Feindstrafrecht und souveräne Polizei in Lateinamerika

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Im Vergleich zum üblichen Bürgerstrafrecht beschneidet das eher notstandsaffine Feindstrafrecht die Rechte der Person bis zu einem Punkt, an dem die Anerkennung des Individuums als "Person" selbst in Frage steht. Der Grund dafür liegt im Gedanken der Gefahrenabwehr: wo jemand sich unbelehrbar feindselig aufführt, muss er auch entsprechend behandelt werden können, will man nicht großen Schaden riskieren.

Das gewöhnliche Strafrecht - mit all seinen rechtlichen Garantien von der Unschuldsvermutung über das Recht auf ein faires Verfahren, eine Vernehmung ohne Gewaltanwendung, einen öffentlichen Prozess vor dem gesetzlich bestimmten Richter u.v.a.m. - erschwert die Bestrafung und Unschädlichmachung des Bürgers. Mit der Notwendigkeit einer schnellen und effizienten Bekämpfung gefährlicher Feinde sind die Prozeduren des üblichen Strafrechts und Strafprozesses nicht in Einklang zu bringen. Insofern führt der Effizientismus (Alejandro Aponte) zur Abwendung vom Bürger- und zur Hinwendung zum Feindstrafrecht.

In vielen lateinamerikanischen Staaten übt der Gedanke der Effizienzsteigerung eine enorme Anziehungskraft auf die Eliten aus. Das hat mit der sozialen Ungleichheit, der Tradition der Gewalt und der Unterstützung gewalttätiger Politikformen auch durch die Herrschaftsunterworfenen selbst zu tun (Caldeira 2002, 2003). Die Tragik der Gesamtgesellschaftlichen Verfassung beruht insofern auf der Tragik der subalternen Klassen im Sinne Antonio Gramscis.

Das Feindstrafrecht spielt in Lateinamerika in Theorie und Praxis eine große Rolle: wer in den Einflussbereich des Feindstrafrechts gerät, dessen Würde ist nicht mehr unantastbar. Gleichzeitig verliert aber auch das Strafrecht: es verliert an Dignität, an Geltungsanspruch und an Bedeutung. Das heißt: es rückt als Instrument staatlicher Sozialkontrolle vom Zentrum in den Hintergrund. Immer weniger Verdächtige kommen überhaut noch bis in die Hallen des Rechts. Sie werden stattdessen von der Polizei schon weit im Vorfeld des rechtlichen Zugriffs liquidiert. Aponte spricht hier von der Deinstitutionalisierung des Strafrechts. Eine praktisch unkontrollierte Polizei agiert als Richter vor dem Richter: der Polizist, der einen vermeintlichen Dealer oder sonstigen subcidadão (Jessé Souza 2000; Battibugli 2009), bzw. "Marginalen" an Ort und Stelle verhört und exekutiert, ist Ermittlungs-, Straf- und Hinrichtungsinstanz in Personalunion. Insofern steht das Feindstrafrecht nicht nur in einem Konkurrenzverhältnis zum Bürgerstrafrecht, sondern derselbe Effizientismus, der zur Verbreitung des Feindstrafrechts geführt hat, führt nunmehr zur Marginalisierung des Rechtsweges überhaupt und zur souveränen Polizei im Sinne Giorgio Agambens.

Die illegalen Handlungen der souveränen Polizei werden oft bei Nacht und Nebel und nach Möglichkeit ohne Zeugen ausgeführt, die gefährlich werden können. Immer wieder werden potentielle Zeugen deshalb auch liquidiert.

Akte polizeilichen Machtmissbrauchs werden aber aufgrund der technischen Entwicklung heute häufiger dokumentiert als früher. Der Hauptgrund dafür ist die Verbreitung von Mobiltelefonen mit Foto- und Filmfunktionen. Sie ermöglichen es, Polizei und Militär zu filmen, wenn sie außerhalb der rechtlichen Schranken agieren. Dass heutzutage mehr Fälle von Polizei-Brutalität auf Film aufgezeichnet werden denn jemals zuvor, dient dem Interesse aller Bürger. Tatsache ist allerdings auch, dass Regierungsstellen ihren Angestellten (Soldaten, Polizisten, Beamten) immer häufiger den Besitz und die Nutzung von Mobiltelefonen im Dienst oder in dienstlichen Arbeitsstätten (Militärlagern, Militärgefängnissen etc.) verbieten. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Weder große noch kleine Machthaber wollen beobachtet werden oder gar gefilmt werden. Sie wollen die Bürger überwachen, aber selbst um keinen Preis der Welt überwacht werden. Videos über Polizeibrutalität wurden zuerst in den USA bekannt (Rodney King, Oscar Grant), dürften aber mit der Verbreitung der Technologie auch in Lateinamerika immer häufiger auftauchen und die klandestin operierende souveräne Polizei immer häufiger sichtbar machen.


Zum Feindstrafrecht in LA

  • Ahrens/Nolte, Hg. (1999) Rechtsreformen und Demokratieentwicklung in Lateinamerika. Frankfurt a.M.
  • Aponte, Alejandro (2005) Derecho penal del enemigo o derecho penal del ciudadano. Bogotà: Temis.
  • Aponte, Alejandro (2004) Krieg und Feindstrafrecht. Überlegungen über das effiziente Feindstrafrecht anhand der Situation in Kolumbien, Baden-Baden: Nomos. Este texto, basado en la tesis doctoral de Aponte titulada Guerra y derecho penal de enemigo: reflexiones alrededor del eficientismo penal en el caso Colombiano, trata temas como el derecho penal de enemigo, formas de manifestación del derecho penal político de enemigo, constitución y derecho penal, entre otros y realiza un importante aporte al entendimiento de la justicia transicional en Colombia desde una teoría interdisciplinaria y sofisticada del derecho penal.
  • Aponte, Alejandro (2006) Krieg und Politik – Das politische Feindstrafrecht im Alltag, in: HRRS Ausgabe 8-9: 297-303. Auf den Seiten 301 f. geht der Autor auf die Tendenz des Feindstrafrechts zur völligen Deinstitutionalisierung ein: "Ist es besser, wenn es in einer so konfliktreichen Gesellschaft ein minimales Feindstrafrecht gibt, das auch noch von den Richtern in seine Grenzen verwiesen wird, oder ist es besser, wenn es überhaupt keine Strafgesetzgebung gibt? Auch diese Frage ist sehr beunruhigend. In einem Staat, in dem in den meisten Gebieten das Paradigma der Selbstverteidigung gilt, in denen der Normalbürger dem Schicksal ausgeliefert ist, das die bewaffneten und den Staat substituierenden Akteure ihm aufzwingen, und in dem eine parastaatliche Ordnungsform der Gewalt herrscht, ist es natürlich immer viel besser, ein autoritäres Strafrechtssystem zu besitzen als gar keines. Aber das kann nicht darüber hinwegtrösten, dass diese resignierende Haltung schlimme Auswirkungen hat. Ein konkretes Beispiel dafür: In einer abgelegenen Urwaldregion führen die Armee und die Polizei eine Befreiungsaktion für eine entführte Person durch. Es kommt zu einem Feuergefecht zwischen den Entführern und den staatlichen Einsatzkräften. Wenn es nun keine juristische Regelung, wenn auch minimaler Art, gibt, so kann es vorkommen und ist auch vorgekommen, dass die Entführer zum Beispiel einfach erschossen werden, sobald sie sich ergeben haben. Oder möglicherweise werden sie gefangen genommen und dann gefoltert. Wenn es aber eine Art der minimalen juristischen Regelung gibt, auch wenn sie autoritär ist, so können die Entführer den Behörden übergeben werden und dann ohne große Garantien als Feinde verurteilt werden, aber zumindest ist ihr Leben nicht in Gefahr. Das ist natürlich eine pervertierte Wahlmöglichkeit, aber dies ist heutzutage das wahre Dilemma des Feindstrafrechts. Wenn man sich nun eingehender mit diesem Dilemma beschäftigt, so findet man heraus, dass die erwähnte Wahlmöglichkeit in Wirklichkeit nur formaler Art ist. D. h. das zentrale Problem des Feindstrafrechts ist seine inhärente Gefahr, zu einer reinen de-facto-Antwort in der deinstitutionalisierten Ausübung der strafrechtlichen Reaktion zu verkommen. Wenn, wie Walter Benjamin behauptet, in der juristischen Ordnung eine rechtssetzende und eine rechtserhaltende Gewalt existiert, so dass es in jedem juristischen System eine Gewalt gibt, die notwendig ist, um dieses Recht zu erhalten, so kann diese Gewalt gleichzeitig zu einer Bedrohung der juristischen Ordnung werden. Die Macht, die nötig ist, um das Recht zu erhalten, wird zu ihrer eigenen Bedrohung, da diese Macht zu einer Macht ohne Grenzen werden kann. Diese grundlegende Tatsache, die es in jedem Strafrechtssystem egal welcher Art gibt, verschärft sich noch im Falle eines Feindstrafrechts. In diesem Fall muss Gewalt ausgeübt werden, um diese Art von Rechtsmodell aufrecht zu erhalten, und diese Gewalt ist im wesentlichen gegen die Rechte und Garantien gerichtet und kann daher in der Praxis unbegrenzt ausgeübt werden, so dass sie die Art von Recht ersetzen kann, die sie erst eingesetzt hatte. Daher wird das Feindstrafrecht in Wirklichkeit zu einem unbegrenzten Instrument der Machtausübung und kann sich über den guten oder schlechten Willen eines Polizisten, Staatsanwaltes oder Richters, seine Auswirkungen zu begrenzen, hinwegsetzen. Diese Wirklichkeit verschärft sich bei Konflikten, in denen das Feindstrafrecht zu einer Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln wird. In diesem Fall, und wir kommen hier auf den bereits erwähnten Fall zurück, überträgt sich die Eigenschaft des Nicht-Bürgers, des Feindes auf die Handlungsweise des Polizisten oder Soldaten, der dann auch einen sich ergebenden Entführer erschießen oder foltern kann, denn es handelt sich ja auf jeden Fall um eine Handlungsweise im Rahmen eines total deinstitutionalisierten Rechtssystems."
  • Duve, Thomas (2003) Die Feuerbach-Rezeption in Lateinamerika, in: Ralf Gröschner, Gerhard Haney (Hg.), Die Bedeutung Paul Johann Anselm Feuerbachs für die Gegenwart. IVR-Tagung Jena 15. und 16. März 2002. Stuttgart 2003 (=ARSP Beiheft, 87), S. 145-158.
  • Morquet, Geraldine Louisa (2009) Feindstrafrecht - Eine kritische Analyse. Berlin: Duncker & Humblot.

Polizei in LA

Polizei in Brasilien

Generell ist es um die Achtung der Menschenrechte in Brasilien nicht gut bestellt. Die Polizei erscheint wenig vertrauenswürdig. Immer wieder wird von bandenmäßiger Begehung von Banküberfällen usw. berichtet, bei denen einige oder alle der Bandenmitglieder selbst Polizisten waren (z.B. brasil. Zeitungsbericht über Polizisten als Bankräuber). Eine Google-Suche mit den Wörtern "policiais integram quadrilha" (Polizisten als Bandenmitglieder) ergibt 500 000 Treffer und u.a. ein YouTube-Video Policiais integram .... Weitere Nachricht: Cerqueira oferece R$ 5 mil pela captura do capitão sequestrador. Secretário de Segurança do Rio pede legislação mais rigorosa 1997.


Bücher und Aufsätze in verschiedenen Sprachen

  • Battibugli, Thaís (2009) A difícil adaptação da polícia paulista ao estado de direito (pós-1946 e pós-1985), online verfügbar unter: Dilemas 03: 39-63. Die Schülerin von Sérgio Adorno fasst ihre politikwissenschaftliche Dissertation zusammen. Auf der Grundlage der anglo-amerikanischen Polizeiliteratur (Reiner u.a.) beschreibt sie die "Polizeikultur" als entscheidend für die Widerständigkeit gegen den Rechtsstaat. Widersprüche: gesatztes Recht vs. praktiziertes Recht ("Berufsgeheimnis"); Bewaffnung und Zwang zu schnellen Entscheidungen; strenge hierarchische Kontrolle innerhalb der Polizei, geringe Kontrolle der Polizeihandlungen gegenüber den Armen; cidadãos und subcidadãos (Jessé Souza 2000).
  • Caldeira, Teresa Pires do Rio (2003) City of Walls. Crime, Segregation and Citizenship in São Paulo. Berkeley: University of California Press.
  • Caldeira, Teresa Pires do Rio (2002) The paradox of police violence in democratic Brazil, online verfügbar in: Ethnography 2002 3:235, analyses the sources and logic of popular support for a ‘violent police’, which coexists with a negative evaluation of the police and a high victimization of working-class people. It argues that the roots of this paradox are found in a long history of state disrespect for civil rights, in particular poor people’s rights, and in a deep disbelief in the fairness of the justice system. Reforms of the police and of the prison system have been slow and mostly unsuccessful. The most convincing indication of the failure of attempts by both the federal and the state governments is the shockingly high number of civilians who continue to be killed by the Brazilian police. This finds no equivalent in any other country of the Americas (Chevigny, 1995). In some years, the police have killed more than 1000 civilians just in the metropolitan region of São Paulo. In the last 20 years of democratic consolidation, the police of the state of São Paulo have killed at least 11,692 people. In other metropolitan regions the numbers are equally elevated. Most of these deaths are never accounted for and only rarely is a policeman punished for slaying a civilian.
  • Goertzel, Ted & Tulio Kahn (2009) The Great São Paulo Homicide Drop. Homicide Studies 13:398. The homicide rates in the city and state of São Paulo were cut in half in the years from 2001 to 2007. The decline in the city of São Paulo was especially striking and parallels the decline in New York City in the 1990s. It can be confirmed with a number of independent data sources and was significantly larger than in other Brazilian cities. The decline may be attributed to more effective policing methods including the better enforcement of strict gun-control legislation. It demonstrates that effective measures can be taken to reduce lethal crime in a developing country without waiting to solve underlying socioeconomic problems.
  • Huggins, Martha K. (2010) VIOLÊNCIA URBANA E PRIVATIZAÇÃO DO POLICIAMENTO NO BRASIL: uma mistura invisível. CADERNO CRH, Salvador, v. 23, n. 60, p. 541-558, Set./Dez.
  • Kant de Lima, Roberto (1992) – Tradição Inquisitorial no Brasil, da Colônia à República: da devassa ao inquérito policial. religião e sociedade, vol 16, no 1-2, pp 94-113 (pdf in Stine: 8. Sitzung)
  • Rolim, Marcos (2009) A síndrome da rainha vermelha. Policiamento e seguranca pública no século XXI.
  • Rolnik, Raquel (1999) Territorial Exclusion and Violence: The Case of São Paulo, Brazil. Washington, D.C.: WOODROW WILSON INTERNATIONAL CENTER FOR SCHOLARS. One of the single most defining features of Brazilian cities today is their dual built environment: one landscape is produced by private entrepreneurs and contained within the framework of detailed urban legislation, and the other, three times larger, is self-produced by the poor and situated in a gray area between the legal and the illegal. In addition to being an expression of economic and social disparities, this contrast has profound implications for the form and function of the cities. The sprawl of what are here termed “precarious peripheries” has led to a great disconnection of poorly urbanized spaces from the city center where jobs and cultural and economic opportunities are concentrated. The effects of this persistent “territorial exclusion” are devastating and occur in both the peripheries and the city center. This paper explores the nexus between risky urbanization and the urban violence that seems to be the most recent and visible face of this model, using the concrete example of different cities in the state of São Paulo. It is important to understand how patterns of economic development and population trends have contributed to the generation of risky urbanization and how planning and urban management policies interact with it.
  • Soares, Luiz Eduardo; André Batista & Rodrigo Pimentel (2007) Elite da Tropa (englische Übersetzung: Elite Squad. New York: Weinstein Books 2008). Kurzfassung in: Elite da Tropa.

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