Kriminologie an der Universität Hamburg (Drittes Reich)

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Innerhalb der Kriminologie im Nationalsozialismus fiel die Kriminologie an der Universität Hamburg nicht durch eine besondere Begeisterung für das Regime auf. Sie passte sich allerdings den neuen Verhältnissen an. Dazu gehörte in erster Linie der Verzicht auf Kritik an der aktuellen Kriminalpolitik.

Kriminalpolitischer Kontext

Der autoritäre Staat hatte ein positives Verhältnis zur Todesstrafe. Der Ort der Hinrichtungen befand sich im Hamburger Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis. In der Zeit vom August 1933 bis zum 15. Dezember 1944 wurden hier mit der Guillotine und dem Handbeil über 500 Todesurteile vollstreckt. Nach Karl-Heinz Roth war Hamburg zudem ein "Mustergau gegen die Armen, Leistungsschwachen und Gemeinschaftsunfähigen.

Exklusion

  • Am 07. April 1933 wird der "Radau-Antisemitismus" der verbalen und physischen Angriffe gegen jüdische und andere politisch missliebige Hochschullehrer durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in juristisch-institutionelle Bahnen gelenkt. Auf der Grundlage von §§ 3 und 6 dieses Gesetzes (und aufgrund der Nürnberger Rassengesetze vom 16. September 1935) wird die Universität Hamburg gleichgeschaltet und unter anderem von allen Beamten gesäubert, die aufgrund ihrer Abstammung oder "nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten".
  • Ernst Cassirers Abschied erfolgt schon unmittelbar nach der Wahl Hitlers zum Reichskanzler im März 1933 - das Berufsverbot wird ihm am 28. 07. 1933 vom Senat der Hansestadt nachgeliefert. 1934 wurde die Sprachforscherin Agathe Lasch entlassen (1942 deportiert). 1937 wurde der Mathematiker Emil Artin in den Ruhestand versetzt (und ging in die USA, bis er 1958 zurückkehrte). Albrecht Mendelssohn Bartholdy (1874-1936) – Ururenkel des Aufklärungsphilosophen Moses Mendelssohn, Enkel des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy, international renommierter Jurist, Friedensforscher und Versöhnungsdiplomat in der Weimarer Republik, Exil in Oxford ab 1934.
  • Sein früher Tod hatte Moritz Liepmann die Verfolgung durch die Nazis erspart; betroffen wurden von der Machtergreifung aber William Stern, der Vater von Günther Anders, und der Stern-Schüler Curt Bondy. Stern wurde 1933 aus der Universität geworfen und emigrierte noch im selben Jahr.
  • Der aus einer großbürgerlichen Hamburger Familie stammende Curt Bondy hatte im Ersten Weltkrieg als Sanitäter gearbeitet, dann bei Stern studiert und sich sozial engagiert (Dissertation 1921: „Die Proletarische Jugendbewegung in Deutschland“; Habilitation 1925 bei Moritz Liepmann in Hamburg über pädagogische Probleme im Jugendstrafvollzug. Die Arbeit beruhte nicht zuletzt auf seinen Erfahrungen als Leiter (1921-1923) der Jugendstrafanstalt Hahnöfersand (zusammen mit Walter Herrmann). Seine akademische Karriere in Göttingen wurde 1933 abgebrochen. Er ging zu Martin Buber im Jüdischen Hilfswerk in Frankfurt a.M., führte als Leiter des Ausbildungslehrguts Gross Breesen in Schlesien Auswanderungslehrgänge für Jugendliche aus jüdischen Familien durch, kam aufgrund internationaler Solidarität im Dezember 1938 nach mehreren Wochen KZ Buchenwald unter der Bedingung sofortiger Emigration frei, ging über England, Holland und Spanien 1939 in die USA, wo er in Richmond (Virginia) am "College of William and Mary" seine akademische Laufbahn als Professor fortsetzte. Dieser Pionier des Erziehungsgedankens im deutschen Jugendstrafvollzug kehrte zurück und wurde erster Direktor des Psychologischen Instituts der Universität Hamburg nach dem Zweiten Weltkrieg (1950-1959).
  • Ende Juli 1934 ging Ernst Delaquis, ordentlicher Professor für Strafrecht und Direktor des Seminars für Strafrecht und Kriminalpolitik, in die Schweiz zurück.


Anpassung

Es gab vom Regime begeisterte und es gab eher kritische Kriminologen an der Universität Hamburg. Nach Dieter Langewiesche (1997) lassen sich vier Anpassungstypen unterscheiden:

  • (1) Eigensinnige Selbstbehauptung
  • (2) Illusionäre Selbstgleichschaltung
  • (3) Nachholende Selbstgleichschaltung
  • (4) Identifizierende Selbstgleichschaltung


  • Beispiele für (4) Identifizierende Selbstgleichschaltung: am 07.11.1933 hält Eberhard Schmidt, der zum 1.10.1935 nach Leipzig wechseln sollte, als neuer Rektor der Universität Hamburg seine Antrittsrede über "Juristisches Denken und Politik". Die Rede war ein vehementer Angriff auf den Rechtspositivismus, um die Juristen von den Fesseln des Gesetzes zu befreien und damit einen Beitrag zu leisten für die bedingungslose Eingliederung der Universität und insbesondere der Juristenausbildung in den faschistischen Staat:
„Die Trias des Arbeitsdienstes, des SA-Dienstes und des Wissenschaftsdienstes soll vielmehr die Arbeit und das Leben in den an der Universität zugebrachten Studienjahren bestimmen (...) wir dies in Hamburg einmal durch politische Schulungskurse erreichen, die von einem ganzen Stabe von Dozenten für die jüngeren Semester unter Anknüpfung an die im Arbeitslager und im SA-Dienst gemachten Erfahrungen abgehalten werden sollen. Die politische Ideenwelt des neuen deutschen Staates, wichtige Fragen der Volkskunde, der Geschichte, der Biologie, insbesondere der Rassenbiologie, der Geographie und Soziologie sollen besprochen und als Ansatzmöglichkeiten für die Entfaltung einer politischen Bewusstheit benutzt werden"

(zit.n. Paech & Karpen 1991: 868). Das Recht, so Schmidt, sei nicht nur im Gesetz, sondern per ‚metagesetzlicher Denkmethode‘ in dem ‚überindividuellen Werturteil der Volksgemeinschaft‘ zu finden:

"Den tiefsten Sinn der nationalen Bewegung sehe ich – von der juristischen Perspektive aus - darin, dass sie diese Einheitlichkeit des Denkens in entscheidenden Grundfragen und Grundwertungen dem deutschen Volke schafft durch pflegliche Entwicklung alles dessen, was in unserer Kultur deutsch ist“ (nach Paech & Karpen 1991: 868).
  • 1936 habilitiert sich Hans Peter Ipsen über Politik und Justiz mit dem Ziel der Entwicklung einer Theorie justizloser Hoheitsakte. Ipsen begründet eine Hoheitssphäre des Staates und der Partei, die in ihren nicht gesetzlichen Hoheitsakten keiner gerichtlichen Nachprüfung unterliegen dürfe. "Im neuen Staat ist die allseitige Anerkennung eines Bereichs justizloser Hoheitskate nicht Kompromiss oder Ausgleich, sondern autonomer Bestandteil der Verfassungsordnung.“
  • Auf Vorschlag der Universität tritt Rudolf Sieverts die Delaquis-Nachfolge an: ein Hamburger und dazu noch ein Schüler von Moritz Liepmann. Im WS 1933/34 beginnt er eine Reihe von Veranstaltungen zum Militärstrafrecht. Er wurde Direktor des zum WS 1936/37 auf Initiative von Ernst Forsthoff neu gegründeten "Seminars für Jugendrecht" - einer Neugründung mit erkennbar nationalsozialistischer Stoßrichtung, war die Einrichtung doch ausdrücklich für "Führer der Hitlerjugend" gedacht. Nach mindestens dreijähriger Wartezeit wurde er zum 1.3.1940 in die NSDAP aufgenommen. Er war Mitgründer (4.5.1937) der Forensisch-Biologischen Arbeitsgemeinschaft, die auf eine Anregung von Emil Helfferich und des Ex-Justizsenators und Gauführers des NSRB, Curt Rothenberger, zurückging und aus monatlichen Treffen im Kreis von 30-40 Teilnehmern bestand, wo es Vorträge über verminderte Zurechnungsfähigkeit, Psychopathie u.a. gab. Sieverts war Mitherausgeber des kriminologischen Standardwerks "Handwörterbuch der Kriminologie" und hatte ein wichtige Position als Schriftführer des "Hansischen Hochschulrings", dem die Durchführung der Juristischen Arbeitsgemeinschaften oblag. Nachdem er nebenamtlich zudem als Referent im Amt für Familienunterhalt tätig gewesen war (1939), beauftragte ihn 1943 der Reichsstatthalter Kaufmann mit der Aufgabe, die fachliche Ausrichtung des neuen Landesjugendamts zu übernehmen. Sein wissenschaftlicher und kriminalpolitischer Schwerpunkt waren Jugendhilfe, Jugendstrafrecht und Jugendstrafvollzug [1].
  • Ab dem WS 1939/40 Kolonialrecht: auch unter Beteiligung von Sieverts und Ipsen. Im 3. Trimester 1940 bieten Ipsen und Sieverts wieder "Kolonialrecht" an - und daneben gleich auch noch zusammen mit Carl Meinhof: "Kolonialrechtliches Seminar: Kolonialrecht und Eingeborenenrecht." Das Seminar wird anscheinend ein Erfolg. Jedenfalls bleibt es laut Vorlesungsverzeichnis ein Dauerbrenner. Gelegentlich wechselt die Besetzung. Im Sommer 1942 heißt es: Friedrich Schack, Ipsen, Meinhof, Sieverts: "Kolonialrechtliches Seminar: Afrikanisches Eingeborenenrecht".

Jugendstrafrecht

1940 wurde per Verordnung der Jugendarrest eingeführt. 1943 wurde das Jugendgerichtsgesetz (JGG) von 1923 geändert: die Strafbarkeitsgrenze wurde von 14 auf 12 Jahre gesenkt, "wenn der Schutz des Volkes wegen der Schwere der Verfehlung eine strafrechtliche Ahndung fordert". Bei Jugendlichen, die in ihrer Entwicklung über 18 Jahr alten Tätern gleich waren, konnte das allgemeine Strafrecht, damit in vielen Fällen auch die Todesstrafe, angewandt werden, "wenn das gesunde Volksempfinden es wegen der besonders verwerflichen Gesinnung des Täters und wegen der Schwere der Tat fordert" (§ 20 Abs. 1). Nach § 20 Abs. 2 war auch dann das allgemeine Strafrecht anzuwenden, "wenn der Jugendliche ein charakterlich abartiger Schwerverbrecher ist und der Schutz des Volkes diese Behandlung fordert."


Besatzungszeit

Am 20. September 1945 erging das alliierte Kontrollratsgesetz Nr. 1 betreffend die Aufhebung von NS-Recht. Damit wurde u.a. das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom April 1933 aufgehoben.

Am 06. November 1945 konnte die Universität mit Erlaubnis der Britischen Besatzungsmacht ihren Betrieb wieder aufnehmen.

Literatur

  • Orschekowski, Walter (1961) Die faschistischen Jugendschutzlager und das Seminar für Jugendrecht und Jugendhilfe der Universität Hamburg .Staat und Recht 10. 1081-1092.
  • Paech, Norman und Karpen, Ulrich (1991) Die rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät, Abteilung Rechtswissenschaft, in: Eckart Krause, Ludwig Huber, Holger Fischer, Hg., Hochschulalltag im ‚Dritten Reich‘. Die Hamburger Universität 1933-1945. Berlin, Hamburg: Dietrich Reimer,867-912, 868).


Weblinks