Diskursanalyse (Foucault)

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Der französische Philosoph, Psychologe, Historiker und Soziologe Michel Foucault [miˈʃɛl fuˈko] (* 15. Oktober 1926 in Poitiers; † 25. Juni 1984 in Paris) gilt als Begründer der Diskursanalyse. Gegenstand der Diskursanalyse sind Ensembles sinnstiftender Sprachhandlungen, die nach bestimmten Formationsregeln gebildet werden. Sie strukturieren den Sprachgebrauch formal, reglementieren ihn inhaltlich und definieren dadurch, was zu einer bestimmten Zeit gesagt und nicht-gesagt werden darf/kann. Diskursen wird somit eine Deutungs- und Definitionsmächtigkeit zugeschrieben. Ihre Analyse soll offenlegen, wie das Wissen einer Gesellschaft diskursiv generiert, die Wirklichkeit konstituiert und disziplinierende Machtverhältnisse etabliert werden.

Begriffsdefinition

Etymologisch leitet sich das Wort Diskurs vom lateinischen Discursus = das Durcheinander-, das Hin- und Herlaufende ab. Gemäß Duden handelt es sich bei einem Diskurs um eine „methodisch aufgebaute Abhandlung“, „lebhafte Erörterung“ sowie „tatsächlich realisierte, sprachliche Äußerung“ (Duden 2007). Hillmanns Wörterbuch der Soziologie verweist u. a. in Anlehnung auf J. Habermas auf eine ethische Ebene des Diskurses. Er wird als „Struktur vernünftiger Rede“ charakterisiert (Hillmann 2007). Diskurs kann zudem auch als eine symbolische Ordnung, die von Regeln geleitet ist und für bestimmte Zeitspannen gesellschaftliche Bedeutung beansprucht, verstanden werden. Diese Begriffsbestimmungen deuten bereits eine breite Interpretationsweise an und bieten Raum auch für sozialwissenschaftliche Auslegungen.

Foucaults Diskursbegriff

Der Mensch steht bei Foucault, wie ihn die Philosophen der Aufklärung positioniert haben, nicht im Mittelpunkt der Welt; er wird nicht als Ursprung aller Erkenntnis und Wahrheit entworfen. Foucault geht vielmehr davon aus, dass er von gesellschaftlichen Definitions- und Handlungszwängen, die u. a. in Diskursen deskriptiv und praktisch auf ihn einwirken, geformt bzw. konstituiert wird. Der Begriff Diskurs geht bei Foucault somit weit über eine sprachliche Abbildfunktion hinaus. Er verwendet ihn in einer konstruktivistischen Weise, setzt ihn in Beziehung zu Aussageformen und Praktiken, die die Wirklichkeit nach stabilisierenden Regeln und Ordnungen formen. In Archäologie des Wissens schreibt Foucault den Diskursen die Fähigkeit zu, einen Zusammenhang zwischen „[…] Institutionen, ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen, Verhaltensformen, Normsystemen, Klassifikationstypen und Charakterisierungsweisen herzustellen.“ Weiter heißt es, dass Diskurse als „[…] Praktiken zu behandeln [sind], die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.“ (Foucault 1997:68) Er verdeutlicht dies an dem Beispiel des Wahnsinns. In den Diskursen der Psychiatrie, in denen die diskursiven Praktiken der Wissenschaft zur Anwendung gelangen, wird definiert, wie über ihn gesprochen, wie er systematisch erfasst wird und was letztlich als Wahnsinn zu klassifizieren ist. Auf diese Weise entfalten die Diskurse einen normativen Gehalt, geben dem sozialen Phänomen „Wahnsinn“ eine Bedeutung und konstituieren seine gesellschaftliche Realität. Diskurse generieren demnach Wissen und Vorstellungen von der sozialen Wirklichkeit und etablieren auf der Grundlage ihrer immanenten Regelstrukturen ganz bestimmte gesellschaftliche Machtverhältnisse. Das Wissen, die Wahrnehmung und die Denkweisen einer Kultur werden durch die Diskursordnungen konstituiert. In diesem Sinn ist Diskurs ein „[…] sprachlich produzierter Sinnzusammenhang, der eine bestimmte Vorstellung forciert, die wiederum bestimmte Machtstrukturen und Interessen gleichzeitig zur Grundlage hat und erzeugt.“ (Foucault 2007:10f) Eine Analyse der Diskurse soll u. a. ihre unterdrückende, ausgrenzende, subjektverknappende Wirkung sowie ihre gesellschaftlichen Bedingungen sichtbar machen.

Diskursanalyse

Methodologie

Foucault buchstabiert in keinem seiner Werke präzise Handlungsanweisungen oder methodische Vorgehensweisen zur Analyse bestimmter Diskursformationen aus. Er beschreibt seine Arbeit wie folgt: „Es [ist] eine Aufgabe, die darin besteht, nicht – nicht mehr – die Diskurse als Gesamtheit von Zeichen [..], sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur Bezeichnungen der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muss man ans Licht bringen und beschreiben.“ (Foucault 1997:68) Foucault richtet dabei seinen Blick auf die jeweiligen Diskurse, die nach bestimmten Formationsregeln angeordnet und historisch bedingt sind. Diese Regeln beziehen sich auf die sozialen Zusammenhänge, in denen Diskurse entstehen, auf das Subjekt und seine gesellschaftliche Position sowie auf formale Prinzipien, nach denen Äußerungen und Begriffe geordnet, klassifiziert, kategorisiert, verallgemeinert usw. werden. "Was Foucault interessiert, ist die Tatsache der Existenz von Aussagen, warum ausgerechnet sie und keine anderen zu einer bestimmten Zeit an einer bestimmten Stelle auftreten." (Landwehr 2008:70) In seiner Spätphase beschreibt Foucault die Methode der Diskursanalyse abstrakt-metaphorisch: „Sie (die Analyse) bezeichnet gleichsam ein Objekt; sie versucht die Ebene zu bestimmen, auf die ich mich begeben muss, damit die Objekte sichtbar werden, mit denen ich schon lange umgegangen bin, ohne überhaupt zu wissen, dass es sie gibt, so dass ich sie auch nicht benennen könnte.“ (Foucault 2002b:191f)

Wirklichkeit und Disziplinierung

Diskurse bilden durch ihre Deutungsmacht, sie bestimmen innerhalb ihrer jeweiligen Disziplinen die Grenzen des Denk- und Sagbaren, interne Wahrheiten. Da sie jedoch nicht von allen Gesellschaftsmitgliedern gleichermaßen beeinflusst werden, sie unterliegen zumeist den Autoritäten der Disziplinen, muss ihnen eine bestimmte normative Wirkung auf die Individuen zugesprochen werden. Der Begriff des „Wahnsinns“, den Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft (Foucault 1973) expliziert, wird erst durch seine Klassifizierung und Definition im Diskurs der Psychiatrie zu einer Realität, erschafft sein Gegenstück, das „Normale“ erst durch seine eigene Existenz (Vgl. Foucault 2008: 520). Dieses Beispiel zeigt, dass der psychiatrische Diskurs die Unterscheidung vernünftig/wahnsinnig erst herstellt und die Individuen einer Gesellschaft mit diesen Begriffen kategorisieren kann. Erst in der Befolgung der diskursimmanenten Regeln, die die Konventionen über Zulässigkeit und Wertigkeit von Aussagen implizieren, kann sich die Wirklichkeit abbilden. Die Diskurse erhalten, bestätigen und entwickeln sich demzufolge zu einer Weise disziplinierender Kontrolle (Vgl. Landwehr 2008:73). Die Sinnhaftigkeit und Vernünftigkeit gesellschaftlicher Ordnungen, die durch Ausgrenzungs- und Differenzierungspraktiken in den Diskursen mittelbar konstituiert wird, stabilisiert die kulturelle Identität, die Herrschafts- und Machtverhältnisse. Bublitz schreibt in diesem Zusammenhang: „Diskursanalyse macht die impliziten sprachlichen und institutionellen Voraussetzungen zum Gegenstand, die aus Äußerungen einen Diskurs machen, nämlich eine komplex strukturierte, machtbasierte Matrix zur Generierung von Sprachhandlungen mit Wahrheitsanspruch. Macht ist demgemäß bereits in den diskurskonstituierenden Regeln verankert. In der Sichtbarmachung einer verdeckt operierenden Macht liegt der Schlüssel eines diskursanalytischen Verfahrens, das kritische Perspektiven auf die Oberflächenwirkungen der Macht eröffnet.“ (Bublitz 2003:10)

Wissen und Macht

Foucaults Diskursanalyse verweist auf die sprachlichen und institutionellen Voraussetzungen, unter denen aus Äußerungen Diskurse, also komplexe Wissens- Wahrheits- und Machtstrukturen entstehen. Dort wo Wissen etabliert wurde, sind immer auch ausgrenzende und klassifizierende Machtbeziehungen zu verorten. Sein Blick richtet sich auf die Organisation, auf die wechselseitige Bedingtheit von Wissen und Macht. In Überwachen und Strafen (Foucault 1977) rekonstruiert er den historischen Übergang von einem Strafrecht der Leibesmater zu einem humanistischen, aufgeklärten Strafrecht. Das im wissenschaftlichen Diskurs nach bestimmten Regeln generierte Wissen führte zu einer neuen Form der Bestrafung; der transformierte Gebrauch der Diskursregeln führte zu einem historischen Wandel; die Autoritäten der Disziplinen beanspruchten die Hoheit über die Diskurse und stellten somit veränderte Macht- und Herrschaftsverhältnisse her. „Man muß wohl einer Denktradition entsagen, die von der Vorstellung geleitet ist, daß es Wissen nur dort geben kann, wo Machtverhältnisse suspendiert sind, daß das Wissen sich nur außerhalb der Befehle, Anforderungen, Interessen der Macht entfalten kann. […] Eher ist wohl anzunehmen, daß die Macht Wissen hervorbringt […]; daß Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; daß es keine Machtbeziehung gibt, ohne daß sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert.“ (Foucault 1977:39f) Im Zuge dieser subtil verlaufenden Form der gesellschaftlichen Vermachtung, von der die Gesellschaft als Ganzes sowie jedes einzelne Subjekt durchdrungen ist, bewirkt ein regulatives System, das festlegt, was „[…] gedacht oder gesagt werden kann, was in einer Kultur oder Gesellschaft als denk- und sagbar erscheint.“ (Schöttler 1997:23) Auf der Ebene der Artikulation repräsentiert das Wissen unterdrückende Machtverhältnisse, die durch die Deutungs- und Definitionsmacht des Diskurses hervorgebracht werden. Diskursanalytisches Vorgehen setzt immer auch eine Analyse der Dispositive der Macht voraus, weil ihre Legitimation im Diskurs vermittelt und sie durch ihn strukturiert wird.

Sozialwissenschaft/Kriminologie

Die konstatierte Abhängigkeit von Subjekt und Diskurs, von sprachlich erzeugten Wissensordnungen und der Konstruktion der Wirklichkeit ermöglicht der Sozialwissenschaft u.a. Zugang zu einer definitionstheoretischen Analyse sozialer Kontrolle, Ungleichheit, Unterdrückung und Disziplinierung. Die Vertreter des Labeling Approach gehen davon aus, dass kriminelle Handlungen nicht per se existieren, sondern von den Trägern der sozialen Kontrolle erst als solche definiert, also begründet werden (Vgl. z.B. Sack 1969:431-476). Dieser Paradigmenwechsel führte in den wissenschaftlichen Diskursen auch zu einer sprachlichen Genese der Kriminalität. "Der eingetretene Perspektivenwechsel zeigt sich schon sprachlich: Kriminelle werden zu „Kriminalisierten“, „Asoziale“ zu „sozial Verachteten“, die Institutionen zu „Instanzen“ usw., womit die Leitidee der gesellschaftlichen Verursachung die Herrschaft selbst über die Sprache gewann und so erst wirklich kulturprägend wurde.“ (Göppinger 1997:9) Kriminalität als ein Teil der sozialen Wirklichkeit kann so nun verstanden werden als das Wirken definitionsmächtiger Diskurse, in denen Handlungen interpretativ negative Bedeutungen zugeschrieben und formelle/informelle Reaktionen erzeugt werden. Der Sinngehalt einer kriminologisch angelegten Diskursanalyse besteht darin, die Beziehung zwischen diskursiven Definitionsabläufen und sozialer Kontrolle, also auch zwischen Machtausübung und Disziplinierung im Kontext gesellschaftlicher Kriminalisierungsprozesse zu entfalten bzw. freizulegen. Neben diesem Definitionsansatz legt das diskursanalytische Verfahren zudem einen handlungstheoretischen Blick auf die Bedingungen, unter denen die Diskurse der Kriminalität geführt werden, auf die formalen Dispositionen, durch die sie strukturiert werden sowie auf das in Diskurse situierte Subjekt frei. Die Analyse kann dabei der Frage nachgehen, warum zu einer bestimmten Zeit, in einer bestimmten Form, bestimmte Arten von Kriminalitätsdiskursen auftauchen, warum sie mit Wahrheit aufgeladen sind und wie ihre gesellschaftliche Machtentfaltung zu begründen ist.

Literaturangabe

  • Bublitz, Hannelore: Diskurs. Transcript, Bielefeld 2003
  • Duden: Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim 2007
  • Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1997
  • Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2007
  • Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1977
  • Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1973
  • Foucault, Michel: Gespräch mit Michel Foucault. In Michel Foucault: Schriften in vier Bänden, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2002b
  • Göppinger, Hans: Kriminologie. 5. Aufl. München 1997
  • Hillmann, Karl-Heinz: Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart 2007
  • Keller, Reiner: Wissenssoziologische Diskursanalyse. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Springer 2011
  • Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse. Campus, Frankfurt a. M. 2008
  • Sack, Fritz: Neue Perspektiven in der Kriminologie. In: Ders.; René König (Hg.): Kriminalsoziologie. Frankfurt 1969
  • Schöttler, Peter: Wer hat Angst vor dem 'linguistic turn'?. In: Geschichte und Gesellschaft, 23/1997