia sich langfristig zu etablieren.

Die russische Mafia in Budapest und Rom

Varese untersucht aber auch grenzübergreifende Migration von Mafiaangehörigen. Als Beispiel hierfür dient die russische Mafia, genauer die 1938 gegründete Solnzewo-Mafia, der es gelang einen autonomen Außenposten in Budapest zu errichten, die mit demselben Versuch in Rom jedoch scheiterte. Aufgrund von Morddrohungen flohen mehrere hochrangige Angehörige des Solnzewo Clans Mitte der 1980er Jahre nach Rom. Die Präsenz der Solnzewo in Budapest wird von Varese eher als historisches Zufallsprodukt einer Ende der 1980er Jahre verstärkten Präsenz sowjetischer Armeedeserteure in Ungarn gesehen. Die beiden Fälle unterscheiden sich vor allem hinsichtlich der marktwirtschaftlichen Transformation in Budapest, die nicht vollständig unter staatlicher Kontrolle stand, insbesondere was eine klaren Definition von Eigentumsrechten anging. Demnach eröffnete sich hier eine Marktlücke für nichtstaatliche Schutzformen. Vor allem die ungarische Öl- und Gasindustrie ermöglichte es den Solnzewo, sich langfristig in Ungarn zu etablieren. In Rom konnte die russische Mafia kein derartiges Standbein errichten. Ihre Aktivitäten beschränkten sich auf Geldwäsche, wenngleich Varese – vor dem Hintergrund, dass auch keine andere Mafiagruppierung in Rom tätig war – mehrere Versuche, in lokale Märkte zu investieren und somit Aussicht auf die Eröffnung eines eigenständigen Außenpostens zu erlangen, identifizieren konnte. Dennoch bestand zu diesem Zeitpunkt in Rom kein Bedarf an einer speziellen Dienstleistung, die durch die Solnzewo Bruderschaft oder eine andere Mafiaorganisation hätte übernommen werden können.

Die sizilianische Mafia in New York und Rosario

Vareses letzte Fallgegenüberstellung geht zeitlich zur Wende des 19. zum 20. Jahrhundert zurück. Hier analysiert er die italienische Massenmigration nach Mittel- und Südamerika anhand der Städte New York und Rosario (Argentinien).

Im Zuge größerer Abwanderungswellen von Italien nach New York City fanden sich auch einige Angehörige der sizilianischen Mafia unter den Immigranten. In New York existierten zunächst keine günstigen strukturellen Bedingungen, die es ihnen erlaubten, ihre alten Macht- und Kontrollstrukturen in den neuen Gebieten zu implementieren. Sie waren zwar in eine Reihe von Verbrechen wie Münzfälschung, Pferdediebstahl und räuberische Erpressung verwickelt, die umfassende Kontrolle eines Marktes oder Gebietes gelang ihnen jedoch vorerst nicht. Ein zusätzliches Hindernis stellte die Korruption vieler lokaler Politiker und der Polizei dar, da entsprechende Mafiafunktionen bereits durch diese Akteure erfüllt wurden. Dies änderte sich, nachdem der damalige Bürgermeister von New York, William J. Gaynor, umfassende Polizeireformen umsetzte und zudem durch die Prohibitionsgesetze der 1920er Jahre ein neuer, illegaler Markt für Alkohol entstand. Aufgrund dessen erhielt die organisierte italienische Kriminalität in New York erheblichen Aufschwung, da kein anderer Akteur mehr vorhanden war, der Mafiadienste anbieten konnte und die Märkte der Prostitution und des Glücksspiels sowie der neue Alkoholmarkt plötzlich schutzlos waren. Die Angehörigen der sizilianischen Mafia konnten somit als Streitschlichter und Schutzmacht einspringen, oder den Marktbeteiligten sichere Orte bieten, an denen diese ihre Geschäfte abwickeln und Preise aushandeln konnten. So konnten sich die fünf bis heute bekannten italienischen Familien in New York während der 1920er Jahre von ihrer Heimatorganisation in Sizilien lösen und autonome Kontrolle über ihr neues Gebiet erlangen.

Anders stellte sich die Situation in Rosario dar: Dort gab es zwei große italienische Migrationswellen. Unter den Einwanderern aus Süditalien befanden sich einige Angehörige der Mafia, die vor Gerichtsurteilen und Morddrohungen flohen. Diese konnten sich aufgrund mangelnder Nachfrage nach den von ihnen gebotenen Dienstleistungen jedoch nicht langfristig in Rosario etablieren. Ähnlich wie in Bardnoeccia entstand zwar eine boomende Bauindustrie, welche die eingewanderten Mafiaangehörigen zu beeinflussen versuchten, genau wie sie sich an Diebstählen und anderen illegalen Aktivitäten beteiligten. Der Markt in Rosario war jedoch erheblich größer als der in Bardnoeccioa und es gab mehrere Quellen für Niedriglohnarbeiter. Auch das Ausbleiben eines illegalen Marktes und verstärkte polizeiliche Repression verhinderten letztlich die Verwurzelung einer italienischen Mafia in Argentinien.

Aktueller Fall: China

Nach diesen drei Fallvergleichen geht Varese in einem weiteren Kapitel auf die seit den 1990er Jahren vorhandenen Versuche von Triaden aus Hong Kong und Taiwan, sich in den legalen und illegalen Märkten Chinas ein autonomes Standbein zu errichten, ein. Zwar existieren eine Reihe externer kriminelle Organisationen in China, bislang gelang es trotz umfassenden Investitionstätigkeiten und illegalen Aktivitäten jedoch keiner von ihnen, umfassende Marktkontrolle zu erlangen. Dies ist verwunderlich, da es in China sowohl neue, florierende Märkte wie Glücksspiel, Prostitution, Drogen- oder Menschenhandel, als auch sehr viele unterbeschäftigte und unterprivilegierte Personen gibt. Allerdings werden auch hier, wie in den Anfangszeiten der sizilianischen Mafia in New York, Mafiadienste bereits von korrupten Teilen des Staatsapparates wie dem Militär, der Polizei oder Lokalpolitikern geleistet. Es gibt für die Triaden aus Taiwan und Hong Kong in China bislang derzeit keine Beschäftigung.

Varese schließt seine Untersuchung mit einer kurzen Exkursion in die Paradoxien einer Demokratie im Zusammenhang mit der Entstehung mafiöser Strukturen ab. Einerseits bedeutet Demokratisierung effektive Prävention vor Mafias. Andererseits eröffnen neu entstehende Demokratien in Form von Wahlstimmen auch einen Markt für deren Aktivitäten. Laut Varese können Demokratien unter bestimmten Umständen sogar von mafiösen Regulierungsaktivitäten und Kartellbildungen profitieren: Illegale Märkte werden durch sie weniger volatil und ihre Entwicklungen besser voraussagbar.

Faktoren einer erfolgreichen Mafiatransplantation

Varese identifiziert in seinen Falluntersuchungen mehrere Faktoren, die einer erfolgreichen Mafiatransplantation zuträglich sind. Diese sind in Angebots- und Nachfrageseite unterteilbar.

Bezüglich der Angebotsseite – dem Vorhandensein von Mitgliedern einer Mafiagruppierung – ist festzuhalten, dass die Übersiedlung dieser in keinem der von Varese untersuchten Fälle aus rationalen Expansionsüberlegungen geschah. Ursächlich für die Migration waren entweder polizeiliche Repression, Zwangsumsiedelung, oder Flucht vor Gerichtsurteilen bzw. mafiainternen Streitigkeiten in der Ursprungsregion. Migration von Mafiaangehörigen erfolgt allerdings nicht willkürlich: Sofern die Möglichkeit besteht, siedeln sie sich dort an, wo sie bereits Freunde, Verwandte oder andere Mafiamitglieder kennen.

Die Anwesenheit eines Mafiamitgliedes ist für die erfolgreiche Errichtung eines Außenpostens jedoch nicht ausreichend. Hierzu sind mehrere Eigenschaften des neuen Gebietes ausschlaggebend: Am schwersten wiegt wohl die Nachfrage nach kriminellen Schutzleistungen im neuen Gebiet. Diese Nachfrage kann durch illegale Märkte, aufstrebende lokale Märkte ohne umfassende gesetzliche Regelung, Anreize für Kartellbildung oder die Unfähigkeit des Staates, legale Dispute schnell und effizient zu regeln, bedingt sein. Überdies darf kein anderer Akteur, der diese Nachfrage bedienen kann, existieren. Investitionen in neue Märkte alleine reichen für eine langfristige Verankerung in neuen Gebieten nicht aus. Sie sind nur mit Mafiamitgliedern vor Ort und einer Nachfrage an Schutzdiensten wirksam.

Entgegen bisheriger Annahmen ist die Globalisierung für Mafiatransplantationen nicht förderlich: Mafias fällt es schwerer, exportorientierte Märkte zu kontrollieren, da für eine Kartellbildung Unternehmer in verschiedenen Ländern beeinflusst werden müssten.

Auch Migration als solche ist kein hinreichender Erklärungsfaktor für eine erfolgreiche Errichtung eines autonomen Außenpostens. Nur in Kombination mit den oben genannten Faktoren kann sie eine Ereigniskette in Bewegung setzen, die in die Entstehung einer neuen Mafiaorganisation münden kann.

Keiner der von Varese identifizierten Einflussfaktoren alleine ist hinreichend, aber alle sind notwendig. Mafias entstehen und verbreiten sich, wenn bestimmte Schlüsselfaktoren in einem Wirtschaftsraum vorhanden sind. Der Haupteinfluss geht von einer plötzlichen Marktexpansion, die nicht vollständig durch den Staat reguliert wird, und der Präsenz von Personen, die diese Regulierungsaufgaben übernehmen können, aus. Die alleinige Anwesenheit von Mafiamitgliedern bei ungünstigen strukturellen Bedingungen des neuen Gebietes genügt nicht für die erfolgreiche Errichtung eines Außenpostens: Ohne eine Nachfrage an deren illegalen Leistungen können sie sich in neuen Gebieten nicht etablieren. Effektive Staaten können die regelgerechte Entwicklung neuer Märkte garantieren und somit der Entstehung von Mafiaorganisationen entgegenwirken, indem sie ihnen die Kundschaft abwerben.

Abgrenzung von bisheriger Mafiaforschung

Vareses Untersuchung grenzt sich von der bisherigen Mafiaforschung ab, da er nicht davon ausgeht, dass grenzübergreifende organisierte Kriminalität durch die Globalisierung und die damit einhergehende verstärkte Migration begünstigt wird. Bisherige Autoren wie Manuel Castells, Moises Naim, Claire Sterling und Louise Shelley betrachteten international organisierte Kriminalität als Randprodukt des Globalisierungsprozesses und nicht als eigendynamisches Phänomen. Als weitere Gründe werden neben der allgemeinen Globalisierung auch der technologische Fortschritt insbesondere hinsichtlich neuer Kommunikationsmöglichkeiten oder schwindende Sprachbarrieren genannt – Mafias seien in ihrer Wirkungskraft nicht mehr örtlich gebunden. Dies alles unterstellt jedoch eine besondere Motivation der Organisation (in diesem Fall Mafias), sich international oder territorial auszubreiten, welche aufgrund der von Peter Reuter und Diego Gambetta identifizierten Hindernissen eher gering ausfallen sollte.

Varese findet heraus, dass die Verankerung von Mafiaangehörigen in neuen Territorien kein zielgerichteter Prozess ist. Vielmehr ist sie das Produkt staatlicher Repression bzw. italienischer Zwangsumsiedelungspolitik (soggiorno obbligato) oder anderweitiger Umstände, die Angehörige einer Mafia dazu veranlassen, ihren bisherigen Hoheitsbereich zu verlassen. Bezüglich rationaler Expansionsüberlegungen gibt er zu bedenken, dass es Mafias durch die Globalisierung und den damit einhergehenden globalen Markt eher leichter fällt, die Ressourcen, die sie benötigen, per Einkauf zu erlangen, ohne dafür extra eine Außenstelle errichten zu müssen.

Laut Vareses Ergebnissen besitzt auch gegenseitiges zwischenmenschliches Vertrauen keine ausreichend präventive Kraft gegenüber der Entstehung organisierten Verbrechens. Dies wird durch die Aktivitäten der kalabresischen Mafia in Norditalien, einer so genannten „High Trust Area,“ untermauert.

Rezensionen

Diese neuen Ergebnisse werden auch in den Rezensionen durchaus positiv aufgegriffen. Vor allem in Public Choice und dem British Journal of Criminology wird gelobt, dass Mafias unter dem Hauptaugenmerk auf die Dienstleistungen, die sie bieten können, namentlich dem Herstellen von Ordnung und Erwartungssicherheit in regional begrenzten Märkten, untersucht werden, und dass die Nachfrage nach diesen Diensten im Zuge der Globalisierung schwinden kann. Auch die European Sociological Review schreibt, dass viele Ergebnisse bisheriger Mafiaforschung vor dem Hintergrund von Vareses Buch zurückgewiesen, oder zumindest überdacht werden müssen. Zudem werden die impliziten Handlungsanweisungen, die Politiker aus den Ergebnissen von Varese ziehen können, positiv herausgestellt. Ebenso loben die Autoren Vareses methodische Versiertheit und ausführliche Datenarbeit. Die Kritik an Vareses Werk umfasst im wesentlichen zwei Aspekte: Zum Einen wird eine ungenügende Ausführung und Begründung seiner Fallauswahl bemängelt, zum Anderen wird ihm an mehreren Stellen vorgeworfen, mit zu eng gefassten Definitionen im Bezug auf organisiertes Verbrechen zu arbeiten. Insgesamt sei weitere Forschung nötig, um die von Varese abgeleiteten Hypothesen auch an neuen Fällen zu testen. Doch nicht nur Fachzeitschriften, sondern auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung[3] oder das London Review of Books,[4] besprachen Vareses Werk.

Literatur

Original

Varese, Federico (2011): Mafias on the Move. How Organized Crime Conquers New Territories. Princeton: Princeton University Press.

Rezensionen

  • Friman, H. Richard (2012): Review of Federico Varese 'Mafias on the Move: How Organized Crime Conquers New Territories' Perspectives on Politics 10, S. 475 – 476. doi:10.1017/S1537592712000047
  • Ganev, Venelin I. (2011): Review of Federico Varese 'Mafias on the Move: How Organized Crime Conquers New Territories' European Journal of Sociology 52, S. 481 – 485. doi:10.1017/S0003975611000191
  • Levi, Michael (2012): Review of Federico Varese 'Mafias on the Move: How Organized Crime Conquers New Territories' American Journal of Sociology 117(5), S. 1554-1556.
  • Picci, Lucio (2011): Review of Federico Varese 'Mafias on the Move: How Organized Crime Conquers New Territories' European Sociological Review first published online December 5, 2011 doi:10.1093/esr/jcr090
  • Ruggiero, Vincenzo (2012): Review of Federico Varese 'Mafias on the Move: How Organized Crime Conquers New Territories' British Journal of Criminology 52(3): S. 681 -682. doi:10.1093/bjc/azs002
  • Skarbek, David (2012): Review of Federico Varese 'Mafias on the Move: How Organized Crime Conquers New Territories' Public Choice 151(1-2): S.. 405-407.

Einzelnachweise

  1. Gambetta, Diego & Reuter, Peter (1995): "Conspiracy Among the Many: The Mafia in Legitimate Industries." In Fiorentini, Gianluca & Peltzmann, Sam (Hrsg.): The Economics of Organised Crime. Cambridge: Cambridge University Press, S. 116 – 136.
  2. Putnam, Robert (1993): Making Democracy Work: Civic Traditions in Modern Italy. Princeton, NJ: Princeton University Press.
  3. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/geisteswissenschaften/mafia-die-oekonomie-der-kriminellen-dienstleistung-1654053.html
  4. http://www.lrb.co.uk/v33/n13/misha-glenny/mobsters-get-homesick-too