Handout Strafverteidigertag 2018

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Forderungen zur Entkriminalisierung

Im Dezember 2017 forderte der emeritierte Gießener Strafrechtler und Kriminologe Arthur Kreuzer unter der Überschrift "Reformiert endlich das Strafrecht!" in der Wochenzeitschrift "DIE ZEIT" die Rücknahme einer ganzen Reihe von Gesetzen aus der vergangenen Legislaturperiode:

  1. Strafbarmachung des Eigendopings (§ 4 AntiDopG von 2015). Kritik: nicht geeignet, nicht erforderlich, verfassungsrechtlich problematisch. Alternative: Verbandsstrafen. Antikritik: Zeichen setzen.
  2. Erweiterte Strafbarkeit der Beschaffung sexuell potentiell anregender Kinderbilder in § 184b StGB mit Strafe von 3 Monaten bis 5 Jahren Gefängnis. Nach der letzten Erweiterung (2008) um Verbreiten, Erwerb und Besitz sog. Posing-Fotos nun der Verzicht auf das Erfordernis einer Darstellung sexueller Handlungen und Strafbarkeit des Versuchs der Bilder-Beschaffung etwa von schlafenden Kindern oder entblößten Körperteilen. Für Strafbarkeit genügt das Anklicken von Pornolinks. Keine Strafbefreiung bei Rückgängigmachen des Aufrufs einer solchen Website. Kritik: Unverhältnismäßigkeit, Kontraproduktivität durch Kriminalisierung massenhaften Verhaltens von Jugendlichen mit Häufung von Denunziationen unliebsamer Bekannter als absehbarer Nebenfolge.Alternativen: Zurück zum status quo ante. Antikritik: Schutz von Kindern vor Fotos und vor künftigen pädophilen Handlungen.
  3. Strafbarkeit der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (§ 89a von 2015). Klingt schon fast nach Hochverrat. In Wirklichkeit wird hier der "Versuch der Vorbereitung zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Handlung" - so wörtlich selbst der BGH - zu einem eigenen Tatbestand aufgepimpt. Für den BGH ist trotzdem nur der "Grenzbereich des verfassungsrechtlich Zulässigen" tangiert. Kritik: feindstrafrechtlich vorverlegte Strafbarkeit. Strafbar ist schon, "wer sich anschickt, in einen Staat auszureisen, um sich dort in irgendwelchen Fähigkeiten ausbilden zu lassen" (Kreuzer), die es ihm ermöglichen, später politisch-militärische Aktionen zu unterstützen. "Bucht er online ein Flugticket, besinnt sich dann und löscht die Buchung sogleich wieder, ist das nicht mehr strafbefreiend. Ohne dass hier eine wirkliche Straftat vorliegt, will man Tatgeschehen künstlich behaupten, um Strafverfolgung und Freiheitsentzug zu ermöglichen." Alternative: ordnungsbehördliches Ausreiseverbot. Antikritik: Terroristische Einzeltäter müsssen effektiv gestoppt werden.
  4. Kriminalisierung der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 von 2015). Kritik: Dem Motiv des Gesetzes, die eigenverantwortliche Entscheidung über einen Suizid vor Einflussnahmen Dritter zu schützen, wird nicht Rechnung getragen. Das Gesetz lässt den Suizidwilligen, der nicht mehr selbst Hand an sich legen kann, bar jeder erfahrenen Unterstützung und professionellen Begleitung (Berghäuser 2016), wenn es nicht geradezu ein Dilemma herstellt zwischen strafbarer Suizidbeihilfe und strafbarer unterlassener Hilfeleistung - von der Erhöhung des Risikos von Denunziationen seitens enttäuschter Angehöriger ganz zu schweigen. Alternative: Strafgesetzliche Verfahrenslösung wie Art. 293 II und 294 II nlStGB: straflos ist die Sterbehilfe, wenn die prozeduralen Bedingungen (Arztvorbehalt, Hinterfragen des Suizidentschlusses, Beratung unter Erörterung von Alternativen, Kontrolle durch eine zweite Person) erfüllt sind. Problematischen Organisationen kann zudem per Vereins- und Gewerberecht ein Riegel vorgeschoben werden. Antikritik: Das Gesetz ist nicht so schlecht wie es gemacht wird - selbst Palliativmediziner, die geschäftsmäßig und öfter mit "mit Suizidbeihilfewünschen zu tun haben und diesen dann aufgrund besonderer Umstände im Einzelfall auch nachkommen wollen", werden "nicht zwingend" nach § 217 bestraft (Tolmein/Radbruch 2017). Bei Lösungen à la Holland drohen Vollzugsschwierigkeiten. Auch kann es zu Außendarstellungen der Suizidbeihilfe als "normale Dienstleistung" kommen.
  5. Gleichstellung sexueller Übergriffe mit Vergewaltigungen im neuen § 177 und Einführung des Tatbestands der sexuellen Belästigung im neuen § 164i (2016). Kritik: Rückfall ins Moralstrafrecht (T. Hörnle), Fokussierung auf beweisrechtlich nicht fassbare Gefühlslagen von möglichen Opfern (J. Baumhöfener). Kreuzer: das neue geschaffene Massendelikt kann nicht nur Betroffene, sondern auch Nicht-Betroffene zur Anzeige veranlassen und wird andererseits wegen Beweisproblemen vor allem Verfahrenseinstellungen hervorbringen. Alternative: Zurück zum status quo ante (?). Antikritik: symbolischer Schlusspunkt für das einst selbstverständliche Verfügungsrecht des Mannes über den Körper der Frau.
  6. Aufwertung des Einbruchs in Privatwohnungen zum Verbrechen im neuen § 244 StGB aus dem Jahr 2017 bei gleichzeitiger Streichung der Strafmilderung für minder schwere Fälle. Kritik: erstens im Widerspruch zur Beibehalung minder schwerer Fälle im noch gewichtigeren Tatbestand des bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls, zweitens falsche Vorstellungen des Gesetzgebers über das Phänomen, drittens absehbare Welle justizieller Übermaßstrafen oder Umgehungsstrategien, viertens möglicherweise verfassungswidrig. Alternative: Status quo ante. Antikritik: Kriminelle müssen "in solchen Fällen höhere Strafen zu spüren bekommen - wenn sie denn gefasst werden" (Tagesschau).

Forderungen betreffen aber nicht nur die Rücknahme einer unter Fachleuten weithin als unseriös, populistisch und aktionistisch kritisierten Gesetzgebungspraxis der Ära Maas. Umstritten sind Berechtigung und Grenzen des Strafens auch schon seit längerer Zeit in folgenden Bereichen:

Massenverkehr und Massenkonsum

Anknüpfungspunkt heute wäre der Antrag von Volker Beck, Joseph Fischer u.a. (GRÜNE) zur Entkriminalisierung von Schwarzfahren, Ladendiebstahl und Fahrerflucht bei Sachbeschädigung (1995)-

Fahrerflucht (§ 142 StGB)

Gesetz: Strafbar seit 1909 (§ 22 GFK), unter Freisler (1940) verschärft zwecks Ächtung der Feigheit des sich vom Unfallort Fliehenden (§ 139a RStGB), dann Übernahme als § 142 StGB bis zu diversen Änderungen (1969 sowie Januar und Juni 1975), die aber den Reformbedarf nicht linderten (Kubatta 2008). Kritik: Verletzung von nemo tenetur (se ipse accusare), Bestimmtheitsgrundsatz, Schuldprinzip und Verhältnismäßigkeit. Im Abschnitt über Delikte gegen die öffentliche Ordnung falsch plaziert, da in Wirklichkeit Schutz privater Vermögensinteressen. Unfallverursacher melden sich aus Angst vor Strafe nicht und die Geschädigten bleiben auf ihren Kosten sitzen. Etwa eine halbe Million Verkehrsteilnehmer in Deutschland werden zu potenziellen Straftätern - auch bei Bagatellschäden und wenn der Verursacher sich später meldet. Nicht mehr zeitgemäß angesichts von GPS und Mobilfunk. Hohe Einstellungsquoten bei Gericht werdem als Indiz gewertet, dass diese Verfahren gar nicht vor Gericht gehören. Tatbestand gehört zumindest reduziert und vereinfacht. Alternativen: ADAC will Verzicht auf Strafverfolgung bei Bagatellschäden; VGTZ fordert Präzisierung der Wartepflicht und erweiterte Regelung zur Straffreiheit bei nachträglicher Meldung und der 56. Deutsche Verkehrsgerichtstag in Goslar (Januar 2018) fordert jedenfalls "mehr Nachsicht bei minderschweren Fällen von Unfallflucht"(FAZ 27.1.18: 5). Gut wäre: best practice in Europa verallgemeinern. Jan Zopfs (Uni Mainz): Neutrale Meldestelle könnte ein Online-Register führen. So müsste sich der Verursacher nicht direkt einer Strafverfolgung aussetzen, aber der Geschädigte würde trotzdem seinen Schaden ersetzt bekommen. In Österreich ist Fahrerflucht keine Straftat, sondern Verwaltungsübertretung. Der § 4 Abs 2, Abs 5 StVO besagt, dass bei einem Verkehrsunfall mit Personen– oder Sachschaden die mit einem Verkehrsunfall im ursächlichen Zusammenhang stehenden Personen die nächste Polizeidienststelle ohne unnötigen Aufschub zu verständigen haben. Unterbleibt dies, begeht eine solche Person gemäß § 99 Abs 2 lit a oder Abs 3 lit b iVm § 4 StVO Fahrerflucht. Eine solche Verständigung darf nur unterbleiben, wenn diese Personen oder jene, in deren Vermögen der Schaden eingetreten ist, einander ihren Namen und ihre Anschrift nachgewiesen haben. - In der Schweiz kommt Art. 92 SVG zur Anwendung: Pflichtwidriges Verhalten bei Unfall. (1) Wer bei einem Unfall die Pflichten verletzt, die ihm dieses Gesetz auferlegt, wird mit Busse bestraft. (2) Ergreift ein Fahrzeugführer, der bei einem Verkehrsunfall einen Menschen getötet oder verletzt hat, die Flucht, so wird er mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. - Zopfs: "Es geht also darum, beim Unfallfluchtparagrafen ein paar Dinge anzustoßen und geradezuziehen. Die Sache zu entkriminalisieren, zu vereinfachen und effektiver zu gestalten." - "Wenn jemand verletzt wird: Dann muss ich als Unfallverursacher sowieso jemanden benachrichtigen, damit die Person gerettet wird. Sonst mache ich mich der Körperverletzung durch Unterlassen strafbar. Wenn die Person stirbt, kann auch eine Strafbarkeit wegen Totschlags durch Unterlassen in Betracht kommen." Antikritik: Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius (SPD) warnt vor zu starker Aufweichung.

Schwarzfahren (§ 265a StGB)

Kritik: (1) Systemwidrigkeit: Strafrecht darf nicht als Büttel von Partikularinteressen missbraucht werden. Der (grüne) Justizminister von Thüringen, Dieter Lausinger, hält es für "ein Unding", dass Strafjustiz und Strafvollzug "den Preis für die Rationalisierung des öffentlichen Personenverkehrs zahlen müssen und zivilrechtliche Ansprüche der Verkehrsunternehmen mit den Mitteln des Strafrechts gesichert werden sollen. Hier überschreitet das Strafrecht seine Aufgabe, ultima ratio staatlichen Eingreifens zu sein!" (DRiZ). (2) Unwirtschaftlich: "Mehr als jede zehnte Verurteilung in NRW betrifft Schwarzfahrer. In Zeiten, indenen die Justiz ohne hin überlastet ist und das Personal fehlt, um echte Kriminelle zu verfolgen, sind das immense Ressourcen" (NRW-Justizminister Biesenbach, CDU, 2017). In Berlin sind statistisch 20 Richter und Staatsanwälte ganzjährig nur mit der Verfolgung von Schwarzfahrern beschäftigt. Hinzu kommen die Kosten für die Vollstreckung: Mehr als 1200 Gefangene waren im Herbst allein in NRW wegen einer Ersatzfreiheitsstrafe in Haft - der Großteil von ihnen wegen Schwarzfahrens. Kosten pro Tag über 100 € pro Person stehen außer Verhältnis zu dem angerichteten Schaden. Bei 30 oder 60 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe investiert man mindestens 3.000 bis 6.000 Euro, um diesen Menschen einzusperren. EFSler verursachen zudem rund ein Drittel des Gesamtaufwands für Aufnahme- und Entlassungsprozeduren in den Gefängnissen. All das, weil sich die Verkehrunternehmen die Kosten für Zugangskontrollen sparen wollen. Die Verkehrsbetriebe haben jederzeit die Möglichkeit, ihre Zugangskontrollen zu verbessern. Dafür könne man ihm viele Monate ein Sozialticket zahlen. Oder man könnte das für die vielen Tausend Hafttage eingesparten Gelder den öffentlichen Verkehrsbetrieben zukommen lassen (criminal justice replacement). (3) Unverhältnismäßig: warum ist das Überfahren einer roten Ampel ledigliche eine OWi, das 'Erschleichen von Leistungen' aber Straftat? Wer mit dem Auto bei Rot über eine Ampel fährt, bekommt von der zuständigen Behörde ein Bußgeld auferlegt. Bei Straftaten wird hingegen die ganze Maschinerie des Strafprozesses angeworfen. (4) Die vielen prozessualen Milderungsmöglichkeiten genügen nicht. Antragsdelikt; Strafantrag wird von Verkehrsbetrieben nur bei Wiederholungstätern gestellt. Das sind aber allein in HH pro Jahr zwischen 10.000 und 18.000. Die StA belässt es beim ersten Verfahren idR bei einer Verwarnung. Dann kommt die Einstellung gegen Auflage, dann eine Geldstrafe von vielleicht 20 Tagessätzen, beim nächsten Mal 40. Hat jemand kein Geld, kann er weder die Strafe bezahlen noch eine Fahrkarte kaufen. Im Hartz-IV-Regelsatz sind 18,41 Euro für Fahrkarten vorgesehen. Eine Monatskarte für drei Tarifzonen ohne zeitliche Beschränkung kostet einen Hilfeempfänger, der einen Zuschuss von monatlich 18,41 Euro erhält, immer noch 38,70, die er selbst aufbringen muss. Wer trotzdem auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen ist, landet schnell in einer Abwärtsspirale. Wird die Geldstrafe nämlich nicht bezahlt, kommt die EFS - pro Jahr in Deutschland wohl um die 10 000 mal. Muss ein Schwarfahrer ins Gefängnis, sind am Ende nicht selten auch Arbeitsplatz und Wohnung weg. Am Ende summieren sich zu den Kosten für die Rechtsverfolgung auch noch die sozialen Folgekosten. Alternative: Viele Richter (z.B. Buermeyer, Berlin) würden § 265 ersatzlos streichen. Sanktionierung als OWi ausreichend und angemessen. Keine höhere kriminelle Energie als Falschparker. Antikritik: Entkriminalisierung ist das falsche Signal. Schwarzfahrer richten bundesweit pro Jahr einen Schaden von 250 Mio. bei den Verkehrsbetrieben an. (In Hamburg: 20 Millionen. S-Bahn-Bußgelder: verhängt werden 4 Mio. €, bezahlt werden 2 Mio.; durch die Inhaftierung von Schwarzfahrern entstehen der Hansestadt Kosten in Höhe von geschätzten 4,64 Mio. Zahlungsunfähige Schwarzfahrer sitzen im Schnitt zwei Monate Ersatzfreiheitsstrafe ab. Ein Hafttag kostet in HH laut Justizbehörde 2017: 149 €]. BayJuMi Winfried Bausback (CSU): Wiederholungen sind keine Bagatellen. BMJ: Kein Änderungsbedarf. Entkriminalisierung von Bagatelldelikten "im Hinblick auf die Wertbildungsfunktion des Strafrechts und den Schutz fremden Vermögens nicht angezeigt".

Ladendiebstahl (AE-GLD)

Seit bald einem halben Jahrhundert wird auch die Entkriminalisierung des Ladendiebstahls diskutiert. Kritik: Unverhältnismäßige Sanktionierung eines Massendelikts von geringem Unrechtsgehalt. Geringer Warenwert. Mittellose Täter, oft Asylbewerber. Aufklärungsquote 95%. Allerdings ist das Dunkelfeld riesengroß (50 Mio.). Alternativen: Vorschläge dazu liegen seit dem AE-GLD (1974) und den Arbeiten der hessischen und der niedersächsischen Kommission "Kriminalpolitik", bzw. "zur Reform des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts" vor (vgl. Albrecht u.a. 1992 und Albrecht 1996). Im November 1994 schlug der Deutsche Anwaltverein vor, die Strafjustiz von bagatellhaften Massendelikten wie Ladendiebstahl, fahrlässiger Körperverletzung im Straßenverkehr und Schwarzfahren zu entlasten; auffällige Ladendiebe könnten künftig zentral registriert, zu Schadensersatz verpflichtet und beim fünften Eintrag der Strafjustiz übergeben werden. Dem hatte sich Arthur Kreuzer (1974) unter der Überschrift "Strafzettel für Ladendiebe - warum nicht?" angeschlossen. 1995 kam es dann zu einem Gesetzentwurf der Grünen (Volker Beck u.a.) ähnlichen Inhalts. Antikritik: In der Reaktion auf das bislang nicht realisierte Reformvorhaben war von Kapitulation vor der „Einstiegskriminalität“, Dammbruch, „Perversion“ des Strafrechts usw. die Rede. Auch die Polizei verzichtet ungern auf den Straftatbestand, weil die Aufklärungsquote beim Ladendiebstahl die Gesamt-Aufklärungsquote, die sonst weit unter 50% liegt, aufhübscht.

Urheberrechtsverletzungen (§§ 106 ff. UrhG)

Kritik: Es fehlt angesichts zivilrechtlicher Alternativen an Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Strafbarkeit privater nicht-kommerzieller Urheberrechtsverletzungen. 2012 wollte die Piratenpartei das private, direkte, nichtkommerzielle Filesharing und die Weitergabe von Werken entkriminalisieren. Alternative: Einschränkung der Strafbarkeit auf gewerbsmäßige Verletzungen, Streichung von § 107 UrhG und Reform der übrigen Straftatbestände (Gregor Albach, 2015, Zur Verhältnismäßigkeit der Strafbarkeit privater Urheberrechtsverletzungen). Antikritik: Vor allem Musikverlage und Filmverleiher bekämpften solche Plattformen und Reformideen um der Erhaltung ihrer herkömmlichen Verkaufswege willen. Siehe auch die Kampagne "Raubkopierer sind Verbrecher" in den Jahren 2003 ff..

Cannabis

Gesetz: Obwohl der Konsumakt als solcher nicht strafbedroht ist, kriminalisiert das BtMG von 1982 durch die Strafbarkeit des Besitzes, des Erwerbs, des Anbaus, der Abgabe und so weiter den gesamten Konsumbereich und stellt damit auch das Ausmaß der Kriminalisierung des Alkohols während der us-amerikanischen Prohibitionszeit in den Schatten. Kritik: Gründliche rechtsphilosophische (Husak 1992) und strafrechtstheoretische (Nestler 1998, 2017) Kritik verneint die Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Cannabis-Prohibition (Dan Werb et. al 2013). Bezweifelt werden Zweckmäßigkeit und Strafwürdigkeit. Mit unterschiedlichen Graden der Entschlossenheit setzen sich der Deutsche Hanf-Verband (DHV), der Schildower Kreis, die FDP und die Grünen für Entpönalisierungen und/oder Entkriminalisierungen ein. 2010 startete der Deutsche Hanf-Verband DHV die Unterschriftensammlung für eine Petition zur Entkriminalisierung von Cannabiskonsumenten. 2012 kam es zu einer Anhörung in Berlin. 2014 stimmten Juristen, Suchtexperten und Mediziner auf einer Tagung in Frankfurt in ihrem Ruf nach schneller Entkriminalisierung überein. So setzte sich die Initiative „Schildower Kreis“ für eine neue Drogenpolitik ein, da der Schwarzmarkt große Risiken berge. Auf der Internetseite des Netzwerkes läuft die „Prohibitionsuhr“, die unter anderem die Kosten der Drogenrepression zählt. Laut Heino Stöver von der FH Frankfurt konsumierten zwölf Prozent der Deutschen im vergangenen Jahr Cannabis aber nur drei Prozent davon seien Gewohnheitskiffer. Auch der Dauergebrauch sei auf niedrigem Niveau stabil und werde durch rechtliche Eingriffe kaum verändert. Ein Vertreter des Bundes Deutscher Kriminalbeamte berichtete, dass 145.000 der 250.000 Drogendelikte auf Cannabis entfielen aber die meisten dieser Verfahren aufgrund geringer Mengen aber eingestellt würden. Es entstünden unnötige Kosten, da Beamte für den Papierkorb arbeiteten. - Im Februar 2018 erregte die Forderung des Bundes deutscher Kriminalbeamter (BDK) nach einer völligen Legalisierung von Cannabis einige Aufmerksamkeit - obwohl der Vorsitzende des BDK nur die Beschlusslage seiner Vereinigung seit 2014 wiederholt hatte (am Tag nach der Erklärung des Vorsitzenden scherte der Landesverband Saar des BDK aus und sprach sich gegen eine Liberalisierung aus). Alternativen: Das Drogenrecht in Portugal spricht im Gesetz von 2001 explizit von Entkriminalisierung und meint damit die Herabstufung der Delikte in der Konsumsphäre zu Ordnungswidrigkeiten in Kombination mit Beratungspflichten. Dies betrifft allerdings nicht nur Cannabis, sondern alle Drogen. Anders hingegen verhält es sich mit der de facto Entkriminalisierung in Holland und wieder anders mit der de jure Entkriminalisierung in Uruguay und in Kalifornien und 7 weiteren US-Bundesstaaten. Cannabis in Uruguay wird legal angebaut und in Apotheken an Freizeitkonsumenten in 5-Gramm-Tüten à ca. 7 Dollar verkauft. Pivatpersonen dürfen bis zu sechs Cannabis-Pflanzen pro Kopf (bzw. von bis zu 99 Pflanzen für Marihuana-Clubs mit 15 bis 45 Mitgliedern) anbauen. - Die Situation für Cannabis in Kalifornien (sowie Alaska, Colorado, Maine, Massachusetts, Oregon, Washington und Nevada) sieht ähnlich aus: die Grenze für den monatlichen Einkauf bzw. Besitz liegt bei einer Unze (28,3 Gramm). Der private Anbau von bis zu 6 Pflanzen ist ebenfalls erlaubt. Kommerzieller Anbau und Verkauf erfordert Lizenzen. Mit deren Ausgabe begann das Bureau of Cannabis Control im Dezember 2017, als es die ersten 20 befristeten cannabis business licenses erteilte. Konsum in der Öffentlichkeit sowie innerhalb von 1000 feet (300 m) von einer Schule ist ebenso verboten wie Autofahren unter dem Einfluss von Cannabis. Die Steuern sind mit 35% recht hoch, was dazu führt, dass mit einem jährlichen Steueraufkkommen von rund 1 Milliarde Dollar gerechnet wird. Insgesamt wird der kalifornische Markt für medican und für adult use marihuana für die Jahre 2018-2021 von der Firma Arcview auf 40 Milliarden Dollar geschätzt. Die Thematik ist auch jenseits der Ökonomie brisant. Die Drogenprohibition kostet weltweit mehr Menschenleben als der Krieg. Die Opferzahlen des Krieges gegen die Drogen einschließlich der Kämpfe zwischen Banden, Militär und Polizei etwa in Mexiko oder Brasilien gehen in die Hunderttausende. Antikritik: Gegner der Entkriminalisierung verweisen seit jeher auf die Gesundheitsrisiken des Konsums - vom "Killer Weed" (Harry Anslinger) bis zu "Kiffen tötet" (FAZ online 2.2.2018). In der Regel gehen sie auf die strafrechtstheoretischen und -dogmatischen Kriterien der Strafwürdigkeit selbstschädigenden Verhaltens nicht ein. - Das Bundesverfassungsgericht hält die Kriminalisierung laut Beschluss vom 9.3.1994 für verfassungskonform.

Politische Äußerung und Partizipation

Verbreiten von Propagandamitteln und Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§§ 86 und 86a StGB)

Gesetz: § 86a StGB soll nicht nur die Wiederbelebung des Nationalsozialismus verhindern, sondern jeden Anschein einer Duldung vermeiden. Vertrackt sind hierbei wie immer die Zweifelsfälle: Etwa, wenn nicht ganz klar wird, ob ein Symbol der Unterstützung oder Diffamierung dienen soll, oder wenn es in ein vorgeblich harmloses Symbol variiert wird, das Eingeweihte aber als Code erkennen. Hörnle NStZ 2002, 114 Fn. 16 Schutzgut öffentlicher Friede problematisch. Staatsschutz ebenfalls. Vorfeldkriminalisierung. Kritik: § 86 Abs. 1 Nr. 4 StGB stellt allein einen Bezug zum Gedankengut einer nicht mehr existenten nationalsozialistisichen Organisation her; es gibt keinen fassbaren Organisationsbezug. Das rückt die Vorschrift in den Verdacht, dass hier allenfalls politische Meinungen bekämpft werden sollen, was Probleme mit Art. 5 GG und der dort verbürgten Meinungsfreiheit heaufbeschwört (Lotger JR 1969, 19; wegen allzu lockeren bzw. fehlenden Organisationsbezugs wird die Verfassungswidrigkeit von § 86 Abs. 1 Nr. 4 StGB kritisiert. - Einzelne Mitglieder der Piratenpartei sprachen sich für die Abschaffung aus, weil das Verbot den Objekten eine Kraft verleihe, die ihnen nicht zukommen solle. 2014 forderte Höcke in einer parteiinternen E-Mail die Abschaffung von § 86 (Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen) und § 130 StGB (Volksverhetzung und die Leugnung des Holocausts). Entkriminalisierungsforderungen kommen von ganz rechts. Das könnte ein Grund für die Duldung der Vorschrift durch die anderen Parteien sein. Alternativen: ersatzlose Streichung.. Antikritik: politisch notwendige klare Grenzziehung zum rechten Rand. Literatur: Lutz Eidam (2015) Der Organisationsgedanke im Strafrecht, S. 100

Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter (§ 103 StGB)

§ 103 StGB war ein Sondertatbestand der Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten. Nach einem im Fernsehen ausgestrahlten Schmähgedicht von Jan Böhmermann auf den türkischen Präsidenten galt § 103 StGB vielen als nicht mehr zeitgemäß. Während sich Joachim Gauck als damaliger Bundespräsident zurückhaltend zur Abschaffung äußerte, machten SPD und Grüne Druck über den Bundesrat, die nach dem Skandal sowieso schon konsentierte Aufhebung des Gesetzes noch zu beschleunigen. Im Gesetzgebungsverfahren hatte der Bundesrat in seiner 954. Sitzung am 10. März 2017 vorgeschlagen, das Datum des Inkrafttretens vorzuverlegen auf den Tag nach der Verkündung im Bundesgesetzblatt, und zwar mit der beispielhaften "Begründung: § 103 StGB ist aufzuheben. Es besteht kein sachlicher Grund, den Wegfall der Norm hinauszuzögern." Der Bundestag blieb aber bei seinem Zeitplan, der Bundesrat verzichtete auf die Anrufung des Vermittlungsausschusses und das Gesetz wurde dann mit Wirkung vom 01.01.2018 durch das Gesetz zur Reform der Straftaten gegen ausländische Staaten vom 17.07.2017 (BGBl. I S. 2439) aufgehoben.

Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (§§ 129a,b StGB)

Kritik: 1997 forderte die Bundestagsfraktion von B90/DIE GRÜNEN die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der "zumindest" die Streichung des Tatbestandes der terroristischen Vereinigung (§ 129a), des gesamten Kronzeugengesetzes, des Kontaktsperregesetzes und des Verbots der Mehrfachverteidigung vorsehen sollte (BT-DS 13/9460: 3). Die Konturlosigkeit des Organisationsdelikts kollidiere mit dem Bestimmtheitsgebot des Artikel 103 II GG und dem Schuld- und Tatstrafrecht gem. Art. 2 I GG. Paragraf 129 a bedrohe auch diejenigen, die sich der öffentlichen Diskussion stellen und sich mit den Ursachen des Terrorismus auseinandersetzten (Autoren, Verlage, Buchhändler). Von 1980-1996 "wurden gegen mehr als 6000 Menschen Verfahren auch oder nur aufgrund des Verdachtes nach § 129a StGB, davon 4985 Verfahren wegen des Verdachtes des Werbens und Unterstützens einer terroristischen Vereinigung geführt" - aber nur 6 Urteile stützten sich auf diesen Paragrafen. Aber eine Vielzahl von Menschen wurde drangsaliert und eingeschüchtert. 2008 äußerte sich eine SPD-Juristin (Drohsel 2008) in Bezug auf §§ 129 a und b StGB ganz ähnlich: "Der Umgang mit politisch Andersdenkenen ist symptomatisch für den Zustand eines freiheitlichen und rechtsstaatlichen Landes. .. Kommt es tatsächlich zu terroristischen Straftaten, werden die Delikte durch den Straftatbestand selbst erfasst. Jedoch können über die Konstruktion des § 129 a StGB auch Personen belangt werden, denen keine konkrete Beteiligung nachgewiesen werden kann. § 129 a, b StGB stellt einen Fremdkörper im deutschen Strafrecht dar, da eine konkrete Tat des Beschuldigten nicht erforderlich ist, sondern die angebliche Gesinnung des Beschuldigten ausreicht. Es liegt mit dem § 129 a, b StGB eine Kollision mit dem Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG und des Schuld- und Tatstrafrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG vor. § 129 a, b StGB ist eine Norm des Strafrechts, die „eine Strafbarkeit bereits weit im Vorfeld der Vorbereitung konkreter strafbarer Handlungen“ (BGH 28, 148, 11.10.1978) begründet. Bei Handlungen, die „normalerweise“ keine Strafbarkeit begründen, handelt es sich z.B. um Reden, Treffen, etc.. Die Strafbarkeit wird also in ein Stadium vorverlagert, in dem ein konkreter Bezug zur Verwirklichung einer individuellen Rechtsverstoßes noch nicht gegeben ist. Es verschwimmt die Abgrenzung zwischen legalem Handeln und Delikt. Elemente des repressiven Strafrechts werden mit denen der präventiven Gefahrenabwehr vermischt. So wird § 129 a, b Strafprozessordnung auch als „Schnüffelparagraph“ bezeichnet, da er weitreichende Möglichkeiten zur staatlichen Überwa-chung in einem vom Staat zu defi nierenden Personenkreis beinhaltet, gegen die sich der/die Betroffene mangels Kenntnis des Verfahrens nicht wehren kann. Hier sind insbesondere auch die weitreichenden Ermittlungsmaßnahmen der StPO zu nennen. Faktisch fungiert der § 129 a, b StGB als „Einschüchter ungsparagraph“, der mit schnelleren Hausdurchsuchungen, erleichterte Untersuchungshaft, höheren Kontrollmöglichkeiten etc. massive Grundrechtseingriffe ermöglicht.Ausdruck liberalen Gedankenguts war die Be- grenzung strafrechtlichen Staatsschutzes auf dieVerteidigung der staatlichen Ordnung und Inte-grität. Autoritäre Strömungen versuchten stets, den Präventivkampf gegen politische Abweichler-Innen mit vordemokratischen Elementen, wie der Vorverlagerung von Strafbarkeit, zu führen.


Holocaust-Leugnung (§ 130 Abs. 3 StGB)

Im Kaiserreich von 1871 konnte es bis zu 2 Jahre Gefängnis einbringen, "in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden" Weise "verschiedene Klassen der Bevölkerng zu Gewalttätigkeiten gegen einander" anzureizen. Angesichts antijüdischer Vorfälle legte die Bundesregierung 1959 erstmals einen Gesetzentwurf für die Neufassung des § 130 StGB vor. Der wurde von der Opposition abgelehnt: Adolf Arndt sprach von einem „Judenstern“-Gesetz, das die jüdische Minderheit rechtlich als privilegiert brandmarken würde. Stattdessen müsse man jede Herabwürdigung von Minderheiten als Angriff auf die Menschenwürde ahnden. Seine Sicht setzte sich im Rechtsausschuss des Bundestages durch, so dass im Sommer 1960 nicht „Aufstachelung zum Rassenhass“, sondern der Angriff auf die „Menschenwürde anderer“ in den Gesetzestext übernommen wurde.Seit 2015 kann es bis zu 5 Jahren einbringen, wer in einer Weise, "die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören", "zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert" oder einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe "beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet".

Absatz 3 betrifft die sog. Holocaust-Leugnung, bzw. Verharmlosung.

Kritik: Zulässig ist die Beschränkung des Rechts auf Meinungsfreiheit nur bei Verleumdung, übler Nachrede und Betrug sowie zum Jugendschutz. Holocaustleugnung war bis 1994 schon als einfache Beleidigung strafbar (BGH 1979: Menschen jüdischer Abstammung haben Anspruch auf Anerkennung des Verfolgungsschicksals der Juden unter dem Nationalsozialismus). Das BVerfG-Urteil fand Kritik: Den Holocaust leugnende Äußerungen beschränkten sich regelmäßig nicht auf reine Tatsachenbehauptungen, sondern seien mit Werturteilen verbunden. Diese seien nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG auch dann vom Schutzbereich des Grundrechts erfasst, wenn es sich bei ihnen um völligen Unsinn oder sogar ehrverletzende Äußerungen handele. Diese würden erst auf Ebene der Grundrechtsschranken vom grundrechtlichen Schutz ausgenommen.

Der Politikwissenschaftler Peter Reichel hält das Gesetz für unnötig und kontraproduktiv. Persönlichkeitsschutz für die Opfer von Holocaustleugnern gab es schon vorher. Nunmehr bestraft der Staat aber erstmals eine bestimmte Tatsachenbehauptung als Lüge und Verharmlosung. Indem man bestimmte Falschbehauptungen aus der freien Kommunikation über die Geschichte gesetzlich auszuschließen versucht, fördert man eher eine erneute Tendenz zum Gesinnungsstrafrecht, statt den Meinungsbildungsprozess gerade bei ungefestigten Jugendlichen positiv zu beeinflussen. Im liberalen Rechtsstaat geht das nicht. Meinungsfreiheit ist nicht nur ein individuelles, sondern ein kollektives Grundrecht: „Es liegt im öffentlichen Interesse einer pluralistischen Gesellschaft, die wesensmäßig durch die Rationalität kommunikativen Handelns geprägt ist, freie Meinungs- und Willensbildung nicht zu behindern.“ "Rechtsgüterschutz kann sich nur auf die Ehre und das Andenken der NS-Verfolgten erstrecken, nicht aber auf ein richtiges, vom Staat verwaltetes Geschichtsbild.“

Ernst Nolte forderte 1994 eine „Versachlichung der Geschichte“ und lehnte vorgegebene „Dogmen“ oder „offenkundige Wahrheiten“ ab: Geschichte sei kein Rechtsgegenstand. In einem freien Land sei es weder Sache des Parlaments noch der Justiz, geschichtliche Wahrheiten zu definieren.

Eberhard Jäckel (2007): „Hier geht es darum, dass ein bestimmtes Geschichtsbild verboten werden soll, und das scheint mir einer freien Gesellschaft nicht würdig zu sein.“ Er plädierte für das Ignorieren der Holocaustleugner, solange sie nicht direkt zu Gewalt gegen Personen und Sachen aufriefen.

Die ehemaligen Verfassungsrichter Winfried Hassemer und Wolfgang Hoffmann-Riem kritisierten (2008) das Verbot der Holocaustleugnung: Die auf § 130 Absatz 3 StGB beruhende Rechtsprechung sei ungeeignet, die Menschenwürde der Opfernachfahren zu schützen. Die streitbare Demokratie solle es unterlassen, „durch Repression Märtyrer zu schaffen“.

Zur Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens: siehe § 166 StGB. Zu Gruppen, die in der Lage sind, eine solche Störung herzustellen: siehe Feest Meinungsfreiheit. Und:

Antikritik: Die herrschende Rechtsmeinung sieht § 130 StGB als gerechtfertigt an, weil er dem Schutz des öffentlichen Friedens und der Menschenwürde diene, die durch Vollendung der beschriebenen Tatbestände verletzt werde, und die Meinungsfreiheit gleichsam durch den Schutz des öffentlichen Friedens nur reflexiv betroffen sei. Nach der Entscheidung des BVerfG vom 9. November 2011 ist der § 130 StGB im Lichte der Meinungsfreiheit einschränkend auszulegen, so dass sich jemand, der Schriften an einen Gastwirt überlässt, in denen der Holocaust verharmlost und die alleinige Kriegsschuld Deutschlands in Frage gestellt wird, nicht ohne Weiteres der Volksverhetzung strafbar macht.

BVerfG 13. April 1994: Holocaustleugnung fällt nicht unter das Grundrecht der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Absatz 1: Es handele sich bei der Holocaustleugnung um eine „unwahre Tatsachenbehauptung“, also das Bestreiten einer vielfach erwiesenen Tatsache, die für sich nicht vom Recht der Meinungsfreiheit gedeckt sei, da sie nicht zur verfassungsmäßig vorausgesetzten Meinungsbildung beitragen könne. Schon die Prüfung, ob Holocaustleugnung überhaupt als im Sinne der Meinungsfreiheit schutzwürdige Meinung in Betracht kommt, wurde also verneint. - Daraufhin wurde § 130 StGB am 28. Oktober 1994 mit dem Absatz 3 ergänzt. Absatz 3 ist nach BVerfG-Urteil von 1994 kein Sonderrecht gegen bestimmte Meinungsinhalte, weil eine direkt zu Hass, Gewalt oder Willkür aufstachelnde Äußerung eine nicht von der Meinungsfreiheit gedeckte Straftat darstellt, die weiteres illegales Handeln bewirken, dazu aufrufen und anstiften könne.

Hans-Ulrich Wehler: „Die Leugnung eines so unvorstellbaren Mordes an Millionen – ein Drittel aller Ermordeten waren Kinder unter 14 Jahren – kann man nicht so einfach hinnehmen als etwas, was durch die freie Meinungsäußerung gedeckt ist. Es sollte schon eine Rechtszone geben, in der diese Lüge verfolgt wird. Bei einer Güterabwägung finde ich – so sehr ich für das Recht auf Meinungsfreiheit bin –, kann man die Leugnung des Holocausts nicht mit einem Übermaß an Generösität hinter freier Meinungsäußerung verstecken. […] Dass das Thema in Anatolien, Brasilien oder China so weit weg ist und deshalb nicht viele interessiert, kann kein Grund für uns sein, auf die Strafverfolgung zu verzichten. Die universelle Gültigkeit dieser Kritik und der Strafverfolgung kann nicht der Maßstab dafür sein, ob man sie unternimmt oder sein lässt.“

Gotteslästerung (§ 166 StGB)

Im Schönfelder heißt § 166 StGB natürlich nicht mehr Gotteslästerung oder Blasphemie, sondern "Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen" und bedroht mit Geldstrafe oder Gefängnis bis zu drei Jahren, wer "in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören", den Inhalt von anderer Leute religiöser Lehre oder eine Kirche oder Religion beschimpft. Jährlich kommt es zu ca. 15 Verurteilungen.

Geschütztes Rechtsgut ist der öffentliche Frieden, nicht das Bekenntnis als solches oder die bloßen Gefühle seiner Anhänger. Beschimpfen ist eine besonders gravierende herabsetzende Äußerung. Die beschimpfenden Äußerungen müssen nicht an die Kreise gerichtet sein, in denen sie zur Störung des öffentlichen Friedens führen können. Es genügt, wenn zu befürchten ist, dass sie dort bekannt werden.

§ 166 StGB ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt, d.h. der öffentliche Frieden muss durch die Beschimpfung nicht tatsächlich gefährdet sein, sondern berechtigte Gründe für die Befürchtung, der öffentliche Frieden könnte gestört werden, reichen aus. Die Beurteilung, ob das der Fall ist, soll aus der Perspektive eines objektiven, nicht besonders empfindlichen Beobachters erfolgen.

Kritik Kritiker sehen in der Vorschrift eine Einschränkung der Meinungsfreiheit. Die Beleidigungstatbestände und die Strafbarkeit der Volksverhetzung müssten als Schutz für Religiöse genügen (Volker Beck). Insbesondere durch eine einseitige Anwendung verleite der Paragraph zu einem Schutz der Mehrheitsmeinung, nicht aber zwangsläufig zum Schutz einer Minderheitsmeinung, da die Interessen kleinerer Gruppen seltener mit dem „öffentlichen Frieden“ gleichgesetzt werden. Sie lehnen den Paragraphen auch als sogenannten Gummiparagraphen ab, insbesondere, weil nicht klar sei, wie „Beschimpfung“ zu definieren ist – darunter könne jede negative Äußerung fallen. Noch fraglicher sei, wann eine solche „Beschimpfung“ geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören (die „Eignung“ reicht; sog. abstraktes Gefährdungsdelikt). Kritiker behaupten, eine solche „Friedensstörung“ könne – analog zur Volksverhetzung – a posteriori (nachträglich) konstruiert werden, wenn sich Gläubige beschwerten. Zudem kann die Friedensstörung durch die betroffene Religionsgemeinschaft bewusst herbeigeführt werden, damit der Paragraph zur Anwendung kommen kann, beispielsweise durch Anwendung von Gewalt gegen die "Gotteslästerer" oder durch die Blockade eines Theaters, in dem ein religionskritisches Stück aufgeführt werden soll. Andererseits könne in politischen Wetterlagen, in denen die Verfolgung von Gotteslästerern nicht opportun sei, fast immer damit argumentiert werden, der Beschuldigte sei nicht bekannt genug, um mit seinen Äußerungen eine breite Öffentlichkeit zu schockieren.- Kritisiert wird, dass der Staat damit das kritische Denken unterdrücke: „Das zentrale Merkmal der Aufklärung ist, alles hinterfragen zu dürfen. Das Licht der Vernunft soll in jeden Winkel scheinen, um Unterdrückung, Aberglaube, Intoleranz und Vorurteile zu überwinden. (...) Der Staat macht sich mit solchen Gesetzen zum Unterstützer der Feinde des offenen Diskurses. Vertreter jedweder Ideologie, ob politisch oder religiös, müssen es schlicht ertragen können, dass ihre Weltanschauung hinterfragt, kritisiert und, ja, auch lächerlich gemacht wird.“ - Der Paragraph ist stark in der Kritik von atheistischen Gruppen und Kirchenkritikern sowie von Künstlern, die sich in ihrer Freiheit beschnitten fühlen. Kurt Tucholsky meinte zu diesem „mittelalterlichen Diktaturparagraphen“ (in der vorhergehenden Fassung): „Ich mag mich nicht gern mit der Kirche auseinandersetzen; es hat ja keinen Sinn, mit einer Anschauungsweise zu diskutieren, die sich strafrechtlich hat schützen lassen.“

Der Philosoph Michael Schmidt-Salomon kritisierte nach dem Anschlag auf das Redaktionsbüro der Satirezeitschrift Charlie Hebdo, dass „[d]er öffentliche Friede […] nicht durch Künstler gestört [wird], die Religionen satirisch aufs Korn nehmen, sondern durch Fanatiker, die auf Kritik nicht angemessen reagieren können“. Er forderte die Abschaffung des § 166 StGB: „In der Praxis hat dieser Paragraph zu einer völligen Verkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses geführt. Namhafte Künstler wie Kurt Tucholsky oder George Grosz wurden mit Hilfe dieses Zensurparagraphen gemaßregelt. Tatsächlich aber wurde der öffentliche Friede niemals durch kritische Kunst bedroht, sondern vielmehr durch religiöse oder politische Fanatiker, die nicht in der Lage waren, die künstlerische Infragestellung ihrer Weltanschauung rational zu verarbeiten.“

"Nach dem Anschlag auf 'Charlie Hebdo': Gotteslästerungsparagraphen 166 StGB abschaffen!", forderte nicht nur die Giordano-Bruno-Stiftung (08.01.2015). Auch die FDP nahm diese Forderung in ihr Programm auf: der Staat solle die Kunstfreiheit schützen - und nicht die Gefühle religiöser Fanatiker. "Auch wenn absichtliche Schmähungen Andersgläubiger oder Andersdenkender nicht förderlich für ein friedliches Miteinander sind, halten wir den Blasphemie-Paragraphen 166 StGB für überflüssig und wollen ihn abschaffen."

Zu den rechtspolitischen Gründen der Abschaffungsforderung sagt Jacqueline Neumann, wissenschaftliche Koordinatorin des ifw: "Der § 166 StGB verletzt das Rechtsstaatsprinzip und den Bestimmtheitsgrundsatz im Grundgesetz." Gemäß Grundgesetz Art. 103 Abs. 2 muss die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt sein, bevor die Tat begangen wurde. Jedoch wird nach § 166 StGB die Meinungsäußerung erst nachträglich durch das Handeln des "Opfers" zu einer Straftat, nämlich, wenn das "Opfer" für eine Störung des öffentlichen Friedens sorgt oder damit droht oder einer Religionsgruppe angehört, bei der die deutschen Strafverfolgungsbehörden mit einer Störung des öffentlichen Friedens rechnen können. Zudem ist unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten der Bestimmtheitsgrundsatz einzuhalten. Der "öffentliche Friede", definiert als Zustand allgemeiner Rechtssicherheit ermöglicht keine Abgrenzung straflosen und strafbewehrten Verhaltens. Als Unrechtsbegründung bleibt der Hinweis auf eine drohende Trübung der Sicherheitserwartungen zirkulär: Der öffentliche Frieden soll nur durch eine Unrechtstat gestört werden können, die gerade deswegen Unrechtstat ist, weil sie den öffentlichen Frieden störe. Der Ansatz setzt den Unrechtsgehalt der Handlung voraus, den es erst noch zu begründen gilt. Nicht das Unrecht des potenziellen Gefährdungserfolges, sondern der Tat (des Beschimpfens) muss begründet werden. (Stübinger, Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 5. Aufl. 2017, § 166 Rn. 2).

Sexualität, Fortpflanzung, Sterben

Inzest (§ 173 StGB)

§ 173 stellt den vaginalen Beischlaf zwischen in gerader Linie Verwandten sowie zwischen Voll- und Halbgeschwistern unter Strafe. Jährlich kommt es zu acht bis zwölf Verurteilungen. Die Strafbarkeit von inzestuellen Handlungen ist gesellschaftlich umstritten, wurde aber sowohl vom BVerfG (2008) als auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (2012) gutgeheißen. Kritik: Unverhältnismäßigkeit, Fehlen widerspruchsfreier Begründung (Sondervotum Hassemer: der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts kritisierte die Unverhältnismäßigkeit und das Fehlen eines Rechtsguts: bei von volljährigen, einvernehmlich handelnden Geschwistern sei nicht klar, wessen Rechte durch den Geschlechtsverkehr eingeschränkt werden sollten. Eugenik sei problematisch (wieso Strafbarkeit auch bei Verhütung und vorheriger Sterilisation?); Schutz der Gesundheit potentieller Nachkommen kein legitimer Grund für Strafgesetze. § 173 StGB sei auch nicht geeignet, dem Schutz von Ehe und Familie zu dienen: Zu diesem Zweck sei die Vorschrift einerseits zu eng, weil sie nur den Beischlaf, nicht aber andere sexuelle Handlungen unter Strafe stellt und nicht-leibliche Geschwister nicht mit einbezieht, andererseits zu weit, weil sie Verhaltensweisen erfasse, die sich auf das Familienleben nicht (mehr) schädlich auswirken können.). Höherrangigkeit des Rechtsguts der sexuellen Selbstbestimmung gegenüber genetisch bedingten Risiken für den aus Inzest möglicherweise resultierenden Nachwuchs. Sozialpädagogik und Familien-,bzw. Vormundschaftsgerichte sind besser und hinreichend. Forderung nach Abschaffung: Grüne Jugend (2008); Grüne und Piratenpartei (jeweils 2012). Beischlaf von beispielsweise Elternteilen und minderjährigen Kindern bliebe davon unberührt (§ 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB). Jerzy Montag (Grüne): die strafrechtliche Verfolgung vom Beischlaf unter Verwandten und Geschwistern“ sei ein „Anachronismus“ und moralische Tabus dürften nicht mit dem Strafrecht durchgesetzt werden. 2014 empfahl der Deutsche Ethikrat mehrheitlich, den Geschwisterinzest zu entkriminalisieren und § 173 StGB abzuschaffen. Das Grundrecht der erwachsenen Geschwister auf sexuelle Selbstbestimmung sei stärker zu gewichten als das abstrakte Schutzgut Familie. In anderen Ländern ist Inzest zwar ein gesellschaftliches Tabu, aber kein Straftatbestand. Der Code Napoléon (1810) machte ihn in Frankreich straflos; es folgten die Niederlande, Portugal und Spanien; auch in der Türkei, China, der Elfenbeinküste und Russland ist einvernehmlicher Beischlaf zwischen Verwandten juristisch nicht relevant. (Anderes gilt natürlich für sexuelle Übergriffe innerhalb der Familie). Antikritik: Mit Beschluss vom 26. Februar 2008 entschied das Bundesverfassungsgericht, § 173 StGB sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Schutz von Ehe und Familie und Schutz der sexuellen Selbstbestimmung gegenüber spezifischen, durch die Nähe in der Familie bedingte oder in der Verwandtschaft wurzelnde Abhängigkeiten, rechtfertige ebenso wie der Schutz vor Erbschäden die Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit. Die CDU/CSU befürchtete "ein falsches Signal"; eine Entkriminalisierung laufe dem Schutz der unbeeinträchtigten Entwicklung von Kindern in ihren Familien zuwider. In fast allen Fällen gehe Inzest mit der Abhängigkeit eines Partners und äußerst schwierigen Familienverhältnissen einher. Justizminister Maas lehnte im September 2014 sowohl eine Abschaffung als auch eine Reform des 173 StGB ab.

Homosexualität (§ 175 StGB)

§ 175 StGB existierte von 1872 (Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches) bis zum 11. Juni 1994. Er stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. Bis 1969 bestrafte er auch die „widernatürliche Unzucht mit Tieren“ (ab 1935 nach § 175b ausgelagert). Insgesamt wurden etwa 140.000 Männer nach den verschiedenen Fassungen des § 175 verurteilt. 1935 wurde die Höchststrafe von sechs Monaten auf fünf Jahre Gefängnis angehoben. Außerdem wurde der Tatbestand von beischlafähnlichen auf sämtliche „unzüchtigen“ Handlungen ausgeweitet. Der neu eingefügte § 175a bestimmte für „erschwerte Fälle“ zwischen einem und zehn Jahren Zuchthaus.

In der Bundesrepublik hielt man (anders als in der DDR, deren Oberstes Gericht den Homosexuellen gleiche Bürgerrechte zusprach und die den § 151 im Dezember 1988 mit Wirkung zum 1.7.1989 aufhob) an den §§ 175 und 175a aus der Zeit des Nationalsozialismus fest. Auch noch der E62 sprach sich nachdrücklich dafür aus. In der DDR hatte das Oberste Gericht schon 1987 festgestellt: „Homosexualität ebenso wie Heterosexualität eine Variante des Sexualverhaltens darstellt. Homosexuelle Menschen stehen somit nicht außerhalb der sozialistischen Gesellschaft, und die Bürgerrechte sind ihnen wie allen anderen Bürgern gewährleistet.“ Am 14. Dezember 1988 wurde § 151 mit Wirkung vom 1.7.1989 ersatzlos gestrichen, was blieb, war eine einheitliche Regelung des Schutzalters gegen sexuellen Missbrauch bei 16 Jahren. - Dann kam es in mehreren Schritten zur Entkriminalisierung. Am 23. November 1973 führte das Kabinett Brandt II (eine sozialliberale Koalition) eine umfassende Reform des Sexualstrafrechts durch. Der entsprechende Abschnitt im StGB wurde von „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ in „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ umbenannt. Ebenso wurde der Begriff der Unzucht durch den der „sexuellen Handlungen“ ersetzt. Im § 175 blieb nur noch der Sex mit Minderjährigen als qualifizierendes Merkmal zurück, wobei man das sogenannte Schutzalter von 21 auf 18 Jahre absenkte. Ab 1975 kam es jährlich nur mehr zu maximal 200 Verurteilungen.

Das Wahlprogramm der FDP zur Bundestagswahl 1980 forderte, „um Homosexuelle rechtlich und gesellschaftlich gleichzustellen“, „§ 175 zu streichen. Für den Schutz von Kindern und Abhängigen reichen die übrigen Strafbestimmungen aus.“[33] Die FDP konnte diese Forderung in den Verhandlungen zur Regierungsbildung (Kabinett Schmidt III) nicht durchsetzen.[34][35][36]

Am 9. März 1989 brachten 40 Abgeordnete und die Fraktion Die Grünen einen Gesetzentwurf zur ersatzlosen Streichung des §§ 175 StGB im Deutschen Bundestag ein,[37] der jedoch sowohl von der Regierungskoalition aus CDU und FDP als auch von der SPD abgelehnt wurde.

Die Wiedervereinigung änderte zunächst nichts an der unterschiedlichen Behandlung der Homosexualität in Ost und West. Der Einigungsvertrag setzte zwar das Bundes-StGB im Beitrittsgebiet in Kraft, jedoch mit der Maßgabe, dass u. a. §§ 175, 182 und 236 (Entführung mit Willen der Entführten) nicht anzuwenden seien (Anlage I Kap. III Sachgebiet C Abschnitt III Nr. 1) und u. a. §§ 149, 153-155 StGB-DDR in Kraft blieben (Anlage II Kap. III Sachgebiet C Abschnitt I Nr. 1).Im Jahr 1994 beschloss der Bundestag mit dem 29. Strafrechtsänderungsgesetz vom 31. Mai 1994 die ersatzlose Aufhebung des § 175 StGB. Das absolute Schutzalter für sexuelle Handlungen wurde einheitlich auf 14 Jahre festgelegt (Sexueller Missbrauch von Kindern, § 176 StGB); zusätzlich wurde für besondere Fälle der Sexueller Missbrauch von Jugendlichen (§ 182 StGB) mit einem relativen Schutzalter von 16 Jahren ausgeweitet und geschlechtsneutral formuliert. Ein Verstoß gegen § 182 Abs. 3 StGB wird gemäß § 182 Abs. 5 StGB im Gegensatz zu einem Verstoß gegen § 176 StGB grundsätzlich nur auf Antrag verfolgt (relatives Antragsdelikt), es sei denn, dass die Staatsanwaltschaft ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung als gegeben ansieht.


Kritik:

Antikritik: Der E62 wandte sich Entkriminalisierungsforderungen mit der Begründung, dass im Falle einer Entkriminalisierung ja für die Homosexuellen nichts im Wege stünde, "ihre nähere Umgebung durch Zusammenleben in eheähnlichen Verhältnissen zu belästigen. […] Ausgeprägter als in anderen Bereichen hat die Rechtsordnung gegenüber der männlichen Homosexualität die Aufgabe, durch die sittenbildende Kraft des Strafgesetzes einen Damm gegen die Ausbreitung eines lasterhaften Treibens zu errichten, das, wenn es um sich griffe, eine schwere Gefahr für eine gesunde und natürliche Lebensordnung im Volke bedeuten würde.“ - Weiterhin: „Die von interessierten Kreisen in den letzten Jahrzehnten wiederholt aufgestellte Behauptung, dass es sich bei dem gleichgeschlechtlichen Verkehr um einen natürlichen und deshalb nicht anstößigen Trieb handele, kann nur als Zweckbehauptung zurückgewiesen werden. […] Wo die gleichgeschlechtliche Unzucht um sich gegriffen und großen Umfang angenommen hat, war die Entartung des Volkes und der Verfall seiner sittlichen Kraft die Folge.“[25] 1969 kam es zu einer ersten, 1973 zu einer zweiten Reform. Seitdem waren nur noch sexuelle Handlungen mit männlichen Jugendlichen unter 18 Jahren strafbar, wogegen das Schutzalter bei lesbischen und heterosexuellen Handlungen bei 14 Jahren lag. Erst nach der Wiedervereinigung wurde 1994 § 175 auch für das Gebiet der alten Bundesrepublik ersatzlos aufgehoben.

Fazit: Der § 175 wäre ohne das Engagement der Betroffenen womöglich bis heute noch nicht abgeschafft. Das spricht dafür, auch in anderen Fällen - z.B. bei der Drogenentkriminalisierung - mit weniger Süffisanz zu reagieren, wenn unmittelbar Betroffene sich politisch engagieren. Weiterhin ist auch für andere Entkriminalisierungen beachtenswert, dass diejenigen entschädigt wurden, die aufgrund des Paragraphen im Gefängnis gesessen hatten. 2002 beschloss der Bundestag gegen Stimmen von CDU/CSU und FDP eine Ergänzung zum Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege (BGBl. 2002 I S. 2714). Damit wurden Verurteilungen wegen homosexueller Handlungen und wegen Fahnenflucht in der Zeit des Nationalsozialismus für nichtig erklärt. Am 12. Oktober 2012 beschloss der Bundesrat auf Antrag der Länder Berlin, Brandenburg, Hamburg und Nordrhein-Westfalen eine Aufforderung an die Bundesregierung, „Maßnahmen zur Rehabilitierung und Unterstützung für die nach 1945 in beiden deutschen Staaten wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen Verurteilten vorzuschlagen.“ Die Bundesregierung griff das Thema jedoch zunächst nicht mehr auf,[45] und der Bundestag lehnte die im selben Zeitraum eingereichten Anträge der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Linksfraktion ab.- Am 22. März 2017 beschloss das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf zur Aufhebung der Urteile, die aufgrund des § 175 StGB gefällt wurden, und zur Entschädigung der noch lebenden Verurteilten. Der Gesetzentwurf wurde am 22. Juni 2017 in zweiter und dritter Beratung im Bundestag verabschiedet. Rehabilitiert wurden auf Drängen der CDU lediglich jene Opfer, deren Sexualpartner seinerzeit mindestens 16 Jahre alt gewesen waren. Die Einschränkung wurde in der SPD kritisiert, da die ursprünglich vorgesehene Altersgrenze dem geltenden allgemeinen Schutzalter von 14 Jahren entsprochen hatte, jedoch stimmte die Fraktion dem Gesetzentwurf zu.

Das Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen (StrRehaHomG) trat am 22. Juli 2017 in Kraft.

Das Bundesjustizministerium schätzte Mitte 2017 die Zahl der noch lebenden Opfer der Strafnorm auf rund 5000. Sie sollen mit 3000 Euro pro Urteil und 1500 Euro pro angefangenem Jahr eines Freiheitsentzugs entschädigt werden.

Pädophilie (§ 176 StGB)

Pädophilie ist nicht strafbar, wohl aber jeder Versuch, sich z.B. zwecks Selbstbefriedigung kinderpornografisches Material zu beschaffen - und vor allem jedes Ausagieren in Interaktion mit Kindern bis 14 Jahren (und Schutzbefohlenen maximal bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres). Die Gerichte verhängen oft Freiheitsstrafen, ordnen zusätzlich Sicherungsverwahrung und es kommt auch zu sog. chemischer Kastration.

Kritik: Die Empirie über die Auswirkungen gewaltfreier Sexualität mit Kindern (Sandfort 1986, 1987, Sandfort et al. 1991, Rind et al. 1998, Ulrich 2005) kennt Ergebnisse der Forschung, die landläufigen Vorstellungen über die Schäden, die den Kindern dadurch zugefügt werden, nahezu diametral entgegengesetzt sind. Kaum irgendwo sonst ist ein solcher Zusammenprall zweier Welten zu beobachten.

Auf einem Parteitag der Grünen in Lüdenscheid wurde am 10.3.1985 mit 73 zu 53 Stimmen bei 7 Enthaltungen das Arbeitspapier "Sexualität und Herrschaft" in das Programm der Partei für die nordrhein-westfälische Landtagswahl aufgenommen. Die Kernthese des Papiers lautet: Jede Form von „gewaltfreiem“ Sexualverkehr - auch jener zwischen Kinder und Erwachsenen - müsse straffrei bleiben. Als umstritten kennzeichneten die Delegierten die Forderung nach ersatzloser Streichung der Schutzaltersgrenze. Argumentiert wurde damit, dass Kindesmisshandlung und sexuelle Gewalt in der Gesellschaf oft nicht angemessen sanktioniert würden, während andererseits Pädophile, die "die sexuellen Wünsche von Kindern und Jugendlichen ernst nehmen und liebevolle Beziehungen zu ihnen unterhalten, mit Gefängnis bis zu zehn Jahren bestraft" würden. 1988 setzte sich Volker Beck in dem Sammelband „Der pädosexuelle Komplex“ für die teilweise Entkriminalisierung von gewaltfreiem Sex mit Kindern ein, plädierte aber gegen die völlige Entkriminalisierung, die damals in der Schwulenszene verbreitet war. Beck ging damals davon aus, dass einvernehmlicher Sex mit Kindern eher harmlos sei.

Furedi 2013: "Seit den achtziger Jahren zielten fast alle Forschungen zu Kindesmissbrauch darauf ab, den Grad des erlittenen Schadens zu ermitteln. Andere Auswirkungen sowie die Frage, warum manche Kinder scheinbar besser mit dem Schmerz umgehen können als andere, wurden daher kaum untersucht. Forscher und Psychologen, die die vorherrschende Meinung über Kindesmissbrauch in Frage stellten, wurden teilweise wie Angehörige der indischen Kaste der „Unberührbaren“ behandelt. Dies geschah auch 1999, als das US-Repräsentantenhaus eine Resolution verabschiedete, die eine Untersuchung in einer Fachzeitschrift teilweise verurteilte, in der die Langzeitschäden durch Kindesmissbrauch in Frage gestellt wurden. - Gegenstand der Resolution war ein Artikel von Bruce Rind, Philip Tromovitch und Robert Bauserman. Die drei Psychologen hinterfragten einige Behauptungen über sexuellen Kindesmissbrauch, besonders die, dass die Menschen psychologisch fürs Leben gezeichnet wären. Zur Strafe wurden sie von der amerikanischen Christlichen Koalition und von republikanischen Moralaposteln attackiert. Die American Psychological Association (APA), deren Zeitschrift den Artikel von Rind, Tromovitch und Bauserman veröffentlichte, kam ebenfalls unter Beschuss. Unter diesem massiven Druck ging die APA in die Defensive und kündigte an, dass in Zukunft alle Beiträge zu sensiblen Themen sorgsamer auf „Beeinträchtigung öffentlicher Interessen“ geprüft werden sollten. - Die üble Kampagne gegen die Studie beanstandete vor allem, dass die Akademiker den Konsens in Frage stellten, Kindesmissbrauch führe direkt zu psychologischen Langzeitstörungen. Sie folgerten, dass Missbrauch sich ganz unterschiedlich auf das Leben der Menschen auswirkt und „wesentlich mehr Frauen als Männer unter diesen Erlebnissen leiden“. Laut Sozialpsychologin Carol Tavris lässt die Studie ermessen, welche Faktoren manche Menschen widerstandsfähig macht, während andere ein Trauma erleiden. Sie schrieb „Wir müssen verstehen, was die meisten Leute unempfindlich macht und wie man denen helfen kann, die es nicht sind.“ - Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass viele Gemeinplätze über die Auswirkungen von Missbrauch eher durch moralischen Abscheu als durch nüchterne Forschung zustande kommen. Natürlich ist es völlig legitim, ein Verhalten moralisch zu verurteilen, das in der Gesellschaft als böse gilt. Aber moralische Verurteilung sollte weder mit einer medizinischen Diagnose verwechselt werden, noch ist es eine Alternative zu Untersuchungen und dem Erkenntnisgewinn über die Sache an sich."

Antikritik: Ab 1993 distanzierte sich Beck von dieser Position und bezeichnet sie heute als „abwegigen Stuss“ und „großen Fehler“. Auch Daniel Cohn-Bendit distanzierte sich mittlerweile von seinen früheren diesbezüglichen Äußerungen. Wenn sich die Protagonisten der Entkriminalisierung öffentlich und vehement gegen ihre eigenen Ansichten wenden, ist die Sache der Entkriminalisierung in diesem Bereich unter politisch-praktischen Gesichtspunkten auf absehbare Zeit verloren. Auch wenn das Verhalten der Sache nach unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten vielleiht tatsächlich nicht strafwürdig und nicht strafbedürftig sein sollte.

Exhibitionismus (§ 183 StGB)

Deutschland muss den Strafparagraph Exhibitionismus (http://dejure.org/gesetze/StGB/183.html § 183 StGB) abschaffen! Grundsätzlich Antragsdelikt, bis zu einem Jahr.

Abtreibung (§ 218 bis 219a StGB)

Die strafrechtliche Behandlung von Schwangerschafts abbrüchen ist das Strafrechtspolitikum schlechthin. Das zeigt der bereits weit in die Rech tsgeschichte zurückreichende Streit und die breite und heftige Diskussion über eine Neufass ung der §§ 218 ff. StGB seit den 1960er Jahren; auch wenn zu diesem Zeitpunkt eine gewisse Liberalisierung des zuvor strikt geltenden Abtreibungsverbots von vielen angestrebt wurde, blieb der Weg dahin offen. Selbst im AE der „Alternativ-Professoren“ favorisierte nur eine Mehrheit eine Fristenlösung, die Min- derheit dagegen eine Indikationslösung (zur Vorgeschichte BVerfGE 39, 1, 3). Zwar stufte schon das erste StrRG von 1969 die Abtreibung vom Verbrechen zum Vergehen herab, doch die 1974 mit dem 5. StrRG eingeführte Fristenlösung wurde 1975 für verfassungswidrig erklärt (BVerfGE 39, 1) und es wurde dann 1976 eine Indikationenlösung verabschiedet. Da in der DDR eine Fristenlösung galt, die in der Bevölkerung wohl weitgehend akzeptiert war und aufgrund relativ guter Bedingungen für Kinder auch nicht zu einer Erhöhung der Zahl der Schwangerschaftsabbrüche geführt hatte, sah der Einigungsvertrag zunächst eine Fortgeltung der geteilten Rechtslage vor. 1992 wurde erneut eine gesamtdeutsche Fristenlösung verabschiedet, die aber 1993 abermals für verfassungswidrig erklärt wurde (BVerfGE 88, 203). Beide Entscheidungen waren innerhalb des BVerfG umstritten; das zeigen die Sondervoten (BVerfGE 39, 1, 683ff.; 88, 203, 338 ff.). 1994 wurde dann die heute geltende Fassung der §§ 218 ff. StGB verabschiedet und die Nötigung zu einem Schwangerschaftsabbruch als besonders schwerer Fall in § 240 IV Nr. 2 StGB aufgenommen.

Der Hauptgrund für den Grundsatzstreit dürfte darin zu sehen sein, dass zwar der Schutz des ungeborenen Lebens als Rechtsgut unbestritten ist, anders als bei anderen Rechtsgütern aber sein Erhalt mit der Austragung der Schwangerschaft durch die Schwangere nicht nur ein Unterlassen eines Eingriffs erfordert (Nichtabtötung der Lebensfrucht), sondern darüber hinaus ein längerfristiges positives Tun (das weitere Austragen der Schwangerschaft und die Geburt) sowie zumindest im Regelfall danach die Pflicht zu Unterhalt und Erziehung des Kindes. Während sich normalerweise der von einer Strafnorm ausgehende Rechtsgüterschutz darin erschöpft, dass die (Handlungs-)Freiheit des Betroffenen nur insoweit eingeschränkt ist, als er die konkrete Verletzung des Rechtsguts (eines anderen) zu unterlassen hat, folgt aus einem strafbewehrten Abtreibungsverbot nicht nur diese Unterlassungspflicht, sondern eine Pflicht zu positivem Tun, die längerfristig die Handlungsfreiheit viel weitgehender einschränkt, als die bloße Pflicht eine konkrete Einzelhandlung nicht vorzunehmen.

Weiterhin trifft die Pflicht zur Austragung der Schwangerschaft und zur Geburt notwendig einseitig nur die Frau, die spätere Erziehung des Kindes trifft sie aufgrund der gesellschaftlichen Bedingungen in Deutschland im Regelfall stärker als den Mann; die Freiheit der Frau ist mithin in besonderem Maße und über längere Dauer erheblich eingeschränkt. Dazu kommen noch die mit einer Entscheidung für ein Kind einhergehenden finanziellen Belastungen, die durch staatliche Leistungen nur teilweise aufgefangen werden können, sowie insbesondere ein während der Kindererziehung entgangener Verdienst. Diese letzteren Einschränkungen ließen sich allerdings auch auf andere Weise als durch einen Schwangerschaftsabbruch abwenden, etwa durch Freigabe des Kindes zur Adoption oder durch das Elterngeld. Den unterschiedlichen Blickwinkel von einer typischerweise (wenn auch nicht konkret) unmittelbar betroffenen Frau und einem Mann dokumentiert die Sondervoten zu BVerfGE 39, 1 (S. 68ff.), in dem die Richterin Rupp-v. Brünneck betont, „die Weigerung der Schwangeren, die Menschwerdung ihrer Leibesfrucht in ihrem Körper zu zulassen, [ist] nicht allein nach dem natürlichen Empfinden der Frau, sondern auch rechtlich etwas wesentlich anderes als die Vernichtung selbständig existenten Lebens“ (S. 80); dagegen neigt der Richter Simon „dazu, diesen weiteren Überlegungen zum Verhältnis der Schwangeren und ihrer Leibesfrucht rechtlich eine geringere Bedeutung beizumessen“ (S. 81).

Ein Politikum ist bereits die Stellung der §§ 218 ff. StGB innerhalb der Tötungsdelikte (der AE wollte den Straftaten gegen das werdende Leben einen eigenen Abschnitt zuweisen) sowie die Bezeichnung. Während § 218 bis 1974 die „Abtreibung“ bzw. die „Abtötung der Leibesfrucht“ und damit den abtötenden Eingriff in das werdende Leben pönalisierte, ist seit- her – aus Sicht der Schwangeren – die Rede von einem „Abbruch der Schwangerschaft“. (Martin Heger 2013).

Kritik an 218:

So schreibt die Linke im Themenpapier Schwangerschaftsabbruch (Zitat): Wir wollen die ersatzlose Streichung des §218. Wir wollen ebenso den §219 StGB abschaffen, in dem ein sogenanntes Werbeverbot festgeschrieben ist, bei dem es sich jedoch eigentlich um ein Informationsverbot handelt. Stattdessen wollen wir Angebote der freiwilligen Beratung ausbauen und Plankrankenhäuser dazu verpflichten, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, damit eine wohnortnahe Versorgung sichergestellt werden kann. ... Sahra Wagenknecht unterstützte seit 2014 das „Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung“ in Berlin.

Antikritik 218:

Fazit: Der zähe Kampf um die Reform des § 218 StGB zeigte gleich mehreres:

  • Das Strafgesetz soll idealiter nur den Bereich des allgemein konsentierten ethischen Minimums für ein gedeihliches gesellschaftliches Zusammenleben garantieren. Es soll sozusagen unbestrittene moralische Minimalstandards noch einmal auf der Ebene des formellen Gesetzes bekräftigen und verdoppeln. Tatsächlich aber dient Strafgesetzgebung oftmals dazu, die Wertvorstellungen eines Teils der Bevölkerung gegenüber den davon differierenden Wertvorstellungen anderer Bevölkerungsrteile zu privilegieren, indem man die ersteren strafbewehrt für alle Bürger verbindlich macht. Es wird den anderen Bevölkerungsgruppen sozusagen die Moral der einen oktroyiert.
  • Wo Strafgesetze benutzt werden, um in einer pluralistischen Gesellschaft die Wertvorstellungen einer Gruppe zu privilegieren und sie anderen unter Strafandrohung aufzuzwingen, da hat Kriminalisierung keine pazifizierende, sondern polarisierende und eskalierende, die Gesellschaft spaltende Funktion.
  • Die Rationalität von Diskussionen über die Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit einer Kriminalisierung ist begrenzt. Das hängt mit der mangelnden Trennschärfe der Kriterien, vor allem aber mit Problemen ihrer Operationalisierung, Messung und Gewichtung zusammen. Während Gegner der Kriminalisierung auf die hohe Dunkelziffer hinweisen und Eignung und Erforderlichkeit des Paragraphen bestreiten, ist für die Befürworter der Vorschrift das Gesetz gleichwohl besser als alles andere geeignet, den Wert des werdenden Lebens und die Pflicht des Staates und der Schwangeren und der Ärzte zu seinem Schutz herauszustellen. Expressive und instrumentelle Aspekte des Strafrechts lassen sich aber schwer gegeneinander aufrechnen. Das wiederum begünstigt die passive Funktion von Wissenschaft - ihre Instrumentalisierung - im rechtspolitischen Konfliktfall im Kontext größerer Kulturkämpfe oder culture wars.

Kritik 219a:

§ 219a StGB bedroht wegen Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft mit bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe, wer öffentlich seines Vermögensvorteils wegen seine oder anderer Dienste oder Informationen bezüglich einer Abtreibung anbietet, ankündigt oder bekanntgibt.

Kritik:

Antikritik 219a:

Pornographie: vgl. mit Kinderarbeit für Handys; distance principle Husak

Abolitionistische Perspektive: Verzicht auf Strafrecht und Strafe

Nietzsche, Vormbaum. Prügelstrafe verzichtbar. Abolitionismus vs. Aktionismus. Wenn Politik aber dahin tendiert, sich auszuweiten und sich dabei besonders gerne auch der Strafgesetzgebung zur Verfolgung ihrer (legitimen oder weniger legitimen) Zwecke zu bedienen, so sollte Strafrechtswissenschaft sich als Strafbegrenzungswissenschaft verstehen und "der tendenziell unbegrenzten Strafwilligkeit der Politik rechtliche Grenzen signalisieren. In der Sache bedeutet dies eine abolitionistische Perspektive, also eine Perspektive der Entkriminalisierung - wohlgemerkt eine Perspektive, d.h. weder ein geschlossenes System noch ein kurzfristig umzusetzendes Aktionsprogramm, sondern einen Fluchtpunkt kriminalpolitischen und strafrechtswissenschaftlichen Denkens und Argumentierens" (Vormbaum 1995: 41).

Natürlich finden aktionistische Justizminister immer genügend Juristen, die Strafrechtswissenschaft anders betreiben. Nämlich als Kriminalisierungs-, Strafverfolgungs- und Kriminalitätsbekämpfungswissenschaft. Fachlichkeit in der Strafjustiz und in der Strafrechtswissenschaft bedeutet jedoch aus gutem Grund immer auch eine Haltung der Kritik gegenüber dem Strafrecht als dem schärfsten Schwert des Staates. Ein restriktiver Kontrapunkt gegenüber einer ausgreifenden und übergriffigen Politik ist, wie wir schon von Thomas Vormbaum (1995: 42 f.) wissen, aus zumindest drei Gründen von höchster Wichtigkeit. Er erklärt wörtlich:

  1. Für die mit staatlichem Strafen verbundenen Bedrängnisse, Beschränkungen und Leiden eine allseits anerkannte Begründung zu finden, ist bislang noch nicht gelungen. Ganz im Gegenteil: Die gegen staatliches Strafen erhobenen Einwände werden vielfältiger.
  2. Es entspricht dem Menschenbild eines demokratischen Rechtsstaates , mit sozialethischen Vorwürfen verbundene Eingriffe in die Freiheitssphäre der Bürger so gering wie möglich zu halten.
  3. Eine expandierende Strafgesetzgebung belastet das Strafjustizsstem mit einem 'Input', den es - wie sich gezeigt hat - auf die Dauer nur bewältigen kann, indem es kommunikative Standards des Strafprozesses herabsetzt, schützende Formen aufweicht, die Gesetzesbindung der Strafverfolgungsorgane lockert und Beschuldigtenrechte verkürzt.

Mit anderen Worten: "Strafrechtswissenschaft sollte gegenüber staatlicher Dispositionsfreiheit über das Strafrecht einen Gegenpol bilden. Sie sollte den Kriminalisierungswünschen der Politik den Grundsatz 'in dubio contra delictum' als eine Ausprägung des Grundsatzes 'in dubio pro libertate' entgegenhalten" (Vormbaum, aaO).

Über den strafrechtlichen Abolitionismus kursieren ja manche kuriosen Vorstellungen. Dazu sei mit Vormbaum (1995: 43) nur folgendes gesagt: "Abolitionistische Perspektive setzt nicht die Annahme voraus, das gesamte System gesellschaftlichen bzw. staatlichen Strafens sei eine Veranstaltung, die auf bloßen Definitionsvorgängen beruhe, in denen an sich nichtssagende soziale Verhaltensweisen zu kriminellen hochdefiniert werden. Sicherlich gibt es schlecht begründete oder von durchsichtigen Interessen diktierte Kriminalisierungen. Jedoch: Unnatürliche Todesfälle, schwere Körperverletzungen, Gebäudezerstörungen, gewaltsame Entwendungen von Sachen - diese und manche andere Vorgänge werden die Gesellschaft allemal interessieren. Ist Kriminalität aber nicht bloß ein Definitionsresultat, dann kann man sie auch nicht insgesamt durch Streichung von Straftatbeständen einfach wegdefinieren. Vielmehr gehört zu einem Entkriminalisierungskonzept und damit zu den Anforderungen an eine Strafbegrenzungswissenschaft auch, dass Überlegungen angestellt werden, wie punitive Reaktionen durch andere ersetzt werden können. Um noch einmal Gustav Radbruch in Anspruch zu nehmen: Es muss darum gehen, Strafrecht durch etwas anders zu ersetzen, das besser ist als Strafrecht. Für mich steht dabei nicht (wie bei Radbruch) ein 'Besserungs- und Bewahrungsrecht' im Vordergrund, sondern es geht um Reaktionsformen, die weniger in die Autonomie von Bürgern und Bürgerinnen eingreifen als Strafen. (...) Strafnormen zu streichen bedeutet also nicht immer, freiheitsräume zu erweitern. Die Radbruchsche Forderung lässt isch demnach auch umkehren: Nur durch etwas Besseres sollte Strafrecht ersetzt werden.

Fazit

Entkriminalisierung hat immer dann eine Chance, wenn relevante Akteure in hinreichendem Maße:

  • Zweifel an Eignung, Erforderlichkeit und/oder Verhältnismäßigkeit der Kriminalisierung eines Verhaltens hegen
  • Vertrauen in alternative Kontrollen haben und
  • politische Gewinne - vor allem in der Form von Wählerstimmen - aus der Entkriminalisierung erwarten.

Die Entkriminalisierungen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre fanden vor dem Hintergrund eines gesamtgesellschaftlichen und keineswegs auf Deutschland beschränkten Wertwandels und Liberalisierungsschubes statt. Diese Tendenz wurde von einer Protagonisten - den sog. Alternativprofessoren - aufgegriffen, auf ihre Vorstellung von einem liberalisierten Strafrecht angewandt und Dank einer politischen Partei, die sich als Umsetzerin in die Welt der politischen Institutionen engagierte (und davon profitierte), auch in die real existierende Kriminalpolitik umgesetzt.

Kriterien aus der Verfassung. Das deutsche Verfassungsrecht kennt drei Kriterien der Verfassungsmäßigkeit von Strafgesetzen. Fällt ein Gesetz bei einem dieser drei Kriterien durch, ist es verfassungswidrig und eine Entkriminalisierung liegt in Reichweite.

  1. Ungeeignet ist ein Strafgesetz dann, wenn es den angestrebten Erfolg gar nicht erreichen kann. Das ist aus sozialwissenschaftlicher Sicht sicherlich beim strafrechtlichen Drogenverbot der Fall, harrt aber noch entsprechender Erkenntnisse des Verfassungsgerichts.
  2. Viele Strafgesetze sind - selbst wenn man ihre grundsätzliche Eignung zur Zielerreichung unterstellt - nicht erforderlich, weil es andere und weniger einschneidende Mittel gibt. Denn nach dem Ultima-Ratio-Prinzip darf das Strafrecht als schwerstes staatliches Eingriffsinstrument nur eingesetzt werden, wenn andere gesellschaftliche oder gesetzliche Regulierungsmöglichkeiten unzureichend sind, um wichtige Rechtsgüter zu schützen. Das Ultima-Ratio-Prinzip ist leider nicht explizit im Grundgesetz zu finden, gilt aber allgemein als Ausfluss des Prinzips der Verhältnismäßigkeit und beruht auf einer starken aufklärerisch-utilitaristisch-liberalen Basis. Man denke an Montesquieu und Beccaria ("Jede Strafe, die nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, ist tyrannisch"), an Artikel 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1789: „La loi ne doit établir que des peines strictement et évidemment nécessaires“, an Mittermaiers Diagnose aus dem Jahre 1819, dass es der "Grundfehler" unserer Zeit sei, „die Strafgesetze zu vervielfältigen und das kriminelle Gebiet zu weit auszudehnen“, und an Franz von Liszts Postulat, ein Verhalten dürfe nur unter Strafe gestellt werden, wenn und soweit dafür eine Notwendigkeit bestehe: „Wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können, darf - mangels Notwendigkeit - nicht bestraft werden“.
  3. Schließlich ist ein Strafgesetz verfassungswidrig, wenn es allzu tief und unverhältnismäßig in die Grundrechte eingreift.

Andererseits ist die Verfassungswidrigkeit eines Strafgesetzes noch kein absoluter Grund für die Entkriminalisierung: das Gesetz kann ja ausgebessert und muss nicht gleich ersatzlos gestrichen werden. Kriterien der Entkriminalisierung müssen also tiefer liegen, fundamentaler sein.

Kriterien aus der Idee des Rechts. Hier gerät man unweigerliche in die Gefilde der Rechtsphilosophie und damit schnell zu Gustav Radbruchs Idee des Rechts mit ihren drei Elementen der Gerechtigkeit, der Rechtssicherheit und der Zweckmäßigkeit. Wo Strafrecht nicht alle drei Kriterien der Idee des Rechts erfüllen kann, da hat es sein Recht verloren.

  1. Gerechtigkeit
  2. Rechtssicherheit
  3. Zweckmäßigkeit

Nach dem Grad der Zustimmungsfähigkeit (und damit der politischen Durchsetzbarkeit im Sinn einer "realistischen" Kriminalpolitik) lassen sich unterscheiden:

  1. Entrümpelung = Abschaffung von obsoleten und unzweckmäßigen Kriminalisierungen; insbesondere von solchen, die aus anerkannten kriminalpolitischen Gründen geradezu kontraindiziert sind. Besonderes Augenmerk verdienen die sog. Buchstabenparagraphen (wie z.B. § 353d Nr. 3 StGB - Verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen).
  2. Reformation - Abschaffung von Kriminalisierungen ohne Bezug zur freiheitssichernden Kernaufgabe des Strafrechts (Reduktion auf ein Kernstrafrecht, Verlagerung des Restes - soweit erforderlich - in nicht kriminalrechtliche Instrumente). Kritischer Durchsicht bedürfen auch die Tatbestände im Bereich der sog. organisierten Kriminalität, im Transplantationsgesetz und in anderen Bereichen des Nebenstrafrechts.
  3. Abolition - Abschaffung von Kriminalisierungen und Ersatz durch etwas Besseres (zivile Konfliktregelung im Schatten des Leviathan; Restorative Justice)

Kontinuität im Strafrecht bei politischer Diskontinuität. Nach 1945 geringe Entkriminalisierung durch die Alliierten. Der ganze Rest blieb zunächst unangetastet. Einschließlich § 175. Die Große Strafrechtsreform blieb Stückwerk. Eine Konstitutionalisierung des materiellen Strafrechts im Sinne einer kritischen Durchsicht des gesamten Bestands an Strafvorschriften im Haupt- und Nebenstrafrecht steht noch aus. Ultima Ratio Prinzip wird nicht ernstgenommen. Subsidiarität auch nicht. Kriminalisierungsinteressen sind ungebrochen und werden auch von der Politik eher bedient als kontrolliert. Nicht sozialethisches Minimum, sondern Waffe im sozialen Konflikt. Status-Politik. Es gibt viele Gründe für eine Beschränkung des Strafrechts auf das absolut Notwendige. Eine Kriminalpolitik, die sich klassisch rechtsstaatlich versteht, würde das Strafrecht auf seinen Kern beschränken. In manchen Fällen ist eine klare Legalisierung bisher strafbedrohten Verhaltens jeder anderen Lösung vorzuziehen. In anderen Fällen kommt eine transformierende Entkriminalisierung im Sinne einer Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit in Betracht. Eine abolitionistische Perspektive sollte als Korrektiv zum aktuellen Aktionismus die Idee eines Abbaus des Strafrechts und seiner Ersetzung durch etwas Besseres in die Tagespolitik tragen. Entkriminalisierung ist negative Kriminalpolitik. Es geht in erster Linie nicht darum, das Strafrecht zu verbessern, sondern zu verkleinern. Es geht in den Worten von Gustav Radbruch um einen Abbau des Strafrechts zugunsten von mehr Freiheit einerseits und mehr Schutz von Freiheitsräumen durch geeignete und verhältnismäßige Formen der sozialen Kontrolle.

  1. Zunächst ist in Angriff zu nehmen, was schon lange diskutiert, aber bislang liegen gelassen wurde. Dazu gehört die Abschaffung des § 219a StGB im Abtreibungsrecht, dazu gehört auch in einem ersten Schritt die transformierende Entkriminalisierung des Umgangs mit Cannabis und anderen Freizeitdrogen in der Konsumsphäre, also bei Erwerb und Besitz zum Eigengebrauch - mit einem wachen Blick auf die konsequentere Gesetzgebung in Uruguay und einigen Bundesstaaten der USA. Entkriminalisierung bedeutet Rückkehr zum Rechtsgüterschutz und das wiederum bedeutet Verzicht auf strafrechtlichen Schutz vor sich selbst. Nichts anderes aber versucht das heutige Betäubungsmittelrecht im Namen des politischen Ziels (das fälschlich als Rechtsgut ausgegeben wird) der Volksgesundheit. Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Jedenfalls geht es bei der Entkriminalisierung nicht um Zwangstherapie und auch nicht nur um die Zulassung medical marihuana, sondern um die Rückbesinnung auf das Selbstbestimmungsrecht erwachsener Bürger in Bezug auf ihr Entspannungs- und Freizeitverhalten, also um das Recht auf recreational use, bzw. adult use. - Die lanjährige Stagnation der Drogenpolitik in Deutschland hat den Vorteil, dass wir uns inzwischen nur umschauen müssen, um nachahmenswerte Modell der Entkriminallsierung zu finden. In einem ersten Schritt können wir uns mit Entkriminalisierung der Konsumsphäre bei weiterbestehender Prohibition befassen (soft prohibition). Also mit einer Art De-Radikalisierung der Prohibition à la Portugal oder Holland.
  1. Überall, wo das Vereins- und/oder Gewerberecht besser geeignet ist als das Strafrecht, hat das Strafrecht als ultima ratio zurückzutreten.
  2. Beachtung verdient das jüngste Zensurgesetz des Bundesjustizministers Maas, auch Netzwerkdurchsetzungsgesetz genannt. Im vergangenen Sommer mit symbolischer Bedeutung im Kampf gegen rechts aufgeladen und ohne nennenswerte Kritik durch die Legislative geschleust, bedroht es nicht nur Twitter, Facebook und andere mit saftigen Strafen, wenn sie "offensichtlich rechtswidrige Inhalte" nicht binnen 24 Stunden löschen, es bedroht vor allem die Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit, wie der erwartbare Skandal am ersten Tag nach seinem Inkrafttreten (um eine gelöschte Titanic-Satire) offenbarte. Historisch bewanderte Beobachter kann es das Fürchten lehren, wenn sie sehen, wie hemmungslos hier offenbar von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, anonym mit einem Mausklick Meinungsäußerungen zu denunzieren und damit kaum noch kontrollierbare zensurartige Lösch-Wellen auslösen, die unter Rechtsstaaten ihresgleichen suchen. Dass dabei ganze Bereiche kritischer Politik-Kommentierung im Netz in den Geruch der Illegitimität geraten, ist schlimm und sollte von niemadem, dem der Rechtsstaat etwas wert ist, auch nur billigend in Kauf genommen werden. Man denke hier etwa an die pauschale Verdächtigung von Kritikern der israelischen Besatzungspolitik als verkappte Antisemiten und die skandalösen Kündigungen von Bankkonten jüdischer Bürger, die sich für einen gerechten Frieden in Nahost einsetzen (Feest 2018).
  3. Eigentums- und Vermögensdelikte: Erster Schritt wäre die Rücknahme der Strafverschärfung von 2017 beim Tatbestand des Einbruchs in Privatwohnungen. Aus dem Verbrechen mit einer Mindeststrafe von einem Jahr ist wieder ein Vergehen zu machen; auch ist der eklatante Widerspruch zum bandenmäßigen Einbruchsdiebstahl (wo es weiterhin die minder schweren Fälle mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten gibt) durch Wiedereinführung des minder schweren Falles zu beseitigen. Zweiter Schritt wäre die Herabstufung der Massenbagatelldelinquenz in diesem Bereich zu Ordnungswidrigkeiten.
  4. Sexualdelikte. Bloß moralwidriges Handeln, das nicht auch sozialschädlich ist, ist nicht strafwürdig. Schon Gustav Radbruch hatte gefordert, bloße Moralverstöße aus dem Strafrecht zu eliminieren, also die Tatbestände des Ehebruchs, der Sodomie, der einfachen Homosexualität und der sogenannten Verlobtenkuppelei, und nach einem halben Jahrhundert hatte das dann auch funktioniert. Dann die Frage, ob das Gewicht der Handlung tatsächlich eine Reaktion mit einer Kriminalstrafe als unverzichtbar erscheinen lässt. Dass das heutige Sexualstrafrecht nach Radbruch'schen Kriterien kritisch durchzumustern ist insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt des Vorrangs des Verwaltungsrechts, steht außer Frage. Erneut auf die Tagesordnung gehört auch die freiheitliche und die Freiheit aller Beteiligten schützende Regulierung der Prostitution - vor allem auf dem Wege des Gewerberechts. Monika Frommel meint: "zurück zum alten Recht des § 177, nur § 177 Abs. 1 Nr. 3 etwas weiter fassen, damit die dusselige Rechtsprechung zu den Überrumpelungsfällen entfällt und diese Konstellation gut erfasst wird. Die Missbrauchsfälle (etwa von Jugendlichen) im Neuen Recht 2016 sind akzeptabel. - Die sog. Freierbestrafung muss weg."

In der Gegenwart (2018) nimmt die Attraktivität der liberalen Demokratie weltweit ab. Populistischer Autoritarismus hingegen zu. Im weltweiten Konflikt zwischen einem liberalen und einem autoritären Traum vom gesellschaftlichen Zusammenleben hat der Autoritarismus seine Nase nicht nur in Mittelamerika, in Zentral- und Südostasien, in weiten Teilen Afrikas und im gesamten Nahen Osten vorn, sondern auch in Europa. Auch wo populistische, respektive autoritäre Parteien nicht schon an der Macht sind, ist ihre jüngste Stärkung doch ein unmissverständliches Zeichen für die Tendenz der Zeit - den "democratic disconnect" (Foa & Mounk 2016). Wenn jetzt gerade die Jugend das Vertrauen in die Demokratie verliert und andere Systeme attraktiver zu finden beginnt, dann ist es ein schwacher Trost, dass autoritäre Gesellschaftssysteme in der Geschichte sowieso der Normalfall waren und sind - liberale Systeme mit direkter oder repräsentativer Demokratien einst wie jetzt hingegen die große Ausnahme.

Kriminalpolitische Prioritätenbildung:

  1. Kriminologisch. Erst kontraproduktive Kriminalisierungen zurücknehmen, dann die ineffektiven, dann die ineffizienten, dann die unverhältnismäßig eingreifenden, und schließlich die durch "etwas Besseres als das Strafrecht" ersetzbaren. Das ließe sich in einem Dreischritt unterbringen: erstens das Unzweckmäßige entrümpeln (Bereinigung), zweitens Zurückschneiden der Vielstraferei auf ein liberal-rechtsstaatliches Kernstrafrecht (Reformation), und drittens die Ersetzung des Strafrechts durch bessere Formen der Regulation sei es in Form autonomer gesellschaftlicher Konfliktregelung (im Schatten des Leviathan: Stichwort "regulierte Selbstregulation"), sei es auf dem Wege der Restorative Justice oder der Transformative Justice (Abolition). Was den Unterschied zwischen Kontraproduktivität, Ineffektivität und Ineffizienz angeht, so werden die Kategorien nicht immer scharf voneinander zu unterscheiden sein. Aber kontraproduktiv dürften vor allem diejenigen Strafnormen sein, bei denen die Strafdrohung nicht zur Eindämmung des Verhaltens geführt hat, sondern bei denen sich die Abweichung von der Norm zur Massendelinquenz entwickelt hat. In solchen Fällen, wo das Verhalten trotz einer dauerhaften Verstärkung der Sanktionsanstrengungen - wie im "War on Drugs" - den Charakter der Massenkriminalität angenommen hat, bleibt nur noch die Option, das massenhafte Handeln zu entkriminalisieren, will man die Norm nicht endgültig der Lächerlichkeit preisgeben. (Auch Albrecht spricht sich ausdrücklich für die Entkriminalisierung von Massendelikten aus, sofern diese vergleichsweise geringe Schäden erzeugen.)
  2. Sozialpolitisch. Erst die Strafgesetze aufheben, mit denen die Interessen privilegierter Gruppen geschützt werden sollen, und danach erst die Gesetze, mit denen bislang unterprivilegierte Gruppen ihren Anspruch auf Gleichheit ("black lives matter") zur Geltung bringen. Also nicht zuerst Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung entkriminalisieren, die vor allem dem Gleichberechtigungsstreben von Frauen Ausdruck verleihen - auch dann, wenn nichtstrafrechtliche Mittel prinzipiell gleich guten Schutz gewährleisten könnten.
  3. Pragmatisch. Erst die konsensfähigsten Themen bearbeiten, dann die weniger konsensfähigen, auch wenn die entsprechenden Strafgesetze unter strafrechtswissenschaftlichen und kriminologischen Fach-Gesichtspunkten vielleicht dramatischere Begründungsmängel aufweisen.
  4. Strafrechtstheoretisch. Erst diejenigen, die mit dem idealen liberalen Strafrecht - dem Kernstrafrecht - am wenigsten vereinbar sind.

Weblinks und Literatur

  • AE-GLD. Entwurf eines Gesetzes gegen Ladendiebstahl, bearbeitet von Arzt G. u.a. (1974) Tübingen: Mohr.

*Albach, Gregor (2015) Zur Verhältnismäßigkeit der Strafbarkeit privater Urheberrechtsverletzungen im Internet. Norderstedt: BoD. *Albrecht, Peter-Alexis (1996) Entkriminalisierung als Gebot des Rechtsstaats, in: KritV 330-339.

  • Albrecht, Peter-Alexis/Beckmann, Heinrich/Frommel, Monika/Goy, Alexandra/Grünwald, Gerald/Hannover, Heinrich/ Holtfort, Werner/Ostedorf, Heribert (1992): Strafrecht – ultima ratio, Empfehlungen der Niedersächsischen Kommission zur Reform des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft

*Albrecht, Peter-Alexis/Hassemer, Winfried/Voß, Michael (1992): Rechtsgüterschutz durch Entkriminalisierung, Vorschläge der Hessischen Kommission „Kriminalpolitik“ zur Reform des Strafrechts. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft

Siehe auch

Diskussionen um Kriminalisierung und Entkriminalisierung spiegeln nicht nur unterschiedliche juristische Auffassungen über die Aufgaben und Grenzen des Strafrechts, über Moralität und Rechtsgüterschutz und über Legitimität und Effektivität von Gesetzesverkündung und Implementierung wider. Sie markieren auch soziale Konfliktlinien und können als Indikatoren für ungelöste sozio-politische Themen gedeutet werden. Folgt man dieser Hypothese, dann sind es vor allem diese Bereiche, mit denen Gegenwartsgesellschaft ihre liebe Not hat:

  1. Mobilität und Konsum
  2. Leben, Fortpflanzung, Sterben
  3. Kommunikation
  4. Herrschaft

Dissens über Gerümpel. Die höchste Entkriminalisierungs-Evidenz müsste eigentlich mit dem Argument der Unzweckmäßigkeit und Ineffektivität verbunden sein. Da, wo sich das Instrument der Kriminalisierung als untaugliches Mittel zu einem an sich legitimen Zweck darstellt, müsste leicht Konsens über die Abschaffung entsprechender Gesetze herzustellen sein. Wer ein modernes und effizientes Strafrecht will, darf keine Angst vor der Entrümpelung haben. Solche Gesetze gehören auf den Sperrmüll.

Das geschulte Auge von Strafrechtswissenschaftlern und Kriminologen erkennt in manchen Gesetzen schon den Gerümpelcharakter zur Zeit ihrer Zusammengeschustertwerdens im Ministerium. Das war zum Beispiel bei der Gleichstellung sexueller Übergriffe "gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person" mit Vergewaltigungen im neuen § 177 StGB von 2016 (Frommel, Kreuzer, Hörnle: Rückfall in "Strafrechtsmoralismus und Prüderie" - Tatjana Hörnle) der Fall, einem Massendelikt, das voraussehbar manche Betroffene, aber auch viele nicht Betroffene zu Anzeigen verleiten wird. Kreuzer erwartet folgenlose Verfahrenseinstellungen; er fordert mit Monika Frommel: "Klare Fälle von Zwang und Gewalt gehören ins Strafrecht, Grenzfälle ins Zivilrecht, Beziehungsdelikte werden am besten von Familiengerichten geregelt." (Auch das Gewaltschutzgesetz böte hier bessere Ansätze), aber auch bei der Verschlimmbesserung des § 244 StGB aus dem Jahr 2017 durch die Aufwertung des Einbruchs in Privatwohnungen, bei dem es nicht einmal mehr eine Strafminderung für minder schwere Fälle geben soll, obwohl diese sogar für den schwereren Tatbestand des bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls existiert. Eine Entrümpelung durch Rücknahme der Neuerungen würde hier nicht zur Entkriminalisierung führen, wohl aber eine Abkehr von der jetzigen Überpönalisierung bedeuten. Sind die Unfallflucht und das Schwarzfahren Fälle für die Entrümpelung? In beiden Fällen wird immer wieder eine Entkriminalisierung gefordert - und in beiden Fällen könnte man vermuten, dass der Erfolg ausblieb, weil die Entkrim inalisierungsseite noch über allzu wenig Einfluss verfügt, obwohl sie die besseren Argument auf ihrer Seite hat. Doch sehen wir uns die Sache genauer an. Fazit: Der heutigen Tendenz zur Ausweitung des Strafrechts durch eine Flut von abstrakten Gefährdungs-, von Organisations- und Unternehmens-Tatbeständen im weiten Vorfeld von Rechtsgutsverletzungen treten die Vertreter eines liberalen Kernstrafrechts mit der Forderung nach einem Rückbau entgegen. Die Grundlagen eines Kernstrafrechts hatte 1974 schon Arthur Kaufmann skizziert. Und Wolfgang Naucke gab wenig später die Meßlatte vor (1981: 94), die an Strafgesetzgebung anzulegen sei. Danach muss zunächst einmal die Strafwürdigkeit und die Strafbedürftigkeit des Verhaltens nachgewiesen werden. Es sind nachvollziehbare Überlegungen über die voraussichtliche Effektivität und Effizienz des Strafgesetzes anzustellen und darzulegen. Schließlich ist die Strafgesetzgebung zu beschränken "auf jene Taten, die, weil sie die vitalen Güter des einzelnen Menschen, seine Freiheit überhaupt, verletzen, mit Sicherheit strafwürdig sind. Die Gesetze sind klar und deutlich gefasst. Die Strafbarkeitsvoraussetzungen und die Strafen sind für jedermann verständlich. Die Grenzen der Strafbarkeit sind unmissverständlich bestimmt." Alles andere gehört - wenn es überhaupt verbotswürdig und -bedürftig ist - in andere Rechtsgebiete und Sanktionsformen, die in der Regel ebenso effizient sein können (oder effizienter) und zudem ohne sozialethischen Tadel und Freiheitsstrafe auskommen.

Die Forderung nach einer Reduzierung des Strafrechts auf ein Kernstrafrecht entspricht der Grundidee des freiheitlichen Rechtsstaats, staatliche Eingriffe in die Sphäre der Bürger so gering wie möglich zu halten. Dementsprechend hatte schon Montesquieu gesagt: "Jede Strafe, die nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, ist tyrannisch." Mittermaier sah schon 1819 einen "Grundfehler" darin, „die Strafgesetze zu vervielfältigen und das kriminelle Gebiet zu weit auszudehnen.“ Ähnlich Franz von Liszt: „Wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können, darf - mangels Notwendigkeit - nicht bestraft werden“ (zit. nach Roos 1981: 7 f.). Und auch der ultima ratio Grundsatz gebietet bekanntlich, das Strafrecht als schwerstes Eingriffsinstrument nur dann einzusetzen, wenn andere Möglichkeiten ausgereizt sind.

  • Hohe Einstellungsquoten zeigen oft, dass Strafgesetze nicht bestimmt genug sind, vielfach auf nicht strafwürdige Bagatellen stoßen und deshalb von der Praxis notdürftig abgemildert werden. In solchen Fällen wäre es aus rechtsstaatlichen Gründen besser, eine materiellrechtliche Regelung zu finden, die den großen Graubereich entkriminalisiert und, wenn nötig, zur Ordnungswidrigkeit herabstuft.
  • Die Befürworter einer Entkriminalisierung betrachten die Angelegenheit unter dem Gesichtspunkt materieller, bzw. instrumenteller Zweckmäßigkeit und kommen zu einem negativen Saldo: mehr Schaden als Nutzen. Die Gegner interessieren sich aber gar nicht für die Kosten und auch nicht für die soziale Abwärtsspirale durch personale Kriminalisierungen - und sie haben einen für sie einleuchtenden Grund, nämlich den offenbar exorbitant hohen ideologischen Nutzen einer expressiven Bestätigung wichtiger Werte. Der Schaden, den sie von der Entkriminalisierungs-Botschaft befürchten, ist in Geld gar nicht zu bemessen, weil er in der Untergrabung des Wertefundaments der gesamten Gesellschaft besteht. Ist das empirisch zu überprüfen? Nein. Lassen sich die Befürchtungen hieb- und stichfest widerlegen? Nein. Es stehen sich also eine kühle Kosten-Nutzen-Rationalität der Modernisierer und eine konservative Furcht vor Werte-Verlust gegenüber. Für letztere ist der Saldo auch trotz erheblicher Kriminalisierungs-Kosten immer noch positiv.

Die Konfliktlinie scheint zwischen konservativer Symbolischer Gesetzgebung und moderner instrumenteller Rationalität zu verlaufen. Aber so sicher ist das auch nicht. Auch fortschrittliche Kräfte sind für symbolische Gesetzgebung aufgeschlossen, wenn es ihren sozialen Status unterstreicht/demonstriert/aufwertet (atypische Moralunternehmer). Immer noch wert, umgesetzt zu werden