Die Grazer Schule der Kriminologie

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Im Jahr 1912 gründete der Österreicher Hans Gross (1847-1915) das erste kriminologische Universitätsinstitut Europas an der Karl-Franzens-Universität Graz. Mit der Gründung dieses Instituts wurde das Ziel verfolgt, eine Verbindung zwischen wissenschaftlicher Theorie und praktischen Aspekten der Verbrechensaufklärung herzustellen. Diese, von Gross und seinen Nachfolgern angestrebte „Verwissenschaftlichung der Verbrechensaufklärung“ (Bachhiesl, 2008, S. 88), wird als Grazer Schule der Kriminologie bezeichnet. (vgl. Bachhiesl, 2008, S. 87f)


Einleitung

In ihren Anfängen (19. Jahrhundert) setzte sich die Kriminologie aus einer Vielzahl an unterschiedlichen Disziplinen zusammen und wurde überwiegend als eine Hilfswissenschaft des Strafrechts betrachtet. Da die Vertreter der Kriminologie aus unterschiedlichen Bereichen - sehr oft aus juristischen oder medizinischen Berufsfeldern – kamen, stellte sich die Frage, welchen methodischen und wissenschaftlichen Strömungen die Kriminologie als eigenständige Wissenschaft folgen sollte:

„Für die „Kriminologen der ersten Stunde“ war eine (…) wissenschaftliche Verortung der Kriminologie nicht selbstverständlich, waren doch die geistigen Wurzeln dieser neuen Wissenschaftsdisziplin weit verzweigt (…) gerade die Kriminologie bot ein Tätigkeitsfeld für viele Wissenschaftler, die sich als Generalisten verstanden und sich für die Erforschung psychologischer und anthropologischer Problemfelder als ebenso kompetent erachteten wie für die Klärung der juristischen, medizinischen und chemisch-physikalischen Implikationen, welche die Aufklärung der einzelnen Fälle und die Erforschung der jeweiligen Täterpersönlichkeit mit sich brachten. Kurzum, die wissenschaftlich-methodologische Basis der Kriminologie war eine denkbar breite“ (Bachhiesl, 2007, S. 46f)

In dieser Phase der Entwicklung der Kriminologie zu einer eigenständigen Wissenschaft gründete Gross an der Karl-Franzens-Universität Graz das erste kriminologische Universitätsinstitut in Europa und legte damit den Grundstein für die Grazer Schule der Kriminologie.

Die Grazer Schule der Kriminologie

Der Untersuchungsrichter und Strafrechtsprofessor Hans Gross gilt als der Gründervater der Grazer Kriminologie. Er verfasste mehrere Werke zu kriminologischen Themen, publizierte zahlreiche Artikel und zeigte sich auch für die ab 1898 erscheinende Zeitschrift „Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik“ (später: Archiv für Kriminologie) verantwortlich. Für die Kriminologie forderte Gross eine stärkere Vernetzung juristischer und naturwissenschaftlicher Methoden, wobei die juristische Komponente im Vordergrund stand:

„Gross blieb dennoch überzeugter Jurist: Entscheidend für den Erfolg des Kriminologen sei letztlich nicht das Wissen, das ein Naturwissenschaftler zur Verfügung stellen kann, sondern die Anwendung dieses Wissens auf eine konkrete Fragestellung durch den Kriminologen.“ (Bachhiesl, 2007, S. 48)

Naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden sollten nach dem Verständnis von Gross auch dem Zweck einer Verwissenschaftlichung der Kriminologie und der Erforschung von Verbrechen und Verbrechern, dienen. Das Grazer Kriminologische Universitätsinstitut - und dementsprechend auch die Grazer Schule der Kriminologie - durchlief in der Zeit von seiner Gründung (1912) bis zur Schließung des Instituts bzw. seiner Eingliederung in das Institut für Strafrecht (1977) verschiedene Entwicklungen, die sich am Wirken der jeweiligen Leiter orientierten bzw. darstellen lassen: (vgl. Bachhiesl, 2007, S. 47ff)

Hans Gross (Leiter von 1912 bis 1915)

Geprägt durch den Erfahrungsschatz Gross, der als Staatsanwalt, Untersuchungs- und Verhandlungsrichter tätig war, lag der Schwerpunkt der Forschungs- und Lehrtätigkeit einerseits im Bereich `Täterpersönlichkeit und Typologie von Kriminellen` und andererseits auf der Erstellung von Gutachten durch die am Institut untergebrachte Kriminalistische Station. Ein Kriminologe musste laut Gross neben juristischem Wissen auch über Grundlagenkenntnisse aus dem geistes-, kultur- und naturwissenschaftlichem Bereich verfügen, wobei die Rechtswissenschaft nach dem Verständnis von Gross die Stammwissenschaft der Kriminologie war.

Wiewohl sich Gross mit der Thematik der Täterpersönlichkeit und Typologie von Kriminellen beschäftigte, lehnte er die Kriminalanthropologie Lombrosos ab, da ihm diese zu wenig wissenschaftlich erschien. Diese Ansicht sollte sich in weiterer Folge auch bei seinen Nachfolgern durchsetzen und wurde bis zur Schließung des Instituts beibehalten. Ein markanter Aspekt dieser Abgrenzung war die Verwendung des Begriffs Typus, „als Abstraktion von Merkmalen der sog. kriminellen Lebensvorgänge“ (Bachhiesl, 2008, S. 98), im Gegensatz zu Lombrosos anthropologischer Kategorie. Wiewohl Gross und seine Nachfolger jedoch davon ausgingen, dass Kriminelle keine durch besondere körperliche und charakterliche Merkmale gekennzeichneten Menschen seien, sondern die Definition des Kriminellen aus der Tatsache des Verstoßes gegen das Strafgesetz ableiteten, verwendeten sie in ihrer Argumentation immer wieder verbrecherspezifische Kennzeichen, die der Methodik Lombrosos ähnelten. In kriminalpolitischer Hinsicht forderte Gross eine Abkehr vom geltenden Schuldstrafrecht, das er als unzureichend für die Praxis empfand, da der vorwerfbare Schuldaspekt lediglich auf geistig gesunde Menschen anwendbar war, geisteskranke Täterinnen und Täter in die Zuständigkeit der Psychiatrie verwies und für sonstige Erscheinungsformen, wie zum Beispiel vermindert zurechnungsfähige Personen, keine Alternative zur Verfügung stellte. Hans Gross verstarb im Jahr 1915 an einer Lungenentzündung in Graz (vgl. Bachhiesl, 2008, S. 88ff).

Adolf Lenz (Leiter von 1916 bis 1938)

Lenz (1868-1959) war, ebenfalls wie Gross, Jurist, kam aber aus dem Bereich der Lehre, mit Schwerpunkt Strafrecht und Völkerrecht, und hatte sich schon vor der Übernahme des Instituts mit einer Reform des Strafrechts beschäftigt. Auch er stellte das geltende Strafrecht in Frage und hielt es „für eine angemessene Ahndung von Straftaten ebenso wenig tauglich (…) wie für den ausreichenden Schutz der Gesellschaft vor Kriminalität“ (Bachhiesl, 2008, S. 93). Im Hinblick auf einen kriminologischen Erfolg war die rein rechtliche Bewertung der Schuld eines Täters/einer Täterin für Lenz nicht ausreichend, weshalb er für eine biologische Betrachtungs- bzw. Herangehensweise (die von ihm so bezeichnete Kriminalbiologie) plädierte. Im Zuge dieser kombinierten Betrachtung distanzierte sich Lenz jedoch entschieden von den Theorien Lombrosos, indem der die Definition „Krimineller“ eindeutig von der Tatsache der gerichtlichen Verurteilung (also einer rechtlichen Bewertung) abhängig machte und dem Bereich der Kriminalbiologie eine ergänzende Betrachtung der Täterpersönlichkeit - zum Zwecke der Feststellung des Ausmaßes der Schuld - zuerkannte. Die Bestrafung sollte also nicht nur entsprechend der Tat, sondern auch unter Berücksichtigung seiner sog. „Persönlichkeitsschuld“ (Bachhiesl, 2008, S. 94) erfolgen. Lenz hatte es sich zum Ziel gesetzt, Tätertypen auszuarbeiten, die vor allem in juristischer Hinsicht eine Zuordnung und damit verbunden eine Grundlage für Art und Ausmaß der jeweiligen Strafe erlaubten. Wiewohl er sich von Lombrosos Theorien distanzierte, näherte er sich dessen kriminalanthropologischen Betrachtungen durch Kopplung seiner Unterteilung an biologische Typen zwangsläufig an. Da Lenz neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit auch politisch tätig war, gelang es ihm, „seiner Kriminalbiologie“ eine entsprechende gesellschaftspolitische Relevanz angedeihen zu lassen. Mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich und dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich endete Lenz Tätigkeit an der Universität Graz und er musste sich in die Pension zurückziehen (vgl. Bachhiesl, 2008, S. 93ff).

Ernst Seelig (Leiter von 1939 bis 1954)

Seelig (1895-1955) war ein Mitarbeiter von Lenz, der nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich die Leitung des Instituts übernahm. Er konzentrierte sich im Rahmen seiner Tätigkeit einerseits auf die Er- und Zusammenfassung der Forschungsergebnisse des Instituts und andererseits auf die Erstellung einer Kategorisierung von kriminellen Typen. Seelig präsentierte die Ergebnisse seiner Recherchen und Zusammenfassungen der Grazer Schule der Kriminologie im Jahr 1951 in seinem „Lehrbuch der Kriminologie“, das sich in zwei Hauptteile gliederte, einerseits „Die Erscheinungen der Verbrechensbegehung“ und andererseits „Die Erscheinungsformen der Verbrechensbekämpfung“.

Im Hinblick auf die Typologie Krimineller konzentrierte sich Seeligs Ansatz auf die Festlegung von acht Haupttypen, denen seiner Meinung nach die meisten Kriminellen zugeordnet werden könnten. Es waren dies:

1. Arbeitsscheue Berufsverbrecher

2. Vermögensverbrecher aus geringer Widerstandskraft

3. Verbrecher aus Angriffssucht

4. Verbrecher aus sexueller Unbeherrschtheit

5. Krisenverbrecher

6. Primitivreaktive Verbrecher

7. Überzeugungsverbrecher

8. Verbrecher aus Mangel an Gemeinschaftsdisziplin

Seeligs Typeneinteilung wurde von der NS-Rassenideologie beeinflusst und führte in weiterer Folge zur Entwicklung der Kriminalbiologie hin zu einer Rassenbiologie, wobei diese Entwicklung aufgrund des Untergangs des Dritten Reiches nicht abgeschlossen werden konnte. Ungeachtet dessen, blieb die von Seelig erstellte Typisierung von Kriminellen auch nach dem 2. Weltkrieg ein zentrales Element der Grazer Schule der Kriminologie. Seelig wurde nach Kriegsende seines Amtes enthoben, später aber wieder eingesetzt und bekleidete es bis zu seinem Wechsel an die Universität des Saarlandes im Jahr 1954 (vgl. Bachhiesl, 2008, S. 97ff).

Hanns Bellavic (Leiter von 1955 bis 1965)

Bellavic (1901 bis 1965) war seit 1928 Mitarbeiter am Institut und führte in seiner Funktion als Leiter das von Lenz etablierte Konzept der Kriminalbiologie weiter, wobei die von Seelig eingebrachten Elemente der Rassenbiologie wieder in den Hintergrund gedrängt wurden. Bellavic legte seinen Schwerpunkt auf die Erforschung Jugendlicher, womit er jedoch keine Kriminalbiologie der Jugendlichen entwickeln wollte. Prägend für seine Theorie war auch der, in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg an Bedeutung zunehmende, Resozialisierungsgedanke, dem in seinen Überlegungen ein bedeutender Aspekt zukam. So kam ins Bellavic Überlegungen dem von Lenz eingeführten Begriff der kriminalbiologischen Persönlichkeitsschuld eine zentrale Bedeutung im Hinblick auf die Frage nach Resozialisierung und Strafe zu. Verbunden mit der Einschätzung der Resozialisierung bzw. der Wiedereingliederung in die Gesellschaft verband er Strafarten wie „Schuldausspruch ohne Strafe“, „Denkzettelstrafe“ und „Behandlungsstrafe“. Ungeachtet diesen Überlegungen und Bestrebungen gelang es der Grazer Schule der Kriminologie in der Nachkriegszeit jedoch nicht mehr, Einfluss auf die strafrechtliche Praxis in Österreich zu nehmen und die Grazer Schule der Kriminologie verlor im Laufe der Zeit zunehmend an Gewicht. Bellavic verstarb im Jahr 1965 (vgl. Bachhiesl, 2008, S. 101ff).

Gerth Neudert (Leiter von 1967 bis 1977)

Neudert (1928-2001) war seit 1955 Mitarbeiter am Institut und übernahm 1967 dessen Leitung. Er legte den Schwerpunkt seiner Tätigkeit weniger auf den Bereich der Kriminalbiologie sondern konzentrierte sich mehr auf den kriminalistischen und kriminaltechnischen Bereich, wobei er als Graphologe vor allem der Schriftuntersuchung besonderes Augenmerk widmete. Im Jahr 1977 wurde das Kriminologische Institut der Universität Graz geschlossen bzw. die verbleibenden Teile im Zuge von Umstrukturierungsmaßnahmen dem Institut für Strafrecht und Strafprozessrecht angegliedert. Neudert verstarb 2001 als letzter Vertreter der Grazer Schule der Kriminologie (vgl. Bachhiesl, 2008, S. 105f).

Kriminalmuseum Graz

Im Jahr 1896 gründete Hans Groß am Landesgericht für Strafsachen in Graz ein Kriminalmuseum, dessen Zweck in erster Linie darin bestand, eine Lehrmittelsammlung für Studenten, Untersuchungsrichter und Kriminalbeamte einzurichten (vgl.http://kriminalmuseum.uni-graz.at/de/gruendung/allgemein 03.03.2015). Mit der Gründung des „K.k. Kriminalistischen Instituts an der Universität Graz“ wechselte die Sammlung dann in die Räumlichkeiten der Universität Graz (vgl. http://kriminalmuseum.uni-graz.at/de/gruendung/hans-gross-und-die-kriminologie 03.03.2015), durchlief anschließend verschiedene Stationen und ist seit dem Jahr 2003 als Bestandteil des Hans-Gross-Kriminalmuseums wieder an der Karl-Franzens-Universität Graz zugänglich (vgl. Bachhiesl, 2008, S. 107).

Literatur

Christian Bachhiesl: Die Grazer Schule der Kriminologie, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 91. Jahrgang, Heft 2, Carl Heymanns Verlag, Köln 2008, S. 87-111

Christian Bachhiesl: Hans Gross und die Anfänge einer naturwissenschaftlich ausgerichteten Kriminologie, in: Archiv für Kriminologie 219, Verlag für polizeiliches Fachschrifttum Georg Schmidt-Römhild, Lübeck 2007, S. 46-53

Christian Bachhiesl/Sonja Maria Bachhiesl/Johann Leitner (Hrsg.): Kriminologische Entwicklungslinien. Eine interdisziplinäre Synopsis, LIT Verlag, Wien 2014

Christian Bachhiesl/Sonja Maria Bachhiesl (Hrsg.): Kriminologische Theorie und Praxis: Geistes- und naturwissenschaftliche Annäherungen an die Kriminalwissenschaft, 1. Auflage, LIT Verlag, Wien 2011

Weblinks

http://www.archivfuerkriminologie.de/

http://kriminalmuseum.uni-graz.at/de/