Identität

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"In welchem Augenblick genau hat sich das Wirkliche in Unwirkliches, die Realität in Träumerei verwandelt? Wo war die Grenze? Wo ist die Grenze?" Milan Kundera, Die Identität

"Leben heißt ein anderer sein" Fernando Pessoa




Identität – zur Wortbedeutung

Das Wort „Identität“ konstruiert sich aus dem lateinischen „id“, in der Übersetzung: „dieses“, „es“, „dasjenige“ und „idem“ in der Übersetzung: „dasselbe“, „derselbe“, „dieselbe“. In der Sprachfunktion/Grammatik ist es ein Demonstrativpronomen (hinweisendes Fürwort), das deutend auf Menschen und Sachverhalte weißt. Im lateinischen ist der „Identitätszeuge“ der „cognitor“, der Wissende/Denkende, der erkennen kann, um was für eine Person oder Sachverhalt es sich im sozialen Zusammenhang handelt.

Identität entsteht durch Sprache und Kommunikation, also durch Interaktion. Es gibt eine selbstreflexive Bedeutung des Wortes „Identität“, mit sich selbst identisch sein, eine soziale Bedeutung, im Sinne von Zugehörigkeit zu Gruppen, Schichten und Klassen und es gibt eine mathematische / naturwissenschaftliche Bedeutung die eine Gleichheitsbeziehung definiert und in der Mathematik mit drei Strichen ≡ dargestellt wird.

Identität ist das unveränderbare, unverwechselbare Merkmal einer Person, das sowohl mit seinen Ausstattungsmerkmalen (Biometrische Daten) als auch mit seiner sozialen Verortung (Herkunftsschicht, Klasse, Sozialisation, Bildung) definiert ist und das in der sozialen Interaktion konstruiert wird.


Zur Geschichte des Begriffs

Der Begriff ist in der Geschichte der Moderne gebunden an die Entstehung des Individuums, des Bewusstseins vom Selbst (Selbstbewusstsein). Der von René Descartes (1596 – 1650) geprägte Ausspruch: „cogito ergo sum“ – ich denke also bin ich – wird als Beginn der Selbstreflexion des Individuums über sein unverwechselbares „Ich“ angesehen. Descartes erfindet zu einem späteren Zeitpunkt seiner Forschungen den Menschen als Biomaschine, reduziert ihn auf seine physiologisch mechanischen Funktionen, seine Mechanik. Die Schrift „traité de l´homme“ veröffentlicht er aus Furcht vor der Inquisition zu seinen Lebzeiten nicht. Foucault erkennt in Descartes Bild der „Maschine Mensch“, die erste philosophische Grundlage für die Herausbildung der Disziplinargesellschaft, der technokratischen und disziplinierenden Prozesse, die im 18. Jahrhundert eine neue Politik des Körpers und einer veränderten Ökonomie der Macht (Biopolitik und Biomacht) den Weg ebenen.

Die Individualisierung der Gesellschaft ist eine notwendige Folge der veränderten ökonomischen Produktion, die durch den Einsatz neuer Technologien und neuer gesellschaftlicher Organisationsformen (wie dem Wachsen der großen Städte) einhergehen. Dem singulären, einzelnen Menschen kommt im Zuge der Reformation und der Aufklärung eine wesentlich andere Bedeutung zu, als in den mittelalterlichen Gesellschaften. Das „Ich“ und seine (Selbst) Kontrolle gerät in den Mittelpunkt des Interesses von Herrschaft und gesellschaftlicher Normierung.

Im Zuge der Renaissance verändern sich die sozialen Strukturen. Die Aufhebung des mittelalterlichen Zinsverbotes ermöglicht den Aufstieg der frühen Bankhäuser der Fugger und Medici. Die Erfindung der Differenz von Stadt und Land, die Entwicklung der exakten Wissenschaften und die Vermessung der Welt und des Menschen, ermöglichen die Techniken zur Konstruktion unverwechselbarer „Identitäten“. Als Vorwegnahme einer Technologie zur exakten Abbildung, die in der Kriminologie ja von Bedeutung ist, sei hier auf die Entwicklung der „Zentralperspektive“ verwiesen.

Eine Erfindung des arabischen Mathematikers Abu Ali al-Hasan Ibn al-Haitham (965-1040) im Westen genannt Alhazen, revolutioniert den Blick und die Geschichte des Sehens. Das „Buch der Sehtheorie“ wurde unter dem Titel „Perspectiva“ um 1200 in Spanien übersetzt. Das Buch stellt eine erste Entwicklung der Optik und der Entstehung des Abbildes, durch Licht im Auge des Menschen dar. Alhazens Erfindung der Camera Oscura ist eine Vorwegnahme der exakten Wissenschaften, die notwendig sind, um die Identität zu erzeugen und zu bestimmen.'1'

Die Zentralperspektive ermöglicht die bildliche Wiedergabe dessen was das Auge wahrnimmt und entwirft somit ein Bild von der Wirklichkeit, das wiederum eine eigene Realität darstellt. Das Abbild von „etwas“ ermöglicht es, die Differenz darzustellen und führt unweigerlich zur Einzigartigkeit des abgebildeten Gegenstandes oder Menschen, ihm kommt ein unverwechselbares Eigenes zu, das den Menschen als Individuum definiert und ihm eine eigene Identität zukommen lässt. Der daraus entstanden Bilderstreit zwischen dem Orient und dem Westen, dem Christentum und dem Islam, hat in dem Roman von Orhan Pamuk "Rot ist mein Name", indem für die Perspektive gemordet wird, seinen kriminalistischen Wiederhall gefunden.

Die Veränderung der Ökonomie und die Einführung eines globalisierten Handels in Verbindung mit der Geldwirtschaft, erzeugen neue Eigentumsverhältnisse und mit ihnen die Möglichkeit, sich über diese zu definieren. Identitätskonstruktionen als Ausdruck von Konsummöglichkeiten und Produktionsverhältnissen prägen die Moderne: „Die individuelle Persönlichkeit (…) entwickelt sich nachgerade mit der Arbeitsteilung“ (Emile Durkheim, 1893: Über Soziale Arbeitsteilung, S. 473f.). Nach Pierre Bourdieu ist die Stellung und Platzierung des Individuums im sozialen Raum abhängig von seinem Kapital. Dabei unterscheidet Bourdieu in ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital („Bildungskapital“ = amtlich beglaubigte Form des kulturellen Kapitals) und sozialem Kapital. Letzteres entsteht durch soziale Beziehungen, durch den Aufbau von Beziehungsnetzen. Diese wiederum definieren das, was das Individuum an Anforderungen an eine „normale“ Identität erfährt. Durch sein Handeln versucht das Individuum seine soziale Identität zu stabilisieren. Diese tut es jedoch nicht von sich heraus, sondern durch die Position die es im sozialen Raum innehat, bzw. die ihm zugewiesen wurde. Eine determinierte soziale Identität ist in einer Klassengesellschaft unumgänglich. Das Streben des Individuums nach unverwechselbarer Identität ist nur durch Differenzierung zu erreichen. Diese öffnet der Ökonomisierung der sozialen Beziehungen Tür und Tor.


Identität und Kriminalität

Für die Relation von Identität und Kriminalität sind alle drei genannten Aspekte, persönliche Identität, soziale Identität und mathematisch/naturwissenschaftliche Identität von Bedeutung. Persönliche und soziale Identität für Motivation und Genese kriminellen Verhaltens und die Feststellung der Eindeutigkeit (Authentizität) der Identität für die Identifikation sogenannter Krimineller.


Identität und Identifikation, das „Archiv“.

Im 18. Jhd. wird die Identität zu einem Merkmal der Identifizierung. Als eines der ersten Identifizierungsinstrumente gilt die Bertillonage, ein von Alphonse Bertillon (1853 – 1914) entwickeltes anthropometrisches System zur Erkennung von Straftätern.

1880 wurde Bertillon Chef des Erkennungsamtes der Pariser Polzeipräfektur und führte dort sein anthropometrisches Verfahren zur Identifizierung von Straftätern ein. Bertillon gelang die erste Identifizierung eines rückfällig gewordenen Straftäters anhand seiner Körpermaße im Jahre 1883. Die Pariser Polizei konnte bis 1905 insgesamt 12.614 rückfällige Straftäter durch die Bertillonage identifizieren. Die Bertillonage beruht auf einem System von insgesamt 11 Körpermaßen und dem Zusammenhang, dass der menschliche Körper sich ab dem 20. Lebensjahr nur noch wenig verändert (was natürlich nicht auf das Alter zutrifft). Das System erwies sich als fehleranfällig und wurde daher bald durch den Fingerabdruck ersetzt.

Bertillon´s eigentliche Leistung betrifft die Schaffung eines sozialen und realen Raumes für die Aufbewahrung von Identitäten, das polizeiliche Archiv, die „Verbrecherkartei“. Im Zuge des Kolonialismus werden unüberschaubare Mengen von Bildmaterial der „Anderen“ erstellt. Auch die herrschenden Bürokratien der Überwachung und Kontrolle erkannten schnell das Potential der photographischen Aufzeichnung.

Um die Masse einzugrenzen und jedem „polizeidienstlich Behandelten“ einen überschaubaren Ort im Archiv zuzuweisen gab es zwei Strategien. Die eine ist verbunden mit dem Namen Bertillon, die andere mit dem Namen des Anthropologen und Eugenikers Francis Galton. Bertillon entwickelte Standards für die bis heute gültige polizeiliche Porträtfotografie und ein komplexes, mit Karteikarten operierendem Klassifikationssystem. Galton verdichtet mehrere Fotografien durch Überblendung zu einem Idealbild, mit dem der Typus des Verbrechers erkannt werden sollte. Galton sucht das „Typische“, Bertillon hingegen die eindeutige Identifizierung der Person.

Allan Sekula stellt in seinem Aufsatz „Der Körper und das Archiv“ '2' die These auf, dass die Institution des Fotoarchives in der engen Verbindung von professionalisierter Polizeiarbeit und der im Entstehen begriffenen Sozialwissenschaft der Kriminologie seinen Ursprung hat.'3'

Jedenfalls dient die Identifizierung, der eindeutige Nachweis einer Identität, zum Anlass eine umfassende Form der medialen Überwachung einzuleiten.

Das bei Francis Galton vorhandene Prinzip der Früherkennung durch Typisierung ist bei jedem Legal- und Prognosegutachten aktiv und entspricht dem von Bröckling beschriebene „precautionary principle“. Hier wird auch deutlich, dass Identitäten Konstrukte sind.

Die Erfindung des „passe-port“, des Reisepasses gilt zuerst nur der Steuerung der politischen Flüchtlinge in der Mitte des 19. Jhd. in Zentraleuropa (Bade 2000, S 185 ff). Erst mit der bewussten Schaffung nationaler Identitäten gegen Ende des 19.Jhd. bekommt er seine jetzige Bedeutung, als ID „identity card“, als Nachweis der Identität der Person. Zusammen mit den entstehenden Meldegesetzen entsteht ein erstes Netz der Überwachung von Bevölkerung. Zu erwähnen sind noch die Technologien die zur Identitätskonstruktion eingesetzt werden. Insbesondere die Fotographie und in unserer Zeit die elektronische Erfassung durch die „Kameraüberwachung“.'4'

Die, durch den damaligen Polizeipräsidenten von London, Sir Edward Henry, im Jahre 1901 eingeführte Daktyloskopie (δάκτυλος /daktylos/ „Finger“ und σκοπεῖν /skopein/ „schauen“) bleibt bis zur Entdeckung der DNA-Spur die Methode der Wahl zur Identifikation von am Tatort vermuteten Personen. Das Archiv wurde durch die Digitalisierung der Datenverarbeitung von sogenannten Datenbanken abgelöst, die nunmehr den Container für sozial erzeugte Identitäten, wie „illegale Flüchtlinge“ „Asylbewerber“ darstellen. Deutlich wird dies an AFIS.'5'

Das „Automatisierte Fingerabdruckidentifizierungssystem" (AFIS) ist ein kriminaltechnischer Vorgang der es erlaubt, Fingerabdrücke digital zu speichern und zu vergleichen. Am 15. Januar 2003 wurde ein auf AFIS basierendes, europaweites Fingerabdruck-Identifizierungssystem, EURODAC eingeführt. Erfasst werden dabei u.a. Asylbewerber und illegale Flüchtlinge, sofern diese das 14. Lebensjahr überschritten haben.'6'

Dem englischen Wissenschaftler John Alec Jeffreys gelang im Jahr 1985 zusammen mit Viktoria Wilson und Swee Lay Thein die Entwicklung des sogenannten genetischen Fingerabdrucks. 1988 wurde die Methode erstmals in einem deutschen Strafprozess eingesetzt. Der Genetische Fingerabdruck ermöglicht die rückwirkende Erfassung und Aufklärung von bisher nicht aufklärbaren Verbrechen und setzt durch die nationalen und internationalen DNA – Datenbanken neue Maßstäbe der Identifizierung und Identität.'7'

Durch die Unmöglichkeit der Vermeidung von sogenannten Datenspuren wird der Generalsierung des Verdachtes Vorschub geleistet. Die allüberall mögliche Identifizierung der Identität macht aus uns allen mögliche Verbrecher. Bertillon´s Verbrecherkartei verschmilzt mit Francis Galtons Typisierung des Verbrechers zu einem allumfassenden Archiv der „Gefährlichen“. Damit wird die Identität zum Gefängnis und die Gefangenschaft, in der überall möglichen Nachweisbarkeit der Identität real.

Soziale Identität

Die Identität einer Person ist auch immer eine soziale Identität. Diese ist eine konstruierte und durch den Kontext bestimme Identität. Interaktionsrituale (Goffman 1971) und die soziale Umgebung definieren dann das eigene Selbstbild und die eigene Identität. Diese wird aus der Differenz zu anderen sozialen Gruppen gebildet, bzw. durch die Erfüllung des Anspruches und den Regel in der eigenen Gruppe. Die Herausbildung einer eigenen „Verbrecheridentität“ ist für die Erklärung kriminellen Verhaltens oft verwendet worden. Als ein Beispiel für die Ausbildung der eigenen Identität durch Differenz und Konformismus verweise ich auf die Arbeit von Albert K. Cohen (1961) Kriminelle Jugend, der die Kultur der „Bande“, der „gang“ und die damit verbundenen Selbstbilder beschreibt. Das kriminelle Verhalten ist hier normal und ein Teil der Kultur. Die Sozialisation in der Unterschicht und damit die erlernten Verhaltensweisen, begünstigen eine Identität als „Krimineller“.

Die Aufteilung der Gesellschaft in arme und reiche Klassen durch die Organisation der Ökonomie führt zu einem permanenten Klassenkampf, der auch über die Art und Weise der „Verbrechensbekämpfung“ ausgetragen wird. Identitäten, die durch den Kontext der Armut und des Elends geprägt sind, sind leichter zu beherrschen als Identitäten, die ein ausgeprägtes Machtbewusstsein und entsprechende ökonomische Ressourcen mit sich bringen. Loic Wacquant beschreibt in dem Aufsatz „The Zone“ den Hustler „Rickey“ und interviewt ihn. "Rickey" stellt keine Anomalie dar und ist auch kein Vertreter einer abweichenden Minderheit (…); er ist das Produkt aus dem Grenzbereich einer Jahrhunderte alten Logik der sozio-ökonomischen und rassischen Exklusion, von der alle Bewohner des Ghettos mehr oder weniger betroffen sind.“ (Wacquant 1997, S.185). „Rickey“ kann sich nicht anders verhalten, wie er sich verhält. Sein Sosein und damit seine Identität, wird hier als Produkt der sozialen und geschichtlichen Bedingungen interpretiert, deren Grundlage die Exklusion ist. Geht man weiter davon aus, dass die Organisation der ökonomischen Verhältnisse die Grundlage der Exklusion und der Produktion von exkludierten sozialen Identitäten ist, dann kann man mit Randall G. Shelden sagen: „American Style Capitalism is the Real Culprit“ (Shelden 2008, S. 309). Ohne auf die Diskussion über den Determinismus des freien Willens einzugehen, kann festgehalten werden, dass Sozialisation und Kontext auf die Ausbildung der sozialen Identität - und damit auch auf die Ausbildung einer Identität als Krimineller - einen wesentlichen Einfluss haben.


Zugeschriebene Identität

Das Bewusstsein seiner selbst entsteht im permanenten Austausch mit den anderen Mitgliedern der Gesellschaft. Dabei werden qua Definitionsmacht Identitäten zugeordnet. Dies geschieht durch Rollenzuweisung, Macht und Autorität oder durch Diagnose, gut beschrieben in den großen sozialen Experimenten von Zimbardo (Stanford Prison Experiment), Milgram und Rosenhan.

Letzterer wies völlig gesunde Menschen, die mit einer psychiatrischen Diagnose versehen waren in eine Psychiatrie ein. Niemand vom Personal und keiner der Ärzte erkannte die Fehldiagnose, nur die wirklichen Patienten durchschauten die falschen Patienten.'8'

Ein „labeling“ durch zugewiesene Rollen oder Diagnosen führt auf Dauer zur Übernahme der Rolle und/oder Diagnose in das eigene Ich-Bewusstsein, damit in die Identität der Person. Dies ist im Zuge des Punitiv-turn und eines neuen Strafbedürfnisses der Öffentlichkeit für die Kriminologie von Bedeutung. Die Renaissance des Zwanges in den Gefängnissen und im Bewusstsein der Öffentlichkeit, hat zu einem rasanten Anstieg der Forensikinsassen geführt und einen enormen Anstieg der Gutachten im Strafvollzug mit sich gebracht (Sabine Rückert(2008): In der Lebensversickerungsanstalt,in: die ZEIT, 11.12. 2008, Nr. 51).

Die Strafrechtsreform von 1998 führt Behandlungszwang für Verbrechen von Gewalt- und Sexualstraftätern mit über 2 Jahre Verurteilung ein. Die Vollstreckungsbehörden und Gerichte verlangen bei Einstieg in die Lockerungen zwei Gutachten, vor der Entlassung ein Gutachten für diesen Täterkreis. Da es meist Psychiater oder Psychologen sind die diese Gutachten anfertigen, wird das kriminelle Verhalten mit einer ärztliche Diagnose versehen, meist in Zusammenhang mit den üblichen Klassifikationssystemen, wie dem ICD 10. Risiko - und Gefährlichkeitsprognosen verändern die Identität der Begutachteten. Zusätzlich zur Delinquenz bekommen sie nun ein Krankheitsbild als „Psychopath“ oder „dissoziale“ oder „antisoziale Persönlichkeit“, und werden so in eine Übernahme, der an die Person gebundenen Eigenschaft gedrängt. Von sich selber sagen zu müssen: „Ich bin ein Psychopath“, kann keine guten Auswirkungen auf das Ichbewusstsein haben.

Die bereits von Goffman in „Asyle“ (Goffman 1973) beschriebene Situation in totalen Institutionen, und die damit einhergehende Depersonalisierung und Deprivation, führt zwangsläufig zu anderen Identitäten. Die Festschreibung von temporären Verhaltensweisen in die Persönlichkeit zementiert das „Verbrechersein“.

Identität in der Postmoderne

Mit dem politischen Projekt des Neoliberalismus und dem Abbau des Sozialstaates entsteht die Ökonomisierung des Sozialen und in Folge dessen, der Zwang zur Vermarktung seines Selbst. Dies führt zu veränderten Identitäten der Mitglieder unserer Gesellschaft. War bisher die soziale Absicherung gegeben, wird nun die notwendige „Selbstverantwortung“ und die damit einhergehende grundsätzlich Verunsicherung der Existenz zum allgemeinen Lebensgefühl, die Krise wird permanent und ein governing through crime (Jonathan Simon) wird möglich, weil die Ängste der verunsicherten Bürger auf die „gefährlichen Klassen“ übertragen werden können. Zusätzlich werden durch neue Technologien, wie die Gen- und Nanotechnologie völlig andere Formen menschliche Lebens ermöglicht, die dem Cyborg der Mensch- Maschine Kombination näher kommen mag, als manchem lieb ist. Ich erinnere an dieser Stelle noch einmal an Descartes und seine Mensch-Maschine.

Die Auflösung der Identität des Menschen als „Mensch“ ist Teil der Postmoderne, genauso wie die Existenz der Virtualität, der Geschwindigkeit und damit der Relativität der Zeit. Durch die Prozesse der Globalisierung, der damit einhergehenden erzwungenen Migration, das empfundene Verschwinden des Nationalstaates, gehen weitere kollektive identitätsstiftende Mechanismen verloren. In sogenannten „multikulturellen“ und „multireligiösen“ Gesellschaften kommt es zu Bi- oder Mehrfachidentitäten. Die für das Individuum entscheidende Frage: „Wer bin ich?“ wird zur Frage: „Wer bin ich jetzt?“ oder kollektiv: „Was sind wir gegenwärtig?“ (vgl. Foucault 1988, S. 202)


Techniken des Selbst

Nicht nur neue Techniken der Führung und Herrschaft werden in der Rationalität der postfordistischen Ära kreiert, sondern auch neue Techniken des Selbst (siehe Opitz 2004, S. 75 ff) Der Mensch wird gezwungen sich unaufhörlich neu zu erfinden und seine Einzigartigkeit in der multitude permanent nachzuweisen. Der von Britney Spears kolportierte Satz: „Ich bin eine Ich-Aktie“ trifft den Sachverhalt ziemlich genau. Das Selbst wird gezwungen sich nicht nur um seine „Selbstvorsorge“ kümmern zu müssen, es muss sich nun auch „selbst vermarkten“.

Dabei kommt es zu permanenten Modulation der Identität. Eine einzige Identität reicht nicht aus, um auf dem Markt bestehen zu können. Aus dem Selbst wird ein unternehmerisches Selbst, das zuständig ist für die Bewahrung, Reproduktion und Mehrung seines Humankapitals. Hier greift das Präventionsdispositiv. Die neuen Zuweisungen an die Subjekte sind Teil der Gouvernementalité, der neuen Techniken von Herrschaft. Interessant in diesem Zusammenhang ist der Aufsatz von Ulrich Bröckling (2000): „Totale Mobilmachung. Menschenführung im Qualitäts- und Selbstmanagement.“ Zusätzlich kommt es zu neuen Formen, manchmal auch als kriminell definierten Verhaltensweisen, die unmittelbar an den Begriff der Identität gebunden sind: „Identitätsdiebstahl“, „Identitätsmanagement“, „Identitätsbildung“, „Falsche Identität“.

Die Postmoderne löst das Subjekt auf, weil sie das Individuum nicht mehr benötigt. Umso schwerer wird es, eine Identität zu erzeugen, die nicht ausschließlich an die Erwerbsarbeit gebunden ist. In einer Gesellschaft, in der die Produktion von einer materiellen auf eine symbolische und wissensbasierte Struktur umgelenkt wird, verlieren traditionelle Identitäten, wie z.B. aktuell der „Autobauer“ ihren Sinn. Autos können Roboter bauen. Damit wird Wissen verstärkt zur Ware, das „geistiges Eigentum“ dem materiellem gleichgestellt, zumindest kann man es nach den Regeln der World Trade Organisation nun stehlen.

Der Zwang zur Differenzierung auf dem Weg zum eigenen Ich ist schichtspezifisch unterschiedlich groß. Je nachdem sind die identitätsstiftenden Werkzeuge und Gegenstände, die mein Image prägen unterschiedlich teuer. Um den Schein zu wahren wird das Plagiat zur begehrten Ware. Der Zoll hat viel zu tun mit dem Aufspüren und Vernichten "falscher Markenware".

Die durch den Kolonialismus erzeugte Alterität der „Anderen“, die notwendig wurde um die eigene europäische Identität zu erhalten wird, wie Sartre sagte, zum „Bumerang“ und geht im Moment der Globalisierung verloren (siehe Negri Hardt 2000, S. 137 ff , Die Erzeugung von Alterität). Die kollektive Abschottung der Festung Europa führt zu „Illegalen“, im französischen treffender als „Sans-Papiers“ bezeichneten Menschen. Diese müssen einen großen Teil ihrer Energie darauf verwenden, ihre „Identität“ im Sinne von Herkunft zu verbergen, um nicht Gegenständen gleich, „abgeschoben“ zu werden. Nur „identitätslos“ überleben sie in der Fremde. Sie sind damit gleichzeitig dem Risiko des Menschenhandels und den neuen Formen der Sklaverei ausgesetzt.


Identität und Biopolitik

In einer Welt, in der es scheinbar Milliarden „überschüssiger“ Menschen gibt, wird eine neue Form der Kontrolle und der Exklusion unumgänglich. Haben schon die „Illegalen“ keine offizielle Identität, so erst recht nicht die Masse der Überschüssigen: „Angesichts der im wahrsten Sinne des Wortes „Großen Mauer“ aus Hightech-Grenzsicherungsanlagen, die eine Massenmigration in die reichen Länder blockieren soll, verbleiben nur die Slums als Unterbringungsmöglichkeit für die überschüssige Menschheit dieses Jahrhunderts“ (Davis 2007, S. 209). Und jene die eine negative Identität als „gefährliche Masse“ zugewiesen bekommen haben, werden in den Gefängnissen dieser Welt aufbewahrt. Der als „waste -management“ bezeichnete Vorgang der Exklusion beruht auf einer Reduktion des Bürgers hin zu einem bloßen Lebewesen. Giorgio Agamben unterscheidet in „bios“ und „zoe“ als Begriffe für das Leben des Menschen als politischem Subjekt und einem bloßem Lebewesen. Die Souveränität der Macht verwaltet durch eine Animalisierung des Menschen das „nackte Leben“.

Der Foucaultsche Begriff der Biopolitik zielt auf eine Gesellschaft, in der Mensch als ein lebender Körper zum Gegenstand der politischen Strategien wird. Dies bedeutet letztendlich die Auflösung der Identität in der Identifizierbarkeit des Körpers oder in eine Zugehörigkeit zu einer determinierten Gruppe von Körpern. Da die Menschenrechte bereits in ihrer Konstruktion an die Bürgerrechte gekoppelt waren, wird mit der Zerstörung des Menschen als Bürger, als Citoyen, auch sein Recht als Mensch auf Unversehrtheit um seines Menschseins willen aufgegeben. In letzter Konsequenz bleibt die pure Verwertung des Körpers, wie es in den Lagern des Nationalsozialismus der Fall war. Nach Agamben wird das „Lager“ zum biopolitischen Paradigma des Abendlandes (Agamben 2002, S.190)

Die Reduktion der Identität eines Individuums auf seine Identifizierbarkeit, erfordert in der Postmoderne eine Technologie und Kultur der Kontrolle (David Garland) über den Körper des Menschen. Die aus der Kriminalitätsfurcht erwachsen Techniken, wie "gated communities", die allumfassende Kameraüberwachung des öffentlichen und semi-öffentlichen Raumes, die freiwilligen Drogenscreenings von Angestellten, das Sammeln von Daten und das Erstellen von Identitätsprofilen, sollen die Zugriffsmöglichkeit auf das identifizierte Individuum ermöglichen. Die einen soll es ausschließen (Gefängnis, Armut) und ein freiwilliges Einschließen der anderen (gated community) ermöglichen. Aldo Legnaro nennt dies die „Demokratisierung des Panopticons“ (Legnaro 2000, S. 205), die unter der Allgegenwart des Verdachtes etabliert wird. Dabei wird Kriminalität funktionalisiert und als Herrschaftsinstrument benutzt. In der neuen Biopolitik ist die Identität eine rein funktionale, die allein zur Kontrolle und „Verschubung“ bereits kontrollierter Körper dient. Eine komplette Erhebung der DNA des Menschen vor der Geburt ist denkbar, damit werden alle weiteren Schritte in Richtung einer neuen Eugenik möglich.

Identität und Virtualität

Die Virtualität des Netzes hat neue Formen als kriminell definierten Handelns hervorgebracht. Amerikanische Gerichte fangen an gefakte MySpace-Seiten unter Strafe zu stellen. Bisher war es einfach möglich mit unterschiedlichen Identitäten im Netz unterwegs zu sein. Doch seit bei einer geraumen Anzahl von Weltbewohnern Virtualität und Realität immer weiter mit einander zu verschmelzen scheinen, ist die Grenze zwischen anonymen online und realem offline immer löchriger. Auch hier ist ein Wandel deutlich, der auf eine Identifikation der Identität des Benutzers hinausläuft: „Klar ist aber hier schon jetzt, dass das politische Thema im Netzt dieses Jahr „Identität“ heißt und das der Fokus nicht auf ein Spiel damit, sondern auf eine klare Bestimmbarkeit hinausläuft“ (Kösch 2009, S.55). Der Wandel wird nachvollzogen an den beiden sozialen Seiten Facebook und MySpace. Benutz Facebook eine ID so MySpace eine URL, was die Möglichkeit von Frontend und Backend, der Anonymisierung der Identität des Users eröffnet. Der Wandel zu web2 mit seiner schier unendlichen Summe von IP-Adressen, lässt nun die Diskussion um die Identifikation des Users entstehen. Dabei ist die Psychopolitik von MySpace eine die sagt: "Gib dir keine Mühe, du kannst dich eh nicht verstecken, du bist wer du bist". Noch einmal Kösch: „Und wenn wir wirklich mit Identitäten spielen wollen, das auf eine ganz neue Weise tun müssen, in der Repräsentation nur noch eine untergeordnete Rolle spielt, das Versteckspiel bei Tageslicht stattfindet, die Geheimnisse ihr Heim an Google abgegeben haben und das wahre Pop-Moment nicht da entsteht, wo man etwas sein will, sondern eher am Zupfen des sozialen Graphen oder dem Hochseilakt darauf“ (a.a.O S.59)

Das Netz hat den Begriff der Identität in der Postmoderne verändert, aus Einem werden Viele aus „reality“ „augmented reality“, die (wahrscheinlich nie vorhanden) Eindeutigkeit einer Identität löst sich auf in der Konstruktion der vielen Identitäten, die in einer Hochgeschwindigkeitsgesellschaft notwendig erscheinen zur Konstruktion der Persönlichkeit. Das Irreale wird damit zum Realen, das was nicht da ist zählt weit mehr, als das was anwesend ist.

Die Immaterialität der Identität einer Person im Netz, ihre virtuelle Identität, verändert nicht nur den Begriff der Authentizität, sondern auch der Kommunikation und der Identität selber, die bisher noch gebunden war an den Körper. Sie wird wieder gebunden an den realen Körper, wenn zum Zwecke der Strafverfolgung, die virtuelle Identität mit der realen Identität abgeglichen werden soll.

Kann im Second Life ein Mord geschehen? Und wenn ja wie geht das? Und welche Entschädigung steht meinem Avater zu? Vielleicht liegt ja auch in der Ablösung der Identität vom Materiellen eine Chance, nämlich die, aus der Gefangenschaft der eigenen Identität und dem Zwang zur Individualität entkommen zu können.

Literatur

Abels, Heinz (2006): Identität, Wiesbaden

Agamben, Giorgio (2002): Homo Sacer: Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.

Bade. Klaus J. (2000): Europa in Bewegung, Migration vom späten 18.Jahrhundert bis zur Gegenwart, München

Bröckling, Ulrich (2000): Totale Mobilmachung. Menschenführung im Qualitäts- und Selbstmanagement. In: (HG) Bröckling, U, / Krasmann, S. / Lemke, (2000), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M.

Belting, Hans (2008): Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München.

Bourdieu, Pierre (1982): Der feine Unterschied. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.

Bourdieu, Pierre, (1997): Das Elend der Welt: Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens, Konstanz

Cohen, Albert K. (1961): Kriminelle Jugend, Hamburg.

Davis, Mike (2007): Planet der Slums, Berlin/Hamburg

Durkheim, Emile (1893): Über Soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1992

Foucault, Michel (1988): Die politische Technologie der Individuen. In: Jan Engelmann, HG(1999): Foucault. Botschaften der Macht. S.202-214

Goffman, Erving (1971): Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation.

Goffman, Erving (1973): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt a.M.

Hardt, Michael / Negri, Antonio (2002): Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M.

Kösch, Sascha (2009): Anonymität und Identität. Das Ende der zwei Welten. In: de:bug 130, März 2009, S.54-59

Kundera, Milan (1998): Die Identität, Leck

Legnaro, Aldo (2000): Aus der Neuen Welt. Freiheit, Furcht und Strafe als Trias der Regulation, in: Leviathan 28, 202-220

Opitz, Sven (2004): Gouvernementalität im Postfordismus. Macht, Wissen und Techniken des Selbst im Feld unternehmerischer Rationalität, Hamburg

Pamuk, Orhan (2003): Rot ist mein Name, Farnkfurt a.M.

Regener, Susanne (1999): Fotografische Erfassung. Zur Geschichte Medialer Konstruktion des Kriminellen, München.

Schröter, Jens (2003): Archiv – post/fotografisch. In: medienkunstnetzt: http://www.medienkunstnetz.de/themen/foto_byte/archiv_post_fotografisch/1/

Sekula, Allan (2003): Der Körper und das Archiv, in: Herta Wolf(HG) Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd.2, Frankfurt a.M.. S. 269-334

Shelden, Randall G. (2008): Controlling the Dangerous Classes. A History of Criminal Justice in America. Second Edition,

Simon, Jonathan (2007): Governing Through Crime. How the War on Crime Transformed American Democracy and Created a Culture of Fear, Oxford University Press

Wacquant, Loic (1997): The Zone, in: Bourdieu, Pierre (1997) Das Elend der Welt, Konstanz

Direktverweise und Links

1 Siehe: Belting, Hans (2008), Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München. „Die Bilderfindung, die wir Perspektive nennen, war eine Revolution in der Geschichte des Sehens. Als sie den Blick zum Schiedsrichter der Kunst machte, wurde die Welt zum Bild, wie es Heidegger einmal formulieren sollte. Das perspektivische Bild stellte erstmals den Blick dar, den ein Betrachter auf die Welt wirft, und verwandelt dabei die Welt in einen Blick auf die Welt.“ Ebenda S.23f

2 Allan Sekula (2003), Der Körper und das Archiv, in: Herta Wolf(HG) Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd.2, Frankfurt a.M.. S. 269-334

3 vgl.: Jens Schröter (2003) Archiv – post/fotografisch in: medienkunstnetzt: http://www.medienkunstnetz.de/themen/foto_byte/archiv_post_fotografisch/1/

4 Siehe: Susanne Regener (1999), Fotografische Erfassung. Zur Geschichte Medialer Konstruktion des Kriminellen, München.

5 http://www.bka.de/pressemitteilungen/hintergrund/hintergrund2.htm

6 http://ec.europa.eu/justice_home/fsj/asylum/identification/fsj_asylum_identification_de.htm

7 http://www.bka.de/profil/faq/dna02.html

8 http://www.iaapa.org.il/46024/original_article_of_David_Rosenhan_On_Being_Sane_in_Insane_Places

Hans Belting: http://kunstwissenschaften.hfg-karlsruhe.de/index.php?option=com_content&task=view&id=32&Itemid=47

Mike Davis: http://www.hnet.uci.edu/history/faculty/davis/

Sabine Rückert: http://media.dgppn.de/mediadb/media/dgppn/pdf/medien/pressearchiv08/08-12-11-zeit-dos-schlangengrube.pdf

Jonathan Simon: http://governingthroughcrime.blogspot.com/2007/10/stop-them-before-they-legislate-again.html

Loic Wacquant: http://sociology.berkeley.edu/faculty/wacquant/

http://www.partner-pe.de/pdf/artikel/060703-VeraenderungenWellke.pdf