Funktion der Strafe

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Die Frage nach der Funktion der Strafe sollte man nicht mit der ganz anders gelagerten Frage nach ihrer Aufgabe oder ihrem Zweck verwechseln. Hinter letztgenannten steht immer eine kollektive Intention, die dieses oder jenes von der Strafe erwartet - doch genau davon ist die Frage nach der Funktion ganz und gar unabhängig. Eine Funktion kann auch dann erfüllt werden, wenn weit und breit keine Absicht vorhanden und kein Zweck definiert ist. Wenn die Sonne scheint, dann tut sie das ohne Aufgabe und ohne Zweck. Dennoch erfüllt sie - von der Ermöglichung des Pflanzenwachstums vermittels Photosynthese bis zum globalen Tourismus - eine ganze Reihe von Funktionen. In ganz ähnlicher Weise kann auch die Strafe eine oder mehrere Funktionen erfüllen - ganz unabhängig davon, was diese oder jene Philosophen, Theologen, Juristen oder Pädagogen ihr an Aufgaben und Zwecken alles zugeschrieben haben, heute noch zuschreiben und morgen zuschreiben mögen.

In Bezug auf die Kriminalstrafe lautet die alles entscheidende Frage, ob Strafe sein muss - das heißt: ob sie eine unverzichtbare staatliche und/oder gesellschaftliche Funktion erfüllt, ob Staat und/oder Gesellschaft ohne sie nicht existieren könnten, ob es sich bei der Strafe also um ein "notwendiges Übel" handelt - und wenn ja, warum. Demgegenüber sind andere Fragen von deutlich nachrangigem Interesse, weil sie sich lediglich auf kleinere Subsysteme beziehen: so etwa die Frage nach der Funktion der Strafe für die Behandlung von Delinquenten (oder für die Behandler, die Bestrafer und/oder die Bestraften).

Zwei Grundfunktionen der Strafe

Die Funktion der Strafe liegt in der symbolischen Heilung von Normbrüchen. Dabei lassen sich zwei Arten unterschieden: die Heilung des Bruchs horizontaler sozialer Normen und die Heilung der Verletzung vertikaler Herrschaftsnormen.


Horizontale Normvalidierung

Bei der horizontalen Normvalidierung handelt es sich um die Bekräftigung des Geltungsanspruchs der Norm im Angesicht ihrer Verletzung. Wenn eine Norm durch den Akt ihrer Verletzung desavouiert wurde, besteht die Gefahr der Normerosion: in dem Maße, in dem sich der allgemeine Eindruck verfestigt, dass die Norm sanktionsfrei gebrochen werden kann, wird der Grad ihrer Geltung abnehmen. Die Strafe hingegen ist eine fühlbare Übelszufügung als Reaktion auf den Normbruch und damit eine Botschaft an die Allgemeinheit, dass ein Normbruch nur im Austausch für fühlbare Konsequenzen zu haben ist - dass die Gesellschft an dem Verbot, dieses oder jenes zu tun, eben festhält. Und dass der Bruch der Norm an dem Fortdauern ihres Geltungsanspruchs nichts geändert hat. Insofern dienen Strafen der kontrafaktischen Stabilisierung von Verhaltenserwartungen, bzw. Erwartungs-Erwartungen.

Dieser Sachverhalt ist in der Rechtsphilosophie wieder und wieder beschrieben worden, wobei sich die Begriffe änderten, der sachliche Kern der Aussagen aber immer gleich blieb. Am bekanntesten ist wohl die Formulierung Georg Wilhelm Friedrich Hegels von der Strafe als der Negation der Negation des Rechts. Inhaltlich identische Erläuterungen finden sich von Kant bis zur Systemtheorie Luhmanns und den aktuellen Strafrechtstheoretikern (wie Hassemer, Hoerster und Jakobs).


Vertikale Normvalidierung

Strafe heilt aber nicht nur die Verletzung einer sozialen Norm, sondern trägt auch der Tatsache Rechnung, dass soziale Normen, wenn sie in Gesetzesform gegossen wurden, zugleich auch immer die Autorität des Staates in die Waagschale werfen. Wer eine Straftat begeht, verletzt ja nicht nur das personale Opfer, sondern auch den Anspruch des Staates auf Gehorsam gegenüber seinem Normbefehl. Insofern ist die Strafe immer zweierlei: Heilung des Geltungsanspruchs der sozialen Norm und zugleich Heilung des Geltungsanspruchs der staatlichen Autoritäten. „Die Strafgerech- tigkeit". erklärte Friedrich Julius Stahl (1854. 169), „ist die Herstellung der Herrlichkeit des Staates durch die Vernichtung oder das Leiden dessen, der sich wider sie empört hat. Auch das ist eine Validierung einer desavouierten Norm: nur dass es sich nicht um die soziale Primärnorm handelt, sondern die dahinter stehende Garantie-Norm herrschaftlicher Art. Insofern ist die Strafe ein doppelter Widerspruch: zur Verletzung des Geltungsanspruchs der Norm und zum Herrschaftsanspruch des Normsetzers.


Funktionsweise der Normvalidierung

Strafe als Normvalidierung

Welcher Voraussetzungen es bedarf, um eine durch einen Normbruch desavouierte Norm wirksam zu validieren, sie also in ihrem Geltungsanspruch zu bekräftigen, ist kaum erforscht. Klar scheint allenfalls, dass es sich dabei um eine von einem Publikum wahrnehmbare Reaktion auf den Normbruch handeln muss: das Publikum muss sehen (können), dass sich die Verletzung des Verbots nicht lohnt. Das ist jedenfalls dann evident, wenn einem Übeltäter als Reaktion auf seine Tat ein Übel zugefügt wird, das ihn am Ende schlechter dastehen lässt als zuvor. Die radikalste Verschlechterung ist die Beendigung der physischen und moralischen Existenz: die Todesstrafe in Kombination mit dem Ausradieren der Erinnerung, dem Verbot des Totengedenkens und der Verweigerung einer Bestattung des Leichnams. Weniger dramatisch, aber immer noch wirkungsvoll, sind die vielfältigen Formen der Ächtung, also des gesellschaftlichen Ausschlusses von normalen Teilhaberechten - wie der Freiheitsentzug, das Berufsverbot und ähnliche Statusminderungen im Vergleich zu vorher. Die Funktion der Strafe ist also die durch eine Statusminderung des Täters bewirkte Wiedervergeltung eines Unrechts zwecks Wiederherstellung des Rechts. Der Verbrecher wird bestraft bedeutet also: dem Täter wird Leid angetan, und es muss ihm Leid zugefügt werden, damit das Recht, das er wiederum beleidigt hatte, trotz dieser Desavouierung seinen alten Geltungsanspruch beibehalten kann, als wäre nichts geschehen. Durch die Negation der Negation des Rechts ist alles wieder gut. Die Botschaft, die vom Rechtsbruch ausging - dass man nämlich das Gesetz nicht zu befolgen braucht - wird dadurch öffentlichkeitswirksam wieder einkassiert. Die Strafe sendet die Botschaft aus: wer glaubt, er könne sich über das Recht hinwegsetzen, der wird schon sehen, was er davon hat. Nämlich die Erfahrung, zwangsweise dem Rechtsbefehl unterworfen zu werden - und das ist für den, den es trifft, mit Sicherheit und übrigens auch absichtlich eine überaus leidvolle Erfahrung.

Normvalidierung ohne Strafe?

Gibt es auch Möglichkeiten der Normvalidierung ohne Strafe? Restorative Justice.


Strafe und Behandlung: ein Widerspruch

Die Rolle des Täters im Strafkontext ist diejenige eines Mediums symbolischer Kommunikation. An ihm soll gezeigt werden, was demjenigen widerfährt, der sich gegen das Recht aufgelehnt hat. Der Sinn der Strafe impliziert also, dass dem Täter wegen seiner Tat ein Übel, eine schmerzhate und leidvolle Erfahrung zugefügt werden muss. Der Mensch, der sich selbst zum Herrn über das Recht aufgeschwungen hatte, wird also gedemütigt. Er wird zum Instrument eines staatlichen Schauspiels - eines Lehrstück - gemacht: sehet, was passiert, wenn ihr euch auflehnt. Dann werdet ihr euer Tun büßen müssen. Ihr müsst leiden.

In der Grundstruktur der Strafe ist für das, was uns im Verlaufe dieser Tagung interessiert - nämlich die Behandlung von Rechtsbrechern - noch überhaupt nicht die Rede. Mehr noch: in der Grundstruktur von Verletzung und Heilung der Norm oder genauer: des Geltungsanspruchs der Norm - ist nicht nur keine Rede von den Straftätern als Klienten, die einer Behandlung bedürfen und die vielleicht sogar einen Anspruch auf wohlmeinende professionelle Zuwendung haben, sondern es ist auch systematisch gar kein Ort vorhanden, wo es Sinn machte, von der Behandlung der zu Bestrafenden zu sprechen.

Damit hätten wir schon eine erste These: die staatliche und gesellschaftliche Grundfunktion der Strafe hat keinen Platz für Behandlung. Behandlung ist der Bestrafung fremd.

Aufstieg und Fall des Behandlungsgedankens

Dennoch wird heute behandelt. Wie wir alle wissen. Und zwar innerhalb eines Rahmens, in dem den Menschen ganz absicht Schaden zugefügt werden soll. Behandlung im Strafkontext heißt eben: tut den Menschen Gutes innerhalb eines Bezugsrahmens, in dem es darum geht, ihnen Schlechtes widerfahren zu lassen. Und tut das mit aller Kraft, mit allem Wissen und allen professionellen Fähigkeiten, die ihr euch in eurer teuren Ausbildung angeeignet habt. Tut alles, um das Wohlbefinden und den Zustand derjenigen zu bessern, deren Zustand und Wohlbefinden wir gleichzeitig verschlechtern, indem wir sie für Jahre ihres Lebens aus der Freiheit herausreißen, aus ihren sozialen und emotionalen Bezügen, und sie in die Einsamkeit des Gefängnisses verfrachten. Gregory Bateson hätte womöglich diagnostiziert, dass hier nicht nur die Gefangenen, sondern auch die Behandler im Strafvollzug - wenn nicht sogar alle Bediensteten - einer Situation der Doppelbindung ausgesetzt werden. Und wenn das so wäre, dann wäre damit zu rechnen, dass alle, die in dieser Situation mitzumachen haben, einer schweren Dauerbelastung unterworfen wären - und mit entsprechenden Folgen zu rechnen hätten. Für das System würde sich das in der Form von Qualitäts- und Krankheitskosten ausdrücken.

Von der Blutgerichtsbarkeit zur Freiheitsstrafe

Nun wird man aus Angst vor psychischen und finanziellen Kosten nicht gleich zurück wollen in die Zeit, in der Bestrafung reine Bestrafung war und Behandlung absolut keine Rolle spielte. So eine Zeit hatte es über mehrere Jahrhunderte hinweg gegeben und selbst in Europa sind wir noch nicht allzu lange darüber hinweg - aber wir erinnern uns gut genug an die Vergangenheit, um dort nicht wieder hin zu wollen. Im Vergleich zum späten Mittelalter und zur sogenannten Blutgerichtsbarkeit der Neuzeit, bei der es darum ging, zu "straffen biss ann das blut“, bzw. „straffen, so an das blut gandt und das läben kostendt“, geht es heutzutage human zu. Während die damaligen peinlichen Strafen aus dem An- oder Abschneiden von Gliedmaßen und den vielen Variationen der Todesstrafe bestanden, so dass sich aus der Natur der Sache schon jedweder Gedanke an eine längerfristige psychologische Behandlung verbot, hat sich seit der Geburt des Gefängnisses am Anfang des 19. Jahrhunderts - also vor historisch sehr kurzer Zeit! - alles geändert. Erst mit der Erfindung des Freiheitsstrafe hatte man plötzlich die Ressource, deren es bedurfte, um auf den Gedanken zu kommen, die Strafe auch mit einer Wohltat für den Bestraften zu verbinden. Diese Ressource war die "leere Zeit des Verurteilten". Der Gefangene hatte Zeit. Diese Zeit verlangte danach, nützlich gefüllt zu werden: das konnte einerseits die produktive Arbeit sein, mit der sich im Idealfall die Kosten des Freiheitsentzugs wieder hereinholen ließen, und das konnte andererseits eine Verbesserung des Charakters des Gefangenen sein, mit der sich im Idealfall aus schädlichen und gefährlichen Menschen nützliche und rechtschaffene Bürger gemacht werden konnten, die man zum allgemeinen Nutzen auch wieder in die Gesellschaft zurücklassen konnte.

Das bot auch eine sanftere Variante der Spezialprävention als die Todesstrafe: gewiß - ein exekutierter Täter würde nie mehr strafrechtlich in Erscheinung treten, das war todsicher. Aber wenn es gelänge, den Täter psychisch umzukrempeln und ihm andere und bessere Werte und Normen einzupflanzen als diejenigen, die ihn auf die schiefe Bahn geführt hatten, dann wäre ja auch er "unschädlich" gemacht - nur eben viel humaner.

Seither haben wir ein System von Strafen, das Behandlung nicht aus-, sondern einschließt. Aus historischer Perspektive gibt es heute also nicht viel zu klagen und zu dem Thema Behandeln im Strafkontext nicht viel zu sagen. Außer vielleicht, dass wir froh sein können, dass wir - da die Strafe nun einmal sein muss - uns immerhin in einer Zeit befinden, in der man die Bestrafung mit einer psychologischen Zuwendung zu vereinbaren sucht, und in der man Vieles und Gutes tut, um sich auch um die Defizite und Leiden derjenigen zu kümmern, die man dann mit einiger Hoffnung auf Legalbewährung in einem für sie selbst und ihre Umwelt besseren Zustand freilässt.

Kosten des Fortschritts

Dieser historische Fortschritt war allerdings nicht kostenlos zu haben, und der Preis bestand und besteht heute noch in den Kosten, die sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen dem Resozialisierungsziel des Strafvollzugs einerseits und dem Erfordernis der Sicherheit des Vollzugs und der Allgemeinheit andererseits ergeben. Denn diese Kosten sind die Kosten des antagonistischen Verhältnisses zwischen Strafkontext und Behandlung.

Damit sind wir bei der zweiten These: der historische Fortschritt der Kombination der Strafe mit dem Behandlungsgedanken war und ist nicht kostenneutral zu haben; der Preis dafür besteht in einem immanent unauflösbaren Widerspruch zwischen Strafe und Behandlung, zwischen Sicherheits- und Therapieinteressen, und darin, dass das Personal, das in diesem widersprüchlichen sozialen Raum arbeitet, zusätzliche Energien für eine aufreibende Arbeit aufzuwenden und zusätzliche Belastungen zu verarbeiten hat.

Der soziale Ort des Burn-Out

Das Thema "Burn-Out" ist heute in aller Munde. Es ist ein Modewort wie auch die Krankheit in gewisser Weise eine Modekrankheit ist, weil der Burn-Out im Gegensatz zur Depression einen hohen sozialen Status und Respektabilität des Betroffenen wie auch seines Einsatzes signalsiert.

Das Thema "Burn-Out" ist aber mehr als das. Der Burn-Out hat das, was Siegfried Bernfeld einmal als einen "sozialen Ort" bezeichnete, also eine Heimat in den sozialen und institutionellen Verhältnissen, die ihn bei bestimmten Leuten in bestimmten Konfigurationen besonders leicht und besonders hartnäckig produzieren.

Behandler, die im Strafkontext tätig sind, sind an so einem Ort des angekündigten Burn-Out tätig. Sie haben in überdurchschnittlichem Maße mit Mehrbelastungen und Beschädigungen zu tun, weil der Ort, an dem sie tätig sind, im Kraftfeld sich widerstreitender Imperative liegt.

Für die Behandlung kann es angezeigt sein, dass die Strafgefangenen ihre Haft- und Wohngruppenräume liebevoll ausgestalten, dass sie Zier- und Nutzpflanzen und Haustiere halten, damit sie Pflege, Achtsamkeit, Fürsorglichkeit und Empathie trainieren. Es kann angezeigt sein, dass sie möglichst viele Freiheiten üben und Ausführungen und Ausgänge haben, dass sie eigene Radiosendungen machen dürfen und eine eigene Zeitung. Und es kann auch sein, dass der Strafkontext - meist in eheähnlicher Gemeinschaft mit den Sicherheitsbeauftragten - die Haustierhaltung untersagt, die Reduktion der Zimmerpflanzen auf drei Stück, die Beweglichkeit des Mobiliars auf das Bett (Schränke und Regale werden angeschraubt) und die Möglichkeit der Aufstellung von Bücherregalen in den Wohngruppen oder auf den Fluren auf Null reduziert. Bei jedem dieser Fälle fragt sich die Behandlungsperson: ist das wirklich nötig? Muss das denn sein? Wie viel Einschränkungen sollen wir denn noch hinnehmen? Immer mehr Bürokratie, immer mehr Rundverfügungen und immer weniger Zeit und Aufmerksamkeit für die Klienten. Wie weit kann das weitergehen?

Spätestens hier fällt der Behandlungsperson eine Besonderheit auf, nämlich die triadische Natur ihrer Beziehung. Es gibt nicht nur die Therapeut-Klient-Dyade, sondern es gibt da immer noch einen weiteren Pol von großer Wichtigkeit: den Sicherheitsbeauftragten, die Anstaltsleitung, die Gerichte, kurzum: den Staat. Der Staat ist als dritte Partei immer dabei.

Was heißt das für die Behandler im Strafkontext? Es heißt, dass sie sich täglich in einem Zwiespalt zwischen zwei Herren befinden, zwischen dem, was sie der Anstalt schulden und dem, was sie ihrem Behandlungsethos und dem schulden, was sie "eigentlich" im Interesse einer optimalen Resozialisierung tun wollen sollten, aber nicht immer können.

Die Frage, die daraus so gut wie täglich resultiert, lautet: wo soll ich, wo kann ich der Hierarchie im Namen der Behandlungsinteressen Folge leisten, wo kann ich es tun, ohne dass ich die Behandlungsinteressen opfere und wo muss ich eigentlich Widerspruch anmelden oder Widerstand leisten? Wo hat Widerstand überhaupt Aussicht auf Erfolg und wo hat es keinen Sinn, sich überhaupt zu wehren?

Auch dem nichtreligiösen Menschen fällt da das berühmte Gelassenheitsgebet ein, das da lautet: "Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, - gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, - und gib mir die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden."

Im Strafvollzug wird von den Behandlern genau diese Weisheit so gut wie täglich gefordert. Man weiß, man müßte eigentlich zahllose Details des Vollzugsalltags und sogar Strukturen der Anstalten ändern, und man weiß oder wird auch immer wieder darauf hingewiesen, dass das so einfach nicht geht, dass es Sicherheitsinteressen gibt, dass es einen Strafzusammenhang gibt, dass man mit seinen Behandlungsinteressen in einem Kontext operiert, der sich nicht nur am Wohl des Gefangenen orientiert. Es ist ein endloser Lernprozess zu erfahren, was in diesem Kontext eigentlich geändert werden müßte und auch könnte und was zwar geändert werden müßte, aber nicht zu ändern ist. Was nicht zu ändern ist, sollte man nicht zu ändern trachten: das wäre reine Zeit- und Energieverschwendung.

Es ist vielleicht Zeit, an den Einfluss der sozialen und materiellen Lebensbedingungen auf die Entwicklung der Behandlungsmethoden und -ergebnisse, aber auch auf die Entwicklung der Gesundheit der Behandelten und der Behandler im Strafkontext zu denken. In Anlehnung an Siegfried Bernfeld (1929) könnte man vom sozialen Ort des Burn-Out sprechen, als im Grunde genommen dem, was man im systemischen Denken den Kontext nennen würde, nämlich die zeitliche (historische), soziale (etwa gesellschaftliche, organisatorische oder interaktionelle) und sachliche (z.B. milieuspezifische) Prägung bzw. Einbettung des individuellen, in diesem Falle: therapeutischen, Verhaltens.

Das führt uns zur dritten These: Behandlung im Strafkontext findet immer in einem trilemmatischen Dreieck statt, das zur Schädigung eines der drei Beteiligten zu führen tendiert.

Die Triade Staat, Behandler, Klient wird immer dazu tendieren, sich aufzulösen und eine Dyade und einen ausgeschlossenen Dritten. Das heißt für die Behandler im Strafkontext, dass sie entweder eine Allianz mit dem Staat eingehen, der sie ja immerhin alimentiert, der sie eingestellt hat und ihnen ein gewisses Auskommen und vielleicht sogar Fortkommen ermöglicht, der ihnen ihren Status verschafft hat und dessen Strafanspruch gegenüber dem Klienten sie ja auch durch die Annahme ihrer Tätigkeit anerkannt haben. In dem Fall werden sie die Bedürfnisse des Klienten hintanstellen, werden sich in der Tendenz mit dem strafenden Staat identifizieren und sich auch als Bestrafer verhalten und tief innerlich vielleicht auch eine Bestrafungslust gegenüber dem Klienten entwickeln, die sich in der Abwertung oder behandlerischen Bevormundung oder Vernachlässigung des Klienten äußern kann.

Oder die Behandler gehen eine Allianz mit den Klienten gegen den Staat, gegen die Anstaltsleitung und gegen die Sicherheitsbeauftragten ein. Im Extremfall riskiert die Behandlungsperson einen Kampf gegen übermächtige Instanzen, riskiert Disziplinarverfahren oder verbündet sich mit Klienten bis hin zur Fluchthilfe und/oder gemeinsamen Flucht aus dem Anstaltsmilieu.

Oder aber die Behandler halten die Spannnungen auf Dauer aus. Das ist wohl der statistische Normalfall. Das heißt aber nicht, dass nichts passiert. Das ist eine Dauerbelastung, die bei Behandlern mehr als bei anderen Psychologinnen und Psychologen zu Stress und den entsprechenden Folgenproblemen führt: zu Aggressionen nach außen oder nach innen, zu Magen-, Rücken-, Kopf- und Schulterschmerzen, zu larvierten Depressionen, Alkoholkonsum, familiären Problemen und so weiter und so fort - letzte Ausfahrt: Burn-Out.

Heilung als Normvalidierung

Für jeden einzelnen ist das Beste, was er oder sie tun kann, das Aushalten der Widersprüche, das Zähne-Zusammenbeißen und das Weitermachen wie bisher. Denn wem Gott die Weisheit gegeben hat, das Veränderbare von dem Hinzunehmenden zu unterscheiden, dem wird er auch klar gemacht haben, dass er oder sie als Einzelperson nichts an den Strukturen ändern kann.

Eine andere Frage ist die, wohin die Reise in historischer Perspektive wohl gehen mag: die Vergangenheit war gekennzeichnet durch die Strafe ohne Behandlung; die Gegenwart ist gekennzeichnet durch die Behandlung im Strafkontext; ist eine Zukunft denkbar, in der die Behandlung an die Stelle der Strafe treten und sie ganz und gar verdrängen wird? Oder wäre eine Befreiung der Behandlung aus der Triade möglich? Indem zum Beispiel die Rolle des strafenden Staates durch die des schlichtenden Staates oder eines nicht-staatlichen Dritten ohne Strafbedürfnisse ersetzt wird?

Das führt zurück zum Beginn: zur Funktion der Strafe. Wir hatten konstatiert, dass die Strafe dazu da ist, die durch die Straftat desavouierte Norm wieder in ihr Recht einzusetzen, indem man den Täter seine Tat büßen lässt. Sinn der Sache: der Täter muss für alle sichtbar dem Recht, über das er sich zum Herrn aufgeschwungen, das er für sich für unmaßgeblich erklärt hatte, unterworfen werden. Diese Unterwerfung erfolgt durch den Souverän, den Staat. Auch der Staat kämpft in der Strafjustiz um sein Ansehen. Er schützt das Recht vor jenen, die es (und damit ihn) für unbeachtlich erklärt haben, indem sie das Gesetz brachen.

Es ist schwer vorstellbar, wie auf die Funktion der Normerhaltung verzichtet werden sollte. Eine Gesellschaft, die ihre Normen nicht beschützt, wird als Gesellschaft nicht lange existieren können, sie würde in Anomie versinken. Denkbar sind jedoch Methoden, die Funktion der Normsicherung anders zu erfüllen als mittels der Bestrafung des Täters. Man könnte den Täter vielleicht ja auch ganz ohne Bestrafung durchaus mit einbeziehen in die Bekräftigung der Normgeltung. Hieraus ergibt sich als vierte These: Der historische Wandel lief bisher von der Strafe ohne Behandlung zur Strafe plus Behandlung. Er könnte zur Behandlung ohne Strafe weitergehen, wenn es gelänge, die Funktion, die die Strafe erfüllt - nämlich die desavouierte Norm zu heilen und ihren Geltungsanspruch wiederherzustellen - auch auf andere Weise zu erfüllen.

Nehmen wir das naheliegende Beispiel des Transports von Personen über den Atlantik. Das war für eine lange Zeit eine Funktion von Segelschiffen, dann von Dampfschiffen. Ein solches Dampfschiff ging heute vor 100 Jahren und drei Tagen in den Fluten des Nordatlantik, südöstlich von Neufundland, unter. Sein Name war Titanic. Es dauerte noch einige Jahrzehnte, bis die Funktion, die seinerzeit die Dampfschiffe erfüllten - eben der Transport von Personen über den Atlantik - von anderen Verkehrsmitteln erfüllt wurde und bis die Ozeandampfer in ihrer Funktion als Linienverkehrs-Schiffe ausgedient hatten. Heute wird der fahrplanmäßige Personenfernverkehr über den Atlantik nicht mehr von Schiffen erledigt, sondern von Flugzeugen. Auch da kommt es gelegentlich zu Verkehrsunfällen. Aber die sind dann anderer Art - und sie sind, was das wichtigste ist, sehr viel seltener.

Damit haben wir folgende Gleichung mit einer Unbekannten: Die Funktion der Strafe ist die postdeliktische Normbekräftigung. Und so wie die Funktion des transatlantischen Personenverkehrs früher durch Schiffe und heute durch Flugzeuge erfüllt wurde (und künftig vielleicht durch Raketen), so kann man sagen, dass die Funktion der postdeliktischen Normbekräftigung einst durch die Strafe ohne Behandlung, heute durch Strafe plus Behandlung (und künftig vielleicht durch Behandlung oder eine andere Validierung ohne Strafe) erfüllt wird.

Normvalidierend wirkt es ja auch, wenn der Täter um Entschuldigung bittet und wenn diese Bitte als ernsthaft und nachdrücklich wahrgenommen wird. Dies ist meist dann der Fall, wenn der Täter nicht nur verbal agiert, sondern auch über längere Zeit durch sein Verhalten zu erkennen gibt, dass er die Folgen seiner Tat bereut und bereit ist, sich nach Kräften für eine Wiedergutmachung einzusetzen. Solche Fälle, die Strafe überflüssig machen und trotzdem die Funktion der Strafe erfüllen können - sogenannte funktionale Äquivalente - gibt es heute schon durchaus. Es kommt darauf an, sie wahrzunehmen und sich für ihre Entwicklung (und für die Abschaffung der Strafe) einzusetzen. Was damit gemeint ist, ist Folgendes.

Exkurs über Moritz Liepmann

Vor rund 100 Jahren, am Freitag, den 6. September 1912, unweit von hier in Wien, nämlich im prächtigsten Saal der prunkvollen Hofbibliothek begab. Ein Mann namens Moritz Liepmann. Liepmann, seinerzeit Professor für Strafrecht, Strafprozess und internationales Recht in Kiel und nebenberuflich auch Dozent an der Marineakademie, äußerte sich vor den Teilnehmern des 31. deutschen Juristentages, der hier in Wien zusammengekommen war, zur Frage der Todesstrafe. Seine Wortmeldung erregte Aufsehen. Sie bestand aus einem flammenden Plädoyer für die Abschaffung der Todesstrafe: das sei machbar, das sei notwendig und das sei ein zivilisatorischer Fortschritt, meinte Liepmann - und alle Bedenken, dass die Kriminalität außer Kontrolle geraten könne, seien unbegründet.

Es kam zur Abstimmung. Zur allgemeinen Überraschung war es ein knappes Rennen. Am Ende verloren die Gegner der Todesstrafe mit 424 Stimmen zu 470. Die Mehrheit glaubte, die Gesellschaft sei noch nicht bereit dazu, man war besorgt um die Abschreckung, um die Vergeltung, um das Strafbedürfnis der Bevölkerung. So blieb sie denn bestehen. Bis zur Abschaffung der Todesstrafe im Jahre 1949, bzw. 1987 gab es noch Dutzende, Hunderte, einige Zehntausend Menschen, die dieser Sanktion - in manchen Zeiten so massenhaft angewandt, dass man zu Recht von einem wahren Justizmassaker sprechen muss - zum Opfer fielen. Niemand sage, dass man nicht die Wahl gehabt hätte zwischen Zivilisation und Barbarei.

Warum erzähle ich das? Die Todesstrafe ist doch längst Geschichte - jedenfalls in unseren Breiten. Doch es gibt mehrere Gründe, die Rede von Moritz Liepmann nicht zu vergessen. Der erste Grund ist die Dankbarkeit: wir sind wohl alle dankbar dafür, in einer Gesellschaft leben zu dürfen, in der es die Todesstrafe nicht gibt. Nicht mehr gibt. In der sie also abgeschafft worden ist: im einen Teil des Landes 1949, im anderen 1987. Aber immerhin. Abgeschafft ist abgeschafft. In Dankbarkeit und Genugtuung können wir heute auf ein Jahrhundert des Fortschritts zurückblicken. Noch 1912 war die Frage, ob man die Funktion der Todesstrafe - nämlich die Abschreckung und die Bekräftigung der verletzten Normen - auch anders und humaner erfüllen könnte, Gegenstand hitziger Debatten. Die Mehrheit der Juristen glaubte damals, man könne nicht auf die Todesstrafe verzichten. Die Funktion, die sie erfülle, könne nur durch sie und nicht auch anders erfüllt werden.

Lob der Selbstzufriedenheit

Man kann den Blick zurück für selbstzufriedenes Zurücklehnen im Lehnstuhl nutzen. Denn auch wenn natürlich nie alle ganz zufrieden sind, wenn es nicht genügend Personal und für das Personal nicht genügend Wertschätzung, nicht genügend Gehalt und nicht genügend Supervision und Weiterbildungsanreize gibt, wenn es immer wieder Konflikte zwischen Behandlungs- und Sicherheitserfordernissen gibt, so ist doch im allgemeinen Bewußtsein im Grunde genommen an den heutigen Verhältnissen, so wie sie nun einmal sind, nicht allzu viel auszusetzen. Alles hat seinen Platz und seine Funktion. Dabei gibt es immer einige Reibungen und Konflikte, aber das muss eben auch sein. Und so gesehen lässt sich eine bessere Welt, die prinzipiell anders organisiert wäre, gar nicht vorstellen. Eine Gesellschaft ohne Strafe ist eine schöne, aber in der Realität eine gefährliche Utopie, auf die sich niemand gerne einließe, wenn sie denn vor der Tür stünde, und wenn schon gestraft werden muss, dann soll es so human, so gerecht, so menschlich und so gesellschaftlich nützlich sein wie nur eben möglich. Und das und nichts anderes ist doch, was wir heute haben.

Der Konsens über die Notwendigkeit der Strafe ist heute erreicht und er ist so stark und umfassend, so wenig von Selbstzweifeln angekränkelt, dass es eine Wucht ist. Frühere Streitigkeiten über den Sinn oder Unsinn der Strafe sind heute beigelegt. Juristen hatten lange Zeit den Schulenstreit, der mit großer Erbitterung über die Zwecke, den Sinn und die Rechtfertigungsmöglichkeit der Strafe geführt wurde. Heute ist er beigelegt. Man hat sich geeinigt. Man lässt alle Gründe gelten und addiert sie einfach. Die Strafe muss sein. Aus Gründen der Vergeltung von geschehenem Unrecht ebenso wie aus Gründen der Abschreckung, der Besserung und der Stärkung des allgemeinen Rechtsvertrauens und Rechtsbewußtseins. Es wird ja nicht nur die Kriminalität bekämpft, sondern es wird auch jemand zur Rechenschaft gezogen, damit das Unrecht auf den Straßen und Plätzen der Städte nicht triumphieren kann, damit die Bürger sich sicher fühlen, aber damit sie auch lernen, dass es so etwas wie Fairness in der Strafe gibt, Menschen- und Grundrechte, das Recht auf ein faires Verfahren und eine Strafe, die für den Bestraften nicht das Ende der Existenz bedeutet. Mit anderen Worten: die Strafe erfüllt viele Funktionen und die meisten davon haben mehr mit Menschenrechten und menschlicher Würde zu tun als mit alttestamentarischem Vergeltungseifer. Auch wenn der nicht ganz verdrängt ist und wohl auch nicht ganz verdrängt werden kann.

In die früher hitzig geführten Diskussionen um die Funktion der Strafe ist damit eine gewisse Beruhigung, man kann auch sagen: eine merkliche Zufriedenheit und Abgeklärtheit eingekehrt. Man hat sich mit dem Gedanken abgefunden, dass die Strafe nichts von Natur aus Schönes, sondern ein Übel ist - aber eben ein notwendiges Übel, so wie das Bohren des Zahnarztes, wenn sich die Karies eingenistet hat. Oder wie der Schnitt des Chirurgen, wenn der Blinddarm raus muss. Es gibt Zufügungen von Schmerz und Leid, die nun einmal alternativlos sind. Und als so eine leider erforderliche und letztlich zu einem guten und notwendigen Zweck erfolgende Zufügung von Leid gilt heute auch und besonders in sogenannten Fachkreisen die Strafe. Die Redewendung vom notwendigen Übel scheint ihr auf den Leib geschneidert.

Den reifsten Ausdruck findet diese Haltung - die auch ein wenig die behagliche Selbstgerechtigkeit des Biedermeier-Ambientes atmet - in einem Buch, das die Aufgaben und die Funktion der Strafe aus der Sicht eines kritischen Rechtsphilosophen und ehemaligen Verfassungsrichters für ein breites Laienpublikum darstellt. Der Autor Winfried Hassemer schreibt in seinem Buch "Warum Strafe sein muss" (2009) ...

Diesen Gründen könnte man sogar noch mehr hinzufügen. Nicht nur die Säuberung der Innenstädte von allerlei gemeinlästigen und häufig delinquent werdenden dissozialen oder gar antisozialen Individuen, die Abschreckung der unteren Bevölkerungsschichten vor allen Verführungen illegalen Erwerbs durch Stehlen, Hehlen und Rauben, sondern sogar die inzwischen empirisch neurophysiologisch nachgewiesene Tatsache, dass es einen starken Trieb zum Strafen, ein wahres Strafbedürfnis im menschlichen Gehirn gibt. ... altruistisches Strafen ... Arbeiten über ihre Funktion gibt es zuhauf In jüngster Zeit: Altruistisches Strafen. Gut für die Gruppenkohäsion. Gut für die Evolution. Und eine Quelle des Vergnügens: Nuclus Caudatus. Bestrafen als positives Erlebnis. Es gibt so etwas wie "altruistisches Bestrafen" (Fehr 2004), d.h. das Verlangen, andere Menschen für ihre Normabweichungen zu bestrafen - und zwar auch dann, wenn man selbst dadurch weder einen materiellen noch einen Statusgewinn erzielen kann und sogar etwas dafür investieren muss, ohne etwas zurück zu bekommen. Die Psychologie handelt das Thema unter dem Begriff "starke Reziprozität" ab. Stark reziprok orientierte Individuen bestrafen und belohnen, selbst wenn das etwas kostet und keine individuellen Vorteile mit sich bringt. Sie tun es sozusagen "aus Prinzip" und ohne Erwartung einer Belohnung für sich selbst - außer, natürlich, der Tatsache, dass es sie befriedigt, sich so zu verhalten, wie sie es nun einmal für richtig halten. Stark reziprok orientierte Individuen betreiben mit anderen Worten scheinbar irrational einen gewissen Aufwand, um andere für die Verletzung sozialer Normen zu bestrafen oder für deren Einhaltung zu belohnen. -Das "altruistische Bestrafen" dieser Art (= Neigung zur Bestrafung von Personen, die soziale Normen verletzen, ohne dass man damit einen Vorteil für sich selbst verbindet) kann verwandt sein mit dem Konzept der strafenden Gesellschaft bzw. des Bestrafungsbedürfnisses (Strafbedürfnisses) der Gesellschaft. Die neuronale Basis altruistischen Bestrafens (DeQuervain, Fischbacher u.a.). Wenn eine Person A eine Person B, die eine Fairnessregel verletzt hat, nicht bestrafen kann, ist sie frustriert. Wenn die Person die Verletzung der Regel hingegen bestrafen kann, wird ein Belohungsareal im Gehirn, nämlich der Nucleus Caudate, aktiviert, der auch auf Geld, Bilder von Schönen und Geliebten, aber auch auf Kokain-Konsum, anspricht (je stärker die Caudate-Aktivierung, desto mehr bestraft ein Individuum). Die Bestrafung ist dann altruistisch im biologischen Sinne, aber nicht im psychologischen, da psychologisch ja eine Befriedigung vorliegt. --*Seltener schon über ihre Grenzen (Präventivwirkung des Nichtwissens, Popitz). Infragestellungen in Krisenzeiten. KdstV ... oder über ihre negativen Eigenschaften oder Folgen ... obwohl sie doch eigentlich nichts inhärent Gutes ist, sondern ein Malum (Augustinus: patitur) ... allenfalls ein notwendiges Übel ... . *Womit hat dieses Ungleichgewicht im Diskurs über die Strafe zu tun? Die Hauptakteure des Diskurses sind nicht unbefangen, sondern haben die Strafe theoretisch zu rechtfertigen, nicht objektiv zu evaluieren Davon hat sich der Strafrechtsdiskurs bis heute nicht freimachen können, obwohl im seit 1882 die Hausaufgabe gegeben worden ist, das zu ändern.

Lob des Kampfesmuts

Der Glaube an die Notwendigkeit und Unersetzlichkeit der Strafe als einer fundamentalen gesellschaftlichen Institution bleibt - wie jeder Glaube - nicht folgenlos. Wenn ich zum Beispiel als Behandler im Strafvollzug nicht an die Notwendigkeit der Strafe glaubte, dann würde ich vielleicht mehr unter den Restriktionen leiden, die sich für mich und für meine Klienten aus der Tatsache der Gefangenschaft und den Erfordernissen der Sicherheits ergeben. Ich würde vielleicht vieles für unzumutbar halten und im Interesse der Qualität meiner Arbeit gegen alle möglichen Missstände vorgehen. Und wenn ich vor lauter Konflikten krank würde ,dann würde ich mich mit Leidensgenossen zusammen schließen und etwas dagegen tun. Wenn ich hingegen glaube, dass die Strafe unabänderlich ist, dann wäre ich eher bereit, meine Krankheiten als individuellen Mangel anzusehen, sie auf meine mangelnde Belastbarkeit zu schieben oder auf die unglücklichen Konfigurationen im Einzelfall. ... Gelassenheitsgebet .... Man versucht alles zu ertragen, weil man es für unabänderlich hält. Häufig und generell auftretende Konflikte und Leiden werden als massenhaft individuelle Phänomene individuell verarbeitet.


Der dritte Grund liegt darin, dass wir heute vielleicht vor einer ähnlichen Situation wie damals Liepmann stehen. Die Mehrheit ist zufrieden mit dem Status Quo und hält ihn für unsinkbar. Eine Minderheit will vielleicht die Freiheitsstrafe abschaffen, hält es für möglich und wünschenswert. Und hat vielleicht Belege. So wie es damals Belege dafür gab, dass die Todesstrafe verzichtbar war. Die nur die meisten Leute nicht hören wollten. Es gab Länder wie Sachsen, die die Todesstrafe bereits abgeschafft hatten - und wo es zu keiner Häufung von Tötungsdelikten gekommen war. Es gab Staaten, die ohne Todesstrafe auskamen - und allem Anschein nach recht gut.

Wie ist es heute? Gibt es vielleicht Beispiele dafür, dass es auch ohne Freiheitsstrafe gehen könnte?

Als Funktion der Strafe werden neben der Vergeltung häufig auch die Abschreckung, der Schutz der Gesellschaft, die Prävention und die Resozialisierung genannt. Insbesondere zur besseren Erfüllung der letztgenannten Funktion werden erhebliche Mühen auch auf die Behandlung von Straftätern im Strafvollzug verwandt. So gesehen besteht zwischen Strafe und Behandlung gar kein wirklicher Gegensatz, sondern die Behandlung ist eine Komponente einer erfolgreich resozialisierenden Strafe. Ohne Behandlung würde die Strafe vielleicht erfolgreich vergelten, aber sie würde den mittelbaren Schutz der Gesellschaft, der in der Wiedereingliederung gebesserter Straftäter liegt, nicht oder jedenfalls nicht so gut leisten wie sie es dank der Behandlung heute tut.


Kriminologische Kritik

Vielleicht können und sollten wir froh sein über die Fortschritte, die seit 1912 erreicht und nicht zuletzt auch erkämpft wurden. Vielleicht hat das Gelassenheitsgebet ja gewirkt. Und diejenigen, die heute in gleichen Teilen mit Dankbarkeit und mit einer gewissen Selbstzufriedenheit auf den Status Quo von Strafe und Behandlung blicken, verdanken ihre "complacency" ihrer Weisheit, die Strafe als etwas zu erkennen, was man nicht ändern kann und wogegen es keinen Sinn hat anzustänkern. Vielleicht.

Vielleicht - und zu dieser Meinung tendiere ich übrigens - ist es aber auch eine kleine Portion Denkfaulheit, gepaart mit einem eines Pangloss oder Leibniz würdigen Glauben, dass die heute vorhandene schon die beste aller möglichen Welten sei, die zu dieser Zufriedenheit führt.

Vielleicht stehen wir heute im Jahre 2012 - wie zu Liepmanns Zeiten im Jahre 1912 - wieder vor einer Entscheidung. Der Entscheidung nämlich, ob wir die Freiheitsstrafe abschaffen könnten und abschaffen sollten. So wie damals die Frage war, ob man die Todesstrafe abschaffen könnte und sollte und wollte.

Für die Verzichtbarkeit der Freiheitsstrafe spricht aus kriminologischer Perspektive so einiges.

Erstens gibt es überzeugende Argumente dafür, dass die Freiheitsstrafe längst obsolet geworden ist. Sie ist ein Anachronismus des Anstaltsstaates, der übrig geblieben ist, aber täglich auf seine Abschaffung wartet. Im Anstaltsstaat regierte die Obrigkeit über Untertanen. Es gab die Irrenanstalt, die Krankenanstalt, die Bildungsanstalt, und sogar die Schwimmbäder waren Badeanstalten, in denen die Bademeister das badelustige Volk in der Manier von Unteroffizieren maßregelten. Überall - auf Schulhöfen wie in Badeanstalten - dominierten Verbotsschilder mit Ausrufezeichen und der barsche Ton der Zurechtweisung, von Befehl und Gehorsam. Die Menschen konnten damals aber auch nur in räumlicher Zusammenballung beherrscht werden. Ob in der Kaserne, in der Schule, in der Fabrik, im Gefängnis oder in der Irrenanstalt - überall herrschte das gleiche Prinzip der räumlichen Einschließung, der Simultaneität, der Numerierung, des Anwesenheitsappells, des Zählappells und der Eingangs- und Ausgangsrituale. In den Schulen ist heutzutage der starre Klassenverband aufgelöst, die psychiatrische Behandlung erfolgt heute im Stadtteil und zum allergrößten Teil ambulant; die Verweildauern sind sehr kurz geworden. Im Militär gibt es keine gesichtslosen kasernierten Massen mehr, sondern Teams von Experten und Spezialisten, aus Badeanstalten sind Wellness-Zentren von einer völlig entspannten Atmosphäre geworden. Nur die Gefängnisse sind noch so wie sie im Anstaltsstaat waren und wie man sie sich um 1840 herum als ideal vorgestellt hatte. Heute sind Einschließungsmilieus aber überholt. Heute kontrolliert man digital und kommunikativ, durch Überwachung, Rückmeldung, Korrekturen, sanfte Zurechtweisungen und vorsichtige Ansprachen.



Modernere Sanktionen machen die Freiheitsstrafe überflüssig

Heilungsorientierte Sanktionen machen die Strafe überflüssig

  • Vernunft und Zweckmäßigkeit, Notwendigkeit muss empirisch bewiesen werden.

Fachgerecht nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Geeignetheit, Erforderlichkeit, Verhältnismäßigkeit Vergleich mit anderen Reaktionen! Wenig Forschung! Wenig Forschung zu Folgen von Strafen. Liepmanns Dreistadiengesetz. Einsele.

Sherman: einer der wenigen. Der sagt es jedenfalls und forscht. Deterrence. es kommt also drauf an. Spricht gegen Generalisierung.

Ansätze

reintegrative shaming nach braithwaite // setting standards

  • Restorative Justice. Das ist eine echte empirische Herausforderung.

Transformativ Justice.

altruistisches Strafen, Strafbedürfnis, Ressentiment .... alles mal ein bisschen cooler sehen mit dem altruistischen strafen ... steinert, ermutigung, sich vom strafbedürfnis ... steinert funktionen der strafe

Friedrich Nietzsche

In der Genealogie der Moral erklärt Nietzsche, dass eine Gesellschaft denkbar sei, die auf die Strafe verzichte. [1] [2] Merle, Nietzsches Straftheorie Oldenbourg [3] „Es wäre ein Machtbewußtsein der Gesellschaft nicht undenkbar, ... den es für sich giebt, - ihren Schädiger straflos zu lassen. ...

[4] t – woraus es sich erklärt, daß der Krieg selbst (eingerechnet der kriegerische Opferkult) alle die Formen hergegeben hat, unter denen die Strafe in der Geschichte auftritt.

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Mit erstarkender Macht nimmt ein Gemeinwesen die Vergehungen des einzelnen nicht mehr so wichtig, weil sie ihm nicht mehr in gleichem Maße wie früher für das Bestehn des Ganzen als gefährlich und umstürzend gelten dürfen: der Übeltäter wird nicht mehr »friedlos gelegt« und ausgestoßen, der allgemeine Zorn darf sich nicht mehr wie früher dermaßen zügellos an ihm auslassen – vielmehr wird von nun an der Übeltäter gegen diesen Zorn, sonderlich den der unmittelbar Geschädigten, vorsichtig von seiten des Ganzen verteidigt und in Schutz genommen. Der Kompromiß mit dem Zorn der zunächst durch die Übeltat Betroffenen; ein Bemühen darum, den Fall zu lokalisieren und einer weiteren oder gar allgemeinen Beteiligung und Beunruhigung vorzubeugen; Versuche, Äquivalente zu finden und den ganzen Handel beizulegen (die compositio); vor allem der immer bestimmter auftretende Wille, jedes Vergehn als in irgendeinem Sinne abzahlbar zu nehmen, also, wenigstens bis zu einem gewissen Maße, den Verbrecher und seine Tat voneinander zu isolieren – das sind die Züge, die der ferneren Entwicklung des Strafrechts immer deutlicher aufgeprägt sind. Wächst die Macht und das Selbstbewußtsein eines Gemeinwesens, so mildert sich immer auch das Strafrecht; jede Schwächung und tiefere Gefährdung von jenem bringt dessen härtere Formen [814] wieder ans Licht. Der »Gläubiger« ist immer in dem Grade menschlicher geworden, als er reicher geworden ist; zuletzt ist es selbst das Maß seines Reichtums, wieviel Beeinträchtigung er aushalten kann, ohne daran zu leiden. Es wäre ein Machtbewußtsein der Gesellschaft nicht undenkbar, bei dem sie sich den vornehmsten Luxus gönnen dürfte, den es für sie gibt – ihren Schädiger straflos zu lassen. »Was gehen mich eigentlich meine Schmarotzer an?« dürfte sie dann sprechen. »Mögen sie leben und gedeihen: dazu bin ich noch stark genug!«... Die Gerechtigkeit, welche damit anhob »alles ist abzahlbar, alles muß abgezahlt werden«, endet damit, durch die Finger zu sehn und den Zahlungsunfähigen laufen zu lassen – sie endet wie jedes gute Ding auf Erden, sich selbst aufhebend. Diese Selbstaufhebung der Gerechtigkeit: man weiß, mit welch schönem Namen sie sich nennt – Gnade; sie bleibt, wie sich von selbst versteht, das Vorrecht des Mächtigsten, besser noch, sein Jenseits des Rechts. Quelle: Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 799-814. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20009255974 Lizenz: Gemeinfrei Kategorien: Weltanschauungsphilosophie Buchempfeh Zitat Nietzsche

Einwände

  • Der Trend geht nicht Richtung Abschaffung.

Ja, das stimmt. Aber unterscheiden zwischen Trend und Möglichkeit.

  • Allerdings gibt es das Problem der dangerous few.

Selbst in Utopien.

  • Einsperrung ohne Vorwurf: SV ...

Sonderopfer hat man heute erst entdeckt. Klägliche Phantasie der Politik und Gesellschaft. Vorschläge für die Reform der SV ....

  • Quarantäne ist auch Freiheitsentzug. Aber eben nicht als Strafe.

Gegenargument: na, kann auch verkappte Strafe sein. Dagegen kann man was machen: so schön wie Palmasola. Dann gehen die Leute quasi freiwillig dahin. Das eignet sich nicht als verkappte Strafe. Aber als Freiheitsentzug schon.

  • Was ist gewonnen, wenn wir die Strafe abschaffen, aber die Freiheitsentziehung aus Sicherheitsgründen nicht?

Na ja, das ist wie: man schafft die Todesstrafe ab, auch wenn es vorkommt, dass man einen zum Töten bereiten Täter in berechtigter Notwehr erschießen muss.

Das ist ein quantiativer gewaltiger Unterschied. 50-70.000 Menschen in Deutschland. Millionen in den USA.

  • Qualitativer Sprung.

Symbol für ein anderes Verständnis vom Rechtsbruch, vom Rechtsbrecher, von der Gesellschaft und der Solidarität.

  • Hulsman, Christie, limits to pain ... v t rotha ...
  • Schmidhäuser, geht nicht um Unkraut in Blumenbeet.

Liepmann: keiner ist verloren. Liepmann hat vor genau 100 Jahren für die Abschaffung der Todesstrafe gekämpft. Das hat noch eine Weile gedauert. Und dauert in der Welt noch an. Doch ohne ihn hätten die Stimmen bei der Verabschiedung des Artikels 102 nicht gereicht. Und die Strafe ist auch an der Reihe. Nicht nur die Gefängnisstrafe. Das kann noch dauern. Aber es wird noch länger dauern oder nie geschehen, wenn wir uns nicht darüber klar werden, dass die Strafe kein notwendiges Übel ist, sondern eine traurige Unvollkommenheit unserer Kultur, eine Schande, die nicht sein muss. Und die theoretisch durchdacht und praktisch überwunden gehört.

Und was ist mit der sozialen Evolution und dem Nucleus Caudatus? Na ja, vielleicht genügt ja "redress", Bekräftigung der Normgeltung auf subtilere Weise. Kein Blockwart, nicht jeder ist Hilfssherriff, besser so .... von der "Strafe als Missbilligung" zur "Missbilligung als/statt Strafe". Reintegrative Shaming. Transformative Justice. Zum Beispiel ....



Literatur

  • Bernfeld, Siegfried (1929/1974) Der soziale Ort und seine Bedeutung für Neurose, Verwahrlosung und Pädagogik, in: ders., Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse. Frankfurt, Berlin, Wien: Ullstein 1974: 209-224.

Weblinks