Viktimisierung: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Krimpedia – das Kriminologie-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen
 
(311 dazwischenliegende Versionen desselben Benutzers werden nicht angezeigt)
Zeile 1: Zeile 1:
Der Begriff Viktimisierung wird vor allem in der Kriminologie und der Psychologie, aber auch in den Sozialwissenschaften verwendet. Wörtlich übersetzt bedeutet Viktimisierung "zum Opfer machen" oder "zum Opfer werden" (lateinisch: "victima" = ursprüngliche Bedeutung: Opfertier, aber auch Opfer; englisch: "victim").
Der Begriff Viktimisierung wird vor allem in der Kriminologie und der Psychologie, aber auch in den Sozialwissenschaften verwendet. Wörtlich übersetzt bedeutet Viktimisierung "'''zum Opfer machen'''" oder "'''zum Opfer werden'''" (lateinisch: "victima" = ursprüngliche Bedeutung: Opfertier, aber auch Opfer; englisch: "victim").


Er beschreibt zum einen die unmittelbaren Ursachen, Wirkungen und Folgen einer Straftat für das Opfer (primäre Viktimisierung), zum anderen die mittelbaren Folgen im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen dem Opfer  und seinem sozialen Umfeld (sekundäre Viktimisierung) oder den Instanzen der sozialen Kontrolle (tertiäre Viktimisierung).
Er beschreibt zum einen die unmittelbaren Ursachen, Wirkungen und Folgen einer Straftat für das Opfer ('''primäre''' Viktimisierung), zum anderen aber auch die mittelbaren Folgen im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen dem Opfer  und seinem sozialen Umfeld ('''sekundäre''' Viktimisierung) oder den Instanzen der sozialen Kontrolle ('''tertiäre''' Viktimisierung).


Die Viktimisierung ist der zentrale Begriff in der [[Viktimologie]], der "Lehre vom (Verbrechens-) Opfer".  
Die Viktimisierung ist der zentrale Begriff in der [[Viktimologie]], der "Lehre vom (Verbrechens-) Opfer".  




 
== '''Der Opferbegriff '''  ==  
== '''Der Opferbegriff: '''  ==
Nach heutiger Ansicht wird das [[Opfer]] als eine natürliche Person verstanden, die als Folge eines Verstoßes gegen Strafrechtsnormen einen körperlichen, seelischen oder wirtschaftlichen Schaden erlitten hat. 
Juristische Personen und auch die Allgemeinheit können jedoch ebenfalls zum "Opfer" werden ("Kollektivopfer" im Gegensatz zum "Individualopfer").
Für das Verständnis des Kriminalitätsgeschehens und der Tatfolgen sollte man sich entsprechend nicht auf die Ebene des Individuums beschränken, sondern wissen, dass Straftaten auch auf anderen Ebenen Wirkungen entfalten.
Kaiser (1996) spricht in diesem Zusammenhang von der "sich verflüchtigenden Opfereigenschaft".
Fraglich ist darüber hinaus, ob nur diejenigen zu den Opfern gerechnet werden sollen, die als direkte Folge einer Tat einen Schaden erlitten haben - auf diese Weise blendet man aus, dass Tatfolgen auch bei Angehörigen von Opfern auftreten können.  
Unter einem [[Opfer]] wird überwiegend eine '''natürliche Person''' verstanden, die als Folge eines Verstoßes gegen Strafrechtsnormen einen körperlichen, seelischen oder wirtschaftlichen Schaden erlitten hat. '''Juristische Personen''', die Allgemeinheit oder sogar der Staat können jedoch ebenfalls zum Opfer werden ("'''Individualopfer'''" im Gegensatz zum "'''Kollektivopfer'''").  
Selbst bei Personen, die das Tatgeschehen nur beobachteten, können psychische Beeinträchtigungen ähnlich wie beim Geschädigten auftreten.
Auch der Täter selbst kann Opfer werden, etwa in Situationen wie Notwehr/Nothilfe oder wenn er in Folge seiner Tat (z. b. polizeiliches Handeln) selbst Schäden erleidet.
 
Ob und in welchem Ausmaß tatsächlich eine Schädigung eingetreten ist, lässt sich verbindlich erst sagen, nachdem ein Gericht ein Tatgeschehen festgestellt hat. Der Begriff "Opfer" wirft insofern ähnliche Probleme auf wie der des "Täters" - richtig müsste vor dem Urteil vom "mutmaßlichen Opfer" gesprochen werden.
Dem objektivem Opferbegriff, der auf der Feststellung eines "Betroffensein" durch externe Beobachter beruht, steht der subjektive, sich auf das "Betroffensein" aus Sicht des Opfers beziehende Opferbegriff gegenüber.
Fraglich ist, ob nur diejenigen zu den Opfern gerechnet werden sollen, die als direkte Folge einer Tat einen Schaden erlitten haben, da Tatfolgen auch bei '''Angehörigen von Opfern''' auftreten können. Selbst bei Personen, die das Tatgeschehen nur beobachteten, können psychische Beeinträchtigungen ähnlich wie beim Geschädigten auftreten. Auch der Täter selbst kann Opfer werden, etwa durch Notwehr/Nothilfe oder wenn er in Folge seiner Tat (z. B. polizeiliches Handeln) eigene Schäden erleidet.
Für Opferbefragungen wird deshalb der subjektive Opferbegriff bevorzugt.
 
Das "Opfer-ErIebnis" wird für Befragungen definiert als ein zeitlich begrenztes, unkontrollierbares und aversives, auf andere Personen zurückführbares und (aus Opfersicht) normverletzendes Ereignis.
 
Der Betrug, bei dem das Opfer ja gerade nicht weiß, dass es getäuscht wird, zeigt allerdings die Grenzen dieser  Definition. Ebenfalls von ihr nicht erfasst werden nicht wahrgenommene Viktimisierungen (z. B. Kleinkinder, die einen Missbrauch altersbedingt noch nicht als verboten einordnen können) - während andererseits bloße Empfindlichkeiten oder falsche Normvorstellungen (z. B. bei Sexualdelikten) erfasst werden.  


Abhängig von der Fragestellung kann es also auch zweckmäßig sein, mit dem objektiven Opferbegriff zu arbeiten.
Dem '''objektivem''' Opferbegriff, der auf der Feststellung eines "Betroffensein" durch externe Beobachter beruht, steht der '''subjektive''', sich auf das "Betroffensein" aus Sicht des Opfers beziehende Opferbegriff gegenüber. Für Opferbefragungen wird im allgemeinen der subjektive Opferbegriff bevorzugt.


Für Befragungen wird das "Opfer-ErIebnis" als ein '''zeitlich begrenztes''', '''unkontrollierbares''' und '''aversives''', '''auf andere Personen zurückführbares''' und (aus Opfersicht) '''normverletzendes''' Ereignis definiert . Der Betrug, bei dem das Opfer gerade nicht weiß, dass es getäuscht wird, wird von dieser Definition allerdings ebenso wenig erfasst wie nicht wahrgenommene Viktimisierungen (z. B. bei Kleinkindern, die einen Missbrauch altersbedingt noch nicht als verboten einordnen können) - bloße Empfindlichkeiten oder falsche Normvorstellungen (z. B. bei Sexualdelikten) dagegen werden erfasst.




== '''Das Opfer im Hell- und Dunkelfeld:''' ==
== '''Das Opfer im Hell- und Dunkelfeld''' ==


Das [[Hellfeld]] erfasst die den Strafverfolgungsorganen bekannt gewordenen Viktimisierungen.
Das Opfer hat zumindest bei der nicht im öffentlichen Raum stattfindenden Kriminalität großen Einfluss darauf, ob die Tat der Polizei/Justiz bekannt wird.


Das [[Hellfeld]] stellt Art und Ausmaß der den Strafverfolgungsorganen bekannt gewordenen Viktimisierungen dar.
Bei Diebstahl, Betrug, Unterschlagung, Raub und Vergewaltigung gehen etwa 80% aller Strafverfahren auf eine Anzeige des Opfers, aber nur 9-18% auf Anzeigen Dritter und sogar nur 3-6% auf polizeieigene Erkenntnisse zurück.
Das Opfer hat zumindest bei den sich nicht im öffentlichen Raum stattfindenden Kriminalität großen Einfluss darauf hat, ob die Tat der Polizei/Justiz bekannt wird.
Erstattet das Opfer keine Anzeige, besteht somit eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Polizei keine Kenntnis von der Tat bekommt und erst gar keine Strafverfolgung stattfindet - das Opfer wird deshalb auch als "'''Torwächter des Strafverfahrens'''" (englisch: "gatekeeper") bezeichnet.
Nach älteren Untersuchung gehen bei Diebstahl, Betrug, Unterschlagung, Raub und Vergewaltigung etwa 80% aller Strafverfahren auf eine Anzeige des Opfers, aber nur 9-18% auf Anzeigen Dritter und sogar nur 3-6% auf polizeieigene Erkenntnisse zurück.
Erstattet das Opfer keine Anzeige, besteht somit eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Polizei keine Kenntnis von der Tat bekommt und erst gar keine Strafverfolgung stattfindet - das Opfer wird deshalb auch als "Torwächter des Strafverfahrens" (englisch: "gatekeeper") bezeichnet.


Für die Hellfelddaten bedeutet dies, dass sie nur einen Ausschnitt aus allen erlebten Viktimisierungen darstellen - und dieser Ausschnitt zusätzlich noch durch die individuellen Interessen und Bedürfnisse des Opfers verzerrt ist.
Die Hellfelddaten geben somit nur einen - durch die individuellen Interessen und Bedürfnisse des Opfers verzerrten - Ausschnitt aller erlebten Viktimisierungen wieder.


Als Quelle für die im Hellfeld erfassten Viktimisierungen steht einzig und allein die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) zur Verfügung.
Als Quelle für die im Hellfeld erfassten Viktimisierungen steht allein die [[polizeiliche Kriminalstatistik]] (PKS) zur Verfügung.


Um die Belastung der einzelnen Alters- und Opfergruppen zu ermitteln, müssen Opfergefährdungszahlen (OGZ) berechnet werden, die die Anzahl der polizeilich registrierten Opfer pro 100.000 Personen der Wohnbevölkerung (incl. Ausländern) angeben. Dabei zeigt sich, dass vor allem männliche Jugendliche und Heranwachsende von Körperverletzungsdelikten - und leicht verringert auch von Raub/räuberischer Erpressung - betroffen sind.
Um die Belastung der einzelnen Alters- und Opfergruppen zu ermitteln, werden '''Opfergefährdungszahlen''' (OGZ) berechnet, die die Anzahl der polizeilich registrierten Opfer pro 100.000 Personen der Wohnbevölkerung (incl. Ausländern) angeben. Dabei zeigt sich, dass von '''Körperverletzungsdelikten''' - und leicht verringert auch von Raub/räuberischer Erpressung - vor allem männliche Jugendliche und Heranwachsende betroffen sind.
Sexualdelikte werden vor allem gegenüber Mädchen und jungen Frauen verübt, mit einem hohen Anteil sexuellen Missbrauchs sechs- bis vierzehnjähriger Mädchen.  
'''Sexualdelikte''' werden vor allem gegenüber Mädchen und jungen Frauen verübt, mit einem hohen Anteil sexuellen Missbrauchs sechs- bis vierzehnjähriger Mädchen.  


Die Opferbelastung ist sowohl im Hell- als auch im [[Dunkelfeld]] bei Jugendlichen und Heranwachsenden am höchsten. Erwachsene sind, bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil, deutlich seltener betroffen.   
Die Opferbelastung ist sowohl im Hell- als auch im [[Dunkelfeld]] bei Jugendlichen und Heranwachsenden am höchsten. Erwachsene sind, bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil, deutlich seltener betroffen.   


Das aus der Dunkelfeldforschung bekannte hohe Viktimisierungsrisiko im sozialen Nahbereich spiegelt sich im Hellfeld nicht wieder - unter den angezeigten Delikten gibt es nur bei der "Misshandlung von Schutzbefohle-nen" einen hohen Anteil (ca. 75%) von Taten, bei denen Täter und Opfer verwandt sind.  
Aus der Dunkelfeldforschung ist ein hohes Viktimisierungsrisiko im sozialen Nahbereich bekannt. Dies jedoch spiegelt sich im Hellfeld nicht wieder - unter den angezeigten Delikten gibt es nur bei der "Misshandlung von Schutzbefohlenen" einen hohen Anteil (ca. 75%) von Taten, bei denen Täter und Opfer verwandt sind.  
Bei allen anderen Delikten - außer bei Tötungsdelikten (32%) - spielen Verwandte keine besondere Rolle.  
Bei allen anderen Delikten - außer bei Tötungsdelikten (32%) - spielen Verwandte keine besondere Rolle.  
Dies gilt auch für den Tatbestand des "sexuellen Missbrauchs von Kindern" - die PKS-Verteilung bestätigt damit den Befund der Dunkelfeldforschung, dass Opfer eine Anzeige gegen Täter aus der eigenen Familie scheuen.  
Dies gilt auch für den Tatbestand des "sexuellen Missbrauchs von Kindern" - die PKS-Verteilung bestätigt damit den Befund der Dunkelfeldforschung, dass Opfer eine Anzeige gegen Täter aus der eigenen Familie scheuen.
 
 
 
== '''Zahlen zur Opferhäufigkeit:''' ==


=='''Zahlen zur Opferhäufigkeit'''==


Zuerst stellt sich die Frage nach dem Viktimisierungsrisiko - also der Höhe des Risikos, Opfer einer Straftat zu werden. Antwort geben die durch Opferbefragungen (englisch: victim surveys) erhoben Zahlen.
Das Viktimisierungsrisiko - also der Höhe des Risikos, Opfer einer Straftat zu werden - wird in '''Opferbefragungen''' erhoben. Es lassen sich grundsätzlich zwei Typen von Opferbefragungen unterscheiden: '''Kriminalitätsmessungen''' (englisch: crime surveys), bei denen allerdings mehr die Straftat als das Opfer im Mittelpunkt steht, sowie die '''viktimologischen Fragestellungen''' (englisch: victim surveys), bei denen die Gewinnung ausführlicher opferbezogener Daten und die möglichst präzise Messung von Viktimisierungen und deren Umstände im Vordergrund steht.  
a) '''Opferprävalenz:'''
===Opferprävalenz===
 
Die wichtigste Kennzahl im Hinblick auf die Opferhäufigkeit ist die '''Prävalenz''' (Definition: Anzahl der Menschen aus einer Gruppe definierter Größe, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums Opfer einer kriminellen Handlung werden).  
 
Die meisten Menschen werden irgendwann im Laufe ihres Lebens Opfer irgendeiner Straftat - ähnlich wie Tätererfahrungen stellen Opfererfahrungen eine nahezu ubiquitäre (= überall verbreitete) Erscheinung dar.
Die wichtigste Kennzahl im Hinblick auf die Opferhäufigkeit ist die Prävalenz (Definition: Anzahl der Menschen aus einer Gruppe definierter Größe, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums Opfer einer kriminellen Handlung werden).  
Die meisten Menschen werden irgendwann im Laufe ihres Lebens Opfer irgendeiner Straftat - ähnlich wie Tätererfahrungen stellen Opfererfahrungen eine nahezu ubiquitäre (= allgegenwärtige) Erscheinung dar.
 
Am häufigsten wird dabei von eher leichten Delikten berichtet, wobei den größten Anteil gewaltlose Eigentums- und Vermögensdelikte ausmachen.
Eine bundesweite Befragung (1995/96; Mindestalter der Teilnehmer 16 Jahre) ergab, dass knapp ein Viertel der Befragten (22,7%) innerhalb des zurückliegenden Jahres Opfer eines abgefragten Delikts geworden war. Am häufigsten genannt wurden Beschädigungen an Kraftfahrzeugen: 7,3%, gefolgt von
Betrug : 5,9%,
Fahrraddiebstahl : 5,0%,
Diebstahl persönlichen Eigentums: 4,2%,
Diebstahl an/aus Kfz: 3,9%, Sachbeschädigung: 3,1 %;
Wohnungseinbruch : 2,1% und
Diebstahl von Kfz: 1,3% waren eher selten.
Delikte wie z. B. Ladendiebstahl, die quantitativ eine große Rolle spielen, wurden in dieser Opferbefragung nicht erfasst, da nur natürliche Personen befragt wurden - in diesen Fällen aber überwiegend juristische Personen betroffenen sind.         Gewalt- und Sexualdelikte kamen deutlich seltener vor: 
Körperverletzung/Bedrohung: 2,8%, Raub: 1,4% und Vergewaltigung/sexueller Angriff: 0,6%.
 
In einer anderen, im Jahre 2000 unter Schülern des 9. Jahrgangs durchgeführten Befragung des Kriminolo-gischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) zeigte sich eine deutlich höhere Opferprävalenz in jüngeren Altersgruppen.
Hier gaben ca. 25% der Befragten an, im vergangenen Jahr Opfer eines Gewaltdelikts geworden zu sein:
 
Körperverletzung ohne Waffe: 15,2%,
Raub: 9,2%,
Körperverletzung mit Waffe: 5,6%,
Erpressung: 5,1% und
sexuelle Gewalt: 2,7%.  


Jugendliche sind demnach insgesamt gefährdeter als Erwachsene.  
Am häufigsten wird dabei von eher leichten Delikten berichtet, größtenteils gewaltlose Eigentums- und Vermögensdelikte.
Zu beachten ist allerdings, dass Opfer- und Täterrollen bei Jugendlichen oftmals ineinander übergehen.
Eine bundesweite Befragung (1995/96) von mindestens 16 Jahre alten Personen ergab, dass knapp ein Viertel der Befragten (22,7%) innerhalb des zurückliegenden Jahres Opfer eines dieser Delikte geworden war. Am häufigsten genannt wurden: Beschädigungen an Kraftfahrzeugen (7,3%), Betrug (5,9%) und Fahrraddiebstahl (5,0%).
Noch seltener waren Gewalt- und Sexualdelikte:  Körperverletzung/Bedrohung (2,8%), Raub (1,4%) und Vergewaltigung/sexueller Angriff (0,6% - es wurden nur natürliche Personen befragt; die sehr häufigen Delikte zum Nachteil juristischer Personen, z. B. Ladendiebstahl, wurden nicht erfasst).      


Eine andere, im Jahre 2000 unter Schülern des 9. Jahrgangs durchgeführte Befragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) zeigte eine deutlich höhere Opferprävalenz in der Altersgruppe unter 16 Jahren.
Hier gaben ca. 25% der Befragten an, im vergangenen Jahr Opfer eines Gewaltdelikts geworden zu sein - am häufigsten wurden hier genannt: Körperverletzung ohne Waffe (15,2%) und Raub (9,2%).


b) '''Viktimisierung im sozialen Nahbereich:'''
Jugendliche sind demnach insgesamt gefährdeter als Erwachsene. Zu beachten ist allerdings, dass Opfer- und Täterrollen bei Jugendlichen oftmals ineinander übergehen.


Das Erheben von aussagekräftigen Zahlen birgt insbesondere bei Sexualdelikten und Gewalt in der Familie Schwierigkeiten, da man damit rechnen muss, dass die Befragten nur wenig offen antworten.  
===Viktimisierung im sozialen Nahbereich===
Bleiben die Taten deshalb sowohl den Strafverfolgern als auch den Interviewern verborgen, spricht man vom "doppelten Dunkelfeld".
Bei der Erhebung aussagekräftiger Zahlen muss man insbesondere bei '''Sexualdelikten''' und '''Gewalt in der Familie''' damit rechnen, dass die Befragten nur wenig offen antworten.  
Um diesem Problem Rechnung zu tragen, wird die sog. "drop off"-Technik - bei der die Befragten die Fragebögen in einem verschossenen Umschlag zurückgeben - angewendet, um Ergebnisse zur Opferhäufigkeit auch in "Tabu-Bereichen" zu erhalten.
Bleiben die Taten deshalb sowohl den Strafverfolgern als auch den Interviewern verborgen, spricht man vom "'''doppelten''' '''Dunkelfeld'''".
Insbesondere Frauen berichten bei dieser Vorgehensweise sehr viel häufiger über Gewalterfahrungen als beim traditionellen persönlichen Interview ("face to face").  
Um Ergebnisse zur Opferhäufigkeit auch in "Tabu-Bereichen" zu erhalten wird die sog. '''"drop off"-Technik''' - bei der die Befragten die Fragebögen anonymisiert zurückgeben - angewendet. Insbesondere Frauen berichten bei dieser Vorgehensweise sehr viel häufiger über Gewalterfahrungen als beim traditionellen persönlichen Interview ('''"face to face"''').


Die nachfolgenden Ergebnisse zeigen, dass insbesondere der soziale Nahbereich für Frauen und Kinder ein erhebliches Risiko bietet - innerfamiliäre physische und sexuelle Gewalt tritt offenbar häufiger auf als in der Öffentlichkeit angenommen.


c) '''Frauen als Opfer:'''
* '''Frauen als Opfer'''
 
In einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) von 2004 gaben in Bezug auf '''körperliche Gewalt''' 37% und in Bezug auf '''sexuelle Gewalt''' 13% aller befragten Frauen (Alter: 16 bis 85 Jahre) an, seit dem 16. Lebensjahr wenigstens einmal Opfer einer solchen Tat geworden zu sein.
In einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) von 2004 gaben in Bezug auf  
körperliche Gewalt: 37%, in Bezug auf  
sexuelle Gewalt: 13%
aller befragten Frauen (Alter: 16 bis 85 Jahre) an, seit dem 16. Lebensjahr wenigstens einmal Opfer einer solchen Tat geworden zu sein.


Körperliche und/oder sexuelle Gewalt hatten schon 40% der Frauen wenigstens einmal im Leben erlitten.  
Körperliche und/oder sexuelle Gewalt hatten schon 40% der Frauen wenigstens einmal im Leben erlitten.  
Rund 25% gaben an, die Gewalthandlungen seien wenigstens in einem Fall von aktuellen oder früheren Beziehungspartnern ausgegangen.
Rund 25% gaben an, die Gewalthandlungen seien wenigstens in einem Fall von aktuellen oder früheren Beziehungspartnern ausgegangen.


Bezogen auf den 5-Jahreszeitraum vor der Befragung gaben in der KFN-Studie 17,3% der Frauen an, Opfer von Körperverletzungen geworden zu sein.  
Bezogen auf den 5-Jahreszeitraum vor der Befragung gaben in der KFN-Studie 17,3% der Frauen an, Opfer von '''Körperverletzungen''' geworden zu sein.  
3,5% gaben an, in diesem Zeitraum Opfer von Vergewaltigungen/sexuellen Nötigungen geworden zu sein - über das gesamte Leben betrachtet berichteten hiervon 8,6%.  
3,5% gaben an, in diesem Zeitraum Opfer von '''Vergewaltigungen/sexuellen Nötigungen''' geworden zu sein - über das gesamte Leben betrachtet berichteten hiervon 8,6%.  
Der weit überwiegende Anzahl der Taten fand dabei im sozialen Nahbereich, also innerhalb der Familie oder des Haushalts, statt.
Der weit überwiegende Anzahl der Taten fand dabei im sozialen Nahbereich, also innerhalb der Familie oder des Haushalts, statt.


* '''Kinder als Opfer'''
Die "drop off"-Technik wird auch angewendet, um Erkenntnisse über Gewalt gegen Kinder zu erhalten.
Über '''körperliche Züchtigungen''' durch die Eltern berichteten 75%, etwa 10% über nicht vom elterlichen Erziehungsrecht gedeckte '''körperliche Misshandlungen'''. Über '''sexuellen Missbrauch''' in der Kindheit/Jugend wurde oft berichtet, wobei der Anteil betroffener Frauen etwa zwei- bis dreimal höher lag als der der Männer.


d) '''Gewalt gegen Kinder:'''
===Opfertypologien===
Die Prävalenz gibt lediglich an, wie hoch das statistische Risiko ist, Opfer einer Straftat zu werden.
 
'''Opfertypologien''' geben an, aufgrund welch individueller Disposition jemand zum Opfer wird. Die wichtigsten Befunde deutscher Untersuchungen zeigen folgendes Bild:
 
* Das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, variiert mit dem '''Alter''': Jugendliche und Heranwachsende tragen ein deutlich größeres Risiko als ältere Menschen - besonders bei den Kontaktdelikten (Körperverletzung, Raub, sexuelle Belästigung).


Die "drop off"-Technik wurde auch angewendet, um Erkenntnisse über Gewalt gegen Kinder zu erhalten.
* Das '''Geschlecht''' ist im Zusammenhang mit dem Opferrisiko von untergeordneter Bedeutung: Männer sind stärker von körperlicher Gewalt, Frauen stärker von Sexualdelikten betroffen. Bei den übrigen Delikten ist das Opferrisiko für beide Geschlechter in etwa gleich groß.
Über körperliche Züchtigungen durch die Eltern berichteten 75%, etwa 10% über nicht vom elterlichen Erziehungsrecht gedeckte körperliche Misshandlungen.


Über sexuellen Missbrauch in der Kindheit/Jugend wurde überraschend oft berichtet, wobei der Anteil der betroffenen Frauen etwa zwei- bis dreimal höher lag als der der Männer.  
* Bei "Kontaktdelikten" ist der '''Familienstand''' von Bedeutung: Alleinstehende sind bei Kontaktdelikten (hier findet ein Kontakt zwischen Täter und Opfer statt, bspw. Körperverletzung) deutlich über-, Paare/Verheiratete unterrepräsentiert. Bei den übrigen Delikten spielt der Familienstand offenbar keine entscheidende Rolle.


Die Opferhäufigkeit ist auch abhängig von der jeweils verwendeten Deliktsdefinition.
* Bei Nicht-Gewalttaten (insbesondere Diebstahl) stehen '''Haushaltsgröße und -einkommen''' in Zusammenhang mit dem Opferrisiko: Haushalte mit drei oder mehr Personen und höherem Einkommen werden häufiger Opfer als kleine Haushalte/Haushalte mit geringem Einkommen.
Bei enger Definition (sexueller Missbrauch mit Körperkontakt vor dem 14. Lebensjahr) sind vom sexuellen Missbrauch 2,0% der Männer und 6,2% der Frauen betroffen.
Bei weiterer Definition (incl. exhibitionistischer Handlungen) 3,4% der Männer und 10,7% der Frauen.


Die Ergebnisse zeigen, dass der soziale Nahbereich für Frauen und Kinder ein erhebliches Risiko bietet.
* Menschen werden überwiegend an ihrem '''Wohnort''' (zu Hause/in der näheren Umgebung) Opfer: Mit zunehmender Entfernung vom Wohnort - Auslandsaufenthalte ausgenommen - nimmt das Viktimisierungsrisiko ab. Menschen in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern tragen ein höheres Risiko als auf dem Land; in den nördlichen und östlichen Bundesländern ist das Opferrisiko höher als in den südlichen.
Innerfamiliäre physische und sexuelle Gewalt hat offenbar ein größeres Ausmaß als in der Öffentlichkeit angenommen. Bedeutsam sind hier vor allem auch die Langzeitfolgen: Gewalt in der Familie kann so durch körperliche und seelische Schäden zum Risikofaktor für eine kriminelle Karriere werden.


== '''Viktimisierungstheorien''' ==
Die Viktimisierungstheorien versuchen die Frage zu beantworten, warum Menschen zu Opfern von Straftaten werden - sie versuchen einen Zusammenhang zwischen Merkmalen des Opfers und dessen Viktimisierungsrisiko herzustellen.
Dafür kommen vor allem drei Ausgangspunkte in Betracht: das '''Opfer selbst''', die '''Beziehungen des Opfers zum Täter''' und die '''Tatsituation'''.
Weitere Ausgangspunkte können '''sozialstrukturelle Bedingungen''' (Machtlosigkeit der Opfer) oder '''kulturelle Einflüsse''' (Zugehörigkeit der Opfer zu einer Minderheit) sein.


e) '''Opferkategorien:'''
===Theorie der erlernten Hilflosigkeit===
Die "Theorie der erlernten Hilflosigkeit" stellt auf einen Zusammenhang zwischen Viktimisierung und langfristigen Lernprozessen des Opfers ab (''Seligman'', 1975):
Die Erfahrung, die Folgen einer Situation nicht vorhersehen und damit beeinflussen zu können, kann passives Verhalten ("erlernte Hilflosigkeit") zur Folge haben.
Wer sich wiederholt oder über einen längeren Zeitraum in einer traumatisierenden, ausweglosen Situation befindet, ist nach der Beendigung dieser Situation oft nicht mehr in der Lage, zu seinem normalen Verhalten zurückzukehren. Sofern die Gefahr einer Viktimisierung durch eine Straftat droht, kann das Opfer dieser nicht ausweichen, weil es nicht gelernt hat, dass es Gefahren erfolgreich abwenden kann.
Diese Theorie kann vornehmlich erklären, warum jemand wiederholt zum Opfer wird oder an einer einmal bestehenden Opferrolle festhält - bietet jedoch keine Erklärung für nur einmaliges oder gelegentliches Opferwerden.


Die Prävalenz gibt lediglich an, wie hoch das statistische Risiko ist, Opfer einer Straftat zu werden.  
===Interaktionistische Theorie===
Die wichtigsten Befunde deutscher Untersuchungen darüber, wie sich dieses Risiko innerhalb der Bevölkerung verteilt, zeigen zusammengefasst folgendes Bild:
Diese Theorie, in der die Viktimisierung als das Ergebnis einer verfehlten Täter-Opfer-Interaktion gesehen wird, knüpft an die Beziehungen des Opfers zum Täter an.
Dabei ist vor allem an solche Fälle zu denken, in denen die Tat eine "Vorgeschichte" hat und sich aus der Beziehung zwischen Täter und Opfer heraus entwickelt oder in denen es infolge einer Situationsverkennung des Täters zur Tat kommt.
Der interaktionistische Ansatz eignet sich nur zur Erklärung von Kontaktdelikten.
Auf die besondere Beziehung zwischen Opfer und Täter beziehen sich auch Theorien, die das Tatgeschehen auf eine Mitursächlichkeit des Opfers ("Opferpräzipitation"). Das Opfer wird dabei nicht nur als passiv erduldendes Objekt gesehen, sondern als Subjekt, das einen aktiven Beitrag zur Entstehung und Entwicklung der Tat leistet.
In einer Untersuchung über Tötungsdelikte wurde festgestellt, dass in 26% der Fälle der letztlich Getötete als erster Gewalt (Schläge oder Einsatz einer gefährlichen Waffe) angewandt hatte.


1. Das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, variiert mit dem Alter:
Diese älteren Erklärungsansätze sind aber problematisch, weil hier die Mitursächlichkeit des Opfers leicht als Mitschuld erscheinen kann; der falsche Gedanke des "blaming the victim" ("selbst Schuld") wird begünstigt.


Jugendliche und Heranwachsende tragen ein deutlich größeres Risiko als ältere Menschen - besonders bei den Kontaktdelikten (Körperverletzung, Raub, sexuelle Belästigung).
===Situationsorientierte Ansätze===
Diese Ansätze stellen auf die soziale Situation ab, in denen Menschen zu Opfern werden.
Das Viktimisierungsrisiko ist hier die Folge der Wahrscheinlichkeit, sich zu bestimmten Zeiten unter bestimmten Umständen an bestimmten Orten aufzuhalten und auf tatgeneigte/nicht tatgeneigte Menschen zu treffen. Hervorzuheben sind zwei eng benachbarte Konzepte:


2. Das Geschlecht ist im Zusammenhang mit dem Opferrisiko von untergeordneter Bedeutung:
* Das '''Lebensstil-Konzept''' (englisch: "lifestyle concept"): Es erklärt das unterschiedliche Viktimisierungsrisiko als Folge des unterschiedlichen Lebensstils von Opfern im Vergleich zu Nicht-Opfern, wobei der Lebensstil durch das berufliche und private Verhalten - beispielsweise ob man zu bestimmten Zeiten einen als riskant bekannten Ort aufsucht oder nicht - geprägt wird. Der Lebensstil bestimmt das Ausmaß, mit dem man sich bestimmten Risiken aussetzt, und die Wahrscheinlichkeit, mit der man auf tatgeneigte Menschen trifft.
* Das '''Routineaktivitäten-Konzept''' (englisch: "routine activity approach"): Es erklärt das Viktimisierungsrisiko als Konsequenz eines in gewissem Maße ritualisierten Alltagsverhaltens ("Routineaktivitäten"), das die Gelegenheit zur Begehung von Straftaten beeinflusst. Von einer das Viktimisierungsrisiko erhöhenden Gelegenheit wird dann ausgegangen, wenn drei Faktoren zusammentreffen: Es muss eine Person geben, die zur Begehung einer Straftat bereit ist (englisch: "motivated offender"), das potentielle Opfer oder bestimmte Gegenstände müssen für den potentiellen Täter einen materiellen oder symbolischen Wert haben ("availability of suitable targets") und ein Schützender fehlen ("absence of a capable guardian").


Männer sind stärker von körperlicher Gewalt, Frauen stärker von Sexualdelikten betroffen.  
Gegen die Erklärungsansätze der beiden Theorien spricht, dass es häufig auch und gerade dann zu Straftaten kommt, wenn sich ein potentielles Opfer außerhalb üblichen Verhaltensroutinen aufhält und damit leichter in Situationen gerät, in denen es sich unsicherer fühlt und keine ausreichenden Schutzmechanismen zur Verfügung stehen.             Auch eine Viktimisierung im sozialen Nahbereich kann mit "Routineaktivitäten" kaum in Verbindung gebracht werden.       Sinnvoll ist dagegen der Hinweis auf die situativen Bedingungen, also auf die Attraktivität des potentiellen Tatziels und das Fehlen wirksamen Schutzes - hierin liegt ein wichtiger Ausgangspunkt für die Entwicklung von Präventionsstrategien.
Bei den übrigen Delikten ist das Opferrisiko für beide Geschlechter jedoch in etwa gleich groß.


3. Bei "Kontaktdelikten" ist der Familienstand von Bedeutung:
===Tatbegünstigende Personeneigenschaften===
'''Körperliche''' oder '''psychische Eigenschaften''' können - aufgrund geringerer Abwehrfähigkeiten - eine Opferdisposition im Sinne einer erhöhten Attraktivität für potentielle Täter begründen. Dieser Umstand ist vor allem bei folgenden Deliktsformen wichtig: Die Eigenschaft "erkennbarer Ausländer" für rassistisch motivierte Gewalttaten, die Eigenschaft "alter Mensch" für Raub- und Betrugstaten und für Trickdiebstähle, die Eigenschaft "Kind/Jugendlicher" oder "Frau" für Gewalt- und Sexualdelikte.


Alleinstehende sind bei Kontaktdelikten (hier findet ein Kontakt zwischen Täter und Opfer statt, bspw. Körperverletzung) deutlich über-, Paare/Verheiratete unterrepräsentiert.
Bei den übrigen Delikten spielt der Familienstand offenbar keine entscheidende Rolle.


4. Bei Nicht-Gewalttaten (insbesondere Diebstahl) stehen Haushaltsgröße und -einkommen in Zusammenhang mit dem Opferrisiko:
== '''Das Opfer nach der Tat''' ==


Haushalte mit drei oder mehr Personen und höherem Einkommen werden häufiger Opfer als kleine Haushalte/Haushalte mit geringem Einkommen.
Im Mittelpunkt stehen hier die Tatfolgen für das Opfer sowie dessen Interessen und Bedürfnisse nach der Tat.
Wichtig ist die Reaktion des nahen sozialen Umfeldes (Familie, Freunde, Arbeitskollegen) auf das Tatgeschehen: Ob und inwieweit es dem Opfer bei der Bewältigung der Tatfolgen Hilfe bietet - oder durch Desinteresse oder übertriebene Dramatisierung die Verarbeitung sogar erschwert.
Es besteht die Gefahr, dass das bereits durch die Tat selbst (erste, "'''primäre Viktimisierung'''") geschädigte Opfer durch unangemessene Reaktionen der Umwelt weitere Schädigungen erleidet (zweite, "'''sekundäre Viktimisierung'''").


5. Menschen werden überwiegend an ihrem Wohnort - zu Hause/in der näheren Umgebung - Opfer:
Dabei ist nicht nicht nur das nahe soziale Umfeld, sondern auch die Berichterstattung in den Medien und die Position des Opfers im Strafverfahren von Bedeutung - vor allem die Art und Weise, in der Polizei und Justiz mit dem Opfer umgehen, kann hinsichtlich einer späteren psychischen Belastung entscheidend sein - durch Fehler kann es hier zu einer dritten, der "'''tertiären Viktimisierung'''" kommen.


Mit zunehmender Entfernung vom Wohnort nimmt das Viktimisierungsrisiko ab.
Die Stellung des Opfers im Strafverfahren wurde mit dem '''1.''' und '''2. Opferschutzgesetz''' (1986/2008), dem '''Zeugenschutzgesetz''' (1998) und dem '''Opferrechtsreformgesetz''' (2004) erheblich verbessert.  
Diebstahlsdelikte und Raubtaten werden allerdings häufig auch im Ausland (z. B. im Urlaub oder auf der Geschäftsreise) begangen.
Auch das '''Opferentschädigungsgesetz''' (1976/1985), die '''Förderung der Wiedergutmachung im Strafverfahren''' durch Änderung des JGG (1990), das '''Gesetz zum Täter-Opfer-Ausgleich''' (1999) sowie das zivilrechtliche '''Gewaltschutzgesetz''' (2001) haben deutlich zur Verbesserung der Position des Opfers - insbesondere in Form von Beistandsmöglichkeiten durch Vertrauenspersonen und Zeugenanwalt sowie die Möglichkeit der Nebenklagevertretung - beigetragen.
Menschen in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern tragen ein höheres Risiko als auf dem Land.  
In den nördlichen und östlichen Bundesländern ist das Opferrisiko wiederum höher als in den südlichen.


===Tatfolgen für das Opfer===
Jedes Opfer wird durch die Tat unterschiedlich belastet und geht mit deren Folgen unterschiedlich um.
Eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der Tat scheint dem Umstand zuzukommen, ob zwischen Täter und Opfer vor der Tat eine '''Bekanntschaft''' mit einer '''Vertrauensbeziehung''' bestand - hier wird das Opfer durch die Tat oft in seinem Urvertrauen in die Zuverlässigkeit sozialer Beziehungen erschüttert.
Darüber hinaus spielen Persönlichkeitseigenschaften wie das '''Selbstwertgefühl''', aber auch '''Unterstützung''' im sozialen Umfeld oder durch die institutionalisierten Formen der Opferhilfe (Opferschutzorganisation "Weißer Ring"; Frauenhaus/-notruf) eine erhebliche Rolle.


Eigentums- und Vermögensdelikte haben typischerweise andere Folgen als Gewalt- und Sexualdelikte.
Dabei ist schon der juristisch unzweifelhaft den Eigentumsdelikten zuzuordnende Einbruchsdiebstahls aus viktimologischem Blickwinkel kein eindeutiges Eigentumsdelikt mehr - sondern er liegt, wegen des Eindringens des Täters in die Privat- und Intimsphäre, an der Grenze zu den Gewaltdelikten.
So gaben nach einem Einbruch ca. 30% der Befragten an, die Tat habe nicht zu materiellen, sondern vor allem zu seelischen Schäden geführt.


== '''Viktimisierungstheorien:''' ==
Andererseits sind nicht alle Gewaltdelikte gleich: Bei den sog. '''Kontaktdelikten''' etwa kann das Spektrum von einer harmlosen Auseinandersetzung bis hin zur lebensgefährlichen Körperverletzung reichen. Knapp 30% der von Kontaktdelikten Betroffenen sagten, die Tat habe zu keinem Schaden geführt - dies deutet darauf hin, dass die Konfrontation mit dem Täter nicht unbedingt als schädigend empfunden wird.


Wenn man nicht auf die Art des Schadens, sondern auf das '''Schwereempfinden''' abstellt, ergibt sich folgendes Bild:
Die Viktimisierungstheorien versuchen die Frage zu beantworten, warum Menschen zu Opfern von Straftaten werden - sie versuchen einen Zusammenhang zwischen Merkmalen des Opfers und dessen Viktimisierungsrisiko herzustellen.
Etwas 75% der Opfer von Kontakt- und Einbruchsdelikten erwähnten hier eine subjektive Beeinträchtigung - während sich nur knapp 50% der Opfer von Nicht-Kontakttaten durch die Tat beeinträchtigt fühlten.
Dafür kommen vor allem drei Ausgangspunkte in Betracht: das Opfer selbst, die Beziehungen des Opfers zum Täter und die Tatsituation.
Weitere Ausgangspunkte können sozialstrukturelle Bedingungen (Machtlosigkeit der Opfer) oder kulturelle Einflüsse (Zugehörigkeit der Opfer zu einer Minderheit) sein.


a) '''Theorie der erlernten Hilflosigkeit:'''
Die weitere Aufschlüsselung zeigte, dass das Schwereempfinden nicht so sehr von der Art des Delikts oder einem Kontakt mit dem Täter abhängt - sondern davon, ob das Opfer den Täter vor der Tat bereits '''kannte'''.
War dies der Fall, so schilderten 83,7% die Tat als "belastend", darunter überwiegend sogar "sehr belastend". Bestand '''keine Vorbeziehung''', war der Anteil derjenigen, die die Tat "belastend" empfanden, mit 54,9% am geringsten. (Daten aus einer Studie von ''Kilchling'', 1995)


Eine Theorie, die auf einen Zusammenhang zwischen Viktimisierung und langfristigen Lernprozessen des Opfers abstellt, ist die "Theorie der erlernten Hilflosigkeit" (1975 entwickelt von Martin Seligman):
Bei den psychischen Schäden muss zwischen kurz- und langfristigen Folgen unterschieden werden:  
Die Erfahrung, die Folgen einer Situation nicht vorhersehen und damit beeinflussen zu können, kann passives Verhalten ("erlernte Hilflosigkeit") zur Folge haben.  
Zu den kurzfristigen, bis zu einigen Wochen anhaltenden Schäden können psychosomatische Beschwerden, Selbstvorwürfe und Angst gehören.  
Wer sich wiederholt oder über einen längeren Zeitraum in einer traumatisierenden, ausweglosen Situation befindet, ist nach der Beendigung dieser Situation oft nicht mehr in der Lage, zu seinem normalen Verhalten zurückzukehren. Sofern die Gefahr einer Viktimisierung durch eine Straftat droht, kann er dieser nicht ausweichen, weil er nicht gelernt hat, dass er Gefahren erfolgreich abwenden kann.
Zu den langfristigen Störungen zählen solche, die durch das wiederholte Durchleben des Tatgeschehens, Schlafstörungen, Alpträume und Veränderungen im Sozialverhalten gekennzeichnet sind.
Diese Theorie kann vornehmlich erklären, warum jemand wiederholt zum Opfer wird oder an einer einmal bestehenden Opferrolle festhält - sie gibt jedoch keine Erklärung dafür, warum jemand nur einmalig oder  gelegentlich Opfer wird.
Es kann vorkommen, dass das Opfer die Folgen der Viktimisierung nicht mehr allein und dauerhaft bewältigen kann - man spricht dann von einer "'''posttraumatischer Belastungsstörung'''" (englisch: "post-traumatic stress disorder").


Eine Opfererfahrung kann aber in seltenen Fällen sogar '''positive Wirkungen''' haben: Der mit der Viktimisierung verbundene Einschnitt in das bisherige Leben kann für das Opfer auch mit einem "Neubeginn" unter veränderten Vorzeichen verbunden sein, der langfristig als positiv erlebt wird (Trennung von Beziehungen, neue Kontakte).


b) '''Interaktionistische Theorie:'''
===Interessen und Bedürfnisse des Opfers nach der Tat===
Ebenso wie die Tatfolgen sind auch die Interessen/Bedürfnisse des Opfers nach der Tat individuell sehr unterschiedlich. Die meisten Opfer wollen nach der Tat vor allem über das Geschehen reden und benötigen einen verständnisvollen Zuhörer.
Weitere typische Bedürfnisse, abhängig von der Art/Schwere des Delikts, sind:


Eine Theorie, die an die Beziehungen des Opfers zum Täter anknüpft, ist die "interaktionistische Theorie": Sie sieht Viktimisierung als das Ergebnis einer verfehlten Täter-Opfer-Interaktion.
* '''Sicherheit''' - keine neue Tat.
Dabei ist vor allem an solche Fälle zu denken, in denen die Tat eine "Vorgeschichte" hat und sich aus der Beziehung zwischen Täter und Opfer heraus entwickelt oder in denen es infolge einer Situationsverkennung des Täters zur Tat kommt.
Der interaktionistische Ansatz eignet sich nur zur Erklärung von Kontaktdelikten.
Auf die besondere Beziehung zwischen Opfer und Täter beziehen sich auch Theorien, die das Tatgeschehen auf eine Mitursächlichkeit des Opfers ("Opferpräzipitation"). Das Opfer wird dabei nicht nur als passiv erduldendes Objekt gesehen, sondern als Subjekt, das einen aktiven Beitrag zur Entstehung und Entwicklung der Tat leistet.
In einer Untersuchung über Tötungsdelikte wurde festgestellt, dass in 26% der Fälle der letztlich Getötete als erster Gewalt (Schläge oder Einsatz einer gefährlichen Waffe) angewandt hatte (Walfgang1958).
In einer Untersuchung über das Ausmaß der Opferbeteiligung bei Vergewaltigungen wurde festgestellt, dass die Frauen in 19% der Fälle der sexuellen Handlung zunächst zugestimmt oder zumindest durch Sprache und Gestik provoziert hatten (Amir 1971).


Diese älteren Erklärungsansätze sind auch deshalb problematisch, weil hier die Mitursächlichkeit des Opfers leicht als Mitschuld erscheinen kann; der falsche Gedanke des "blaming the victim" ("selbst Schuld") wird begünstigt.
* '''Keine Vorwürfe''' wegen der Tat; die eigene Darstellung soll nicht in Zweifel gezogen werden.


* '''Materieller Ersatz''' für erlittene Schäden.


c) '''Situationsorientierte Ansätze:'''
* '''Bestrafung''' des Täters (vor allem bei gravierenden körperlichen/seelischen Schäden).


Diese Ansätze stellen auf die soziale Situation ab, aus der heraus Menschen zu Opfern werden.
* '''Vergessen''' der Tat, '''Rückkehr zur Normalität'''.
Das Viktimisierungsrisiko ist hier die Folge der Wahrscheinlichkeit, mit der sich Menschen zu bestimmten Zeiten unter bestimmten Umständen an bestimmten Orten aufhalten und auf tatgeneigte/nicht tatgeneigte Menschen treffen.  
Hervorzuheben sind zwei eng benachbarte Konzepte:


- Das Lebensstil-Konzept (englisch: "lifestyle concept") erklärt das unterschiedliche Viktimisierungsrisiko als Folge des unterschiedlichen Lebensstils von Opfern im Vergleich zu Nicht-Opfern, wobei der Lebensstil durch das berufliche und private Verhalten - beispielsweise ob man zu bestimmten Zeiten einen als riskant bekannten Ort aufsucht oder nicht - geprägt wird.
* '''Informationen''' zum Fortgang des Verfahrens durch Polizei und Justiz.
Der Lebensstil hat Auswirkungen auf das Ausmaß, mit dem man sich bestimmten Risiken aussetzt, und auf die Wahrscheinlichkeit, mit der man auf tatgeneigte Menschen trifft.
- Das Routineaktivitäten-Konzept (englisch: "routine activity approach") erklärt das Viktimisierungsrisiko als Konsequenz eines in gewissem Maße ritualisierten Alltagsverhaltens ("Routineaktivitäten"), das die Gelegenheit zur Begehung von Straftaten beeinflussen.
Von einer das Viktimisierungsrisiko erhöhenden Gelegenheit wird dann ausgegangen, wenn drei Faktoren zusammentreffen: Es muss eine Person geben, die zur Begehung einer Straftat bereit ist (englisch: "motivated offender"), das potentielle Opfer oder bestimmte Gegenstände müssen für den potentiellen Täter einen materiellen oder symbolischen Wert haben ("availability of suitable targets") und ein Schutz,  etwa schutzbereite Dritte, fehlen ("absence of a capable guardian").
Gegen die Erklärungsansätze der beiden Theorien spricht, dass es häufig auch und gerade dann zu Straftaten kommt, wenn sich ein potentielles Opfer außerhalb üblichen Verhaltensroutinen aufhält und damit leichter in Situationen gerät, in denen keine ausreichenden Schutzmechanismen zur Verfügung stehen.             Auch eine Viktimisierung im sozialen Nahbereich kann mit "Routineaktivitäten" kaum in Verbindung gebracht werden.       Sinnvoll ist dagegen der Hinweis auf die situativen Bedingungen, also auf die Attraktivität des potentiellen Tatziels und das Fehlen wirksamen Schutzes - hierin liegt ein wichtiger Ausgangspunkt für die Entwicklung von Präventionsstrategien.


* '''Beratung'''/'''Unterstützung''' von Seiten Dritter.


d) '''Tatbegünstigende Körpermerkmale:'''
Je weniger sich das Opfer durch die Tat beeinträchtigt fühlt, desto stärker ist sein Interesse am Ersatz des materiellen Schadens.
Je stärker es sich beeinträchtigt fühlt, desto stärker ist sein Wunsch nach Bestrafung des Täters.


Körperliche oder psychische Eigenschaften können - aufgrund geringerer Abwehrfähigkeiten - eine Opferdisposition im Sinne einer erhöhten Attraktivität für potentielle Täter begründen. Dieser Umstand ist vor allem bei bestimmten Deliktsformen wichtig: Die Eigenschaft "erkennbarer Ausländer" für rassistisch motivierte Gewalttaten, die Eigenschaft "alter Mensch" für Raub- und Betrugstaten und für Trickdiebstähle, die Eigenschaft "Kind/Jugendlicher" oder "Frau" für Gewalt- und Sexualdelikte.     
Nach einem Fahr- und Motorraddiebstahl gaben gut 60% als wichtigsten Wunsch den Ersatz des materiellen Schadens an. Anders stellt sich die Bedürfnislage bei den Kontaktdelikten dar: Fast gleichrangig standen im Vordergrund die Wünsche, die Tat zu vergessen (31,8% bei allen Kontaktdelikten; bei Sexualtaten sogar 66,7%) und den Täter zu bestrafen (28,4% bei allen Kontaktdelikten; bei tätlichem Angriff 43,8%). (''Kilchling'')
Für die Täterseite müssen noch die fünf "Neutralisierungstechniken" nach Sykes/Matza (Leugnen der eigenen Verantwortlichkeit für die Tat / Leugnen eines Schadens / Leugnen, jemanden zum Opfer gemacht zu haben / Herabwürdigung der Strafverfolger / Berufung auf höhere Wertmaßstäbe) genannt werden, bei deren Anwendung durch den potentiellen Täter sich die Wahrscheinlichkeit einer Viktimisierung ebenfalls erhöht.


===Zusammenarbeit des Opfers mit den Strafverfolgungsbehörden===
Wichtig ist, '''ob''' - und wenn ja, '''warum'''  - sich ein Opfer nach der Tat an die Strafverfolgungsorgane wendet. Es ist festzustellen, dass sich das Anzeigeverhalten im hohen Maße an '''Kosten-Nutzen-Überlegungen''' orientiert. Die meisten Opfer nehmen von einer Strafanzeige Abstand, wenn sie denken, dass die mit einem Strafverfahren verbundenen Belastungen (wiederholte Zeugenaussagen bei Polizei und Gericht) in keinem lohnenden Verhältnis zum möglichen Ergebnis (Sicherheit, Schadensersatz, Bestrafung) stehen.
Auch Opfer, die unmittelbar nach der Tat ein erhebliches Verlangen nach einer Bestrafung des Täters haben, sehen deshalb häufig von einer Anzeige ab.


Bei den '''Nicht-Kontaktdelikten''', bei denen das Interesse nach wirtschaftlicher Wiedergutmachung im Vordergrund stand, wurde von knapp zwei Dritteln der Befragten (62,6%) Anzeige erstattet (bei Einbruch sogar 76,9%). Hier spielt sicher eine große Rolle, dass die Versicherungen meistens nur dann Ersatz leisten, wenn zuvor auch eine Anzeige erstattet wurde.                    


Bei den '''Kontaktdelikten''' wurde nur in knapp einem Drittel der Fälle (31,8%) Anzeige erstattet, wobei die Quote bei Sexualdelikten auffällig niedrig lag (13,3%). Gründe für die Nichtanzeige waren der Bagatellcharakter der Tat und Resignation ("Polizei kann ja doch nichts machen"). Für die meisten Opfer von Kontaktdelikten (54,5%) war die Vorstellung, im Rahmen einer Gerichtsverhandlung einen öffentlichen Zeugenauftritt haben zu können, unangenehm. (''Kilchling'')


== Das Opfer nach der Tat: ==
Weiter ist die Anzeigenbereitschaft vom '''Alter''' des Opfers abhängig: Bei älteren Opfern ist sie insgesamt höher als bei jüngeren, nimmt jedoch ab dem 60. Lebensjahr wieder ab (glockenförmiger Verlauf) - die Anzeigenquote beträgt 40% bei den unter 21-Jährigen, 73,5% bei den 50- bis 59-Jährigen, 61,8% bei den Senioren ab 60 Jahren.


===Viktimisierung als Grundlage späterer Delinquenz===
Kinder, an denen '''Missbrauchs- oder Gewalthandlungen''' verübt oder die '''vernachlässigt''' wurden, treten im späteren Leben häufiger als Straftäter in Erscheinung als Kinder ohne derartige Viktimisierungserfahrungen.
Dieser Zusammenhang scheint unabhängig vom Geschlecht zu sein: Sowohl viktimisierte Jungen als auch Mädchen werden später in erhöhtem Maß auffällig, wobei die Prävalenzrate der Frauen - wie bei kriminellem Verhalten allgemein - deutlich geringer ist als die der Männer.
Viktimisierungserfahrungen begründen also lediglich einen Risikofaktor für Kriminalität, und nicht jede Gewaltanwendung/Misshandlung im Kindesalter führt später zu kriminellem Verhalten.
Vermutlich wird die Art der Reaktion nicht nur durch die '''Qualität''' (Art, Schwere, Häufigkeit,  Dauer), sondern auch durch die '''Disposition''' sowie durch die '''Verfügbarkeit hilfreicher sozialer Beziehungen''' bestimmt.
Delinquenz als Reaktion auf erlittene Traumata ist somit zwar möglich, aber keinesfalls sicher.


Im Mittelpunkt stehen hier die Tatfolgen für das Opfer sowie seine Interessen und Bedürfnisse nach der Tat.
Wichtig ist die Reaktion des nahen sozialen Umfeldes (Familie, Freunde, Arbeitskollegen) auf das Tatgeschehen: Ob und inwieweit es dem Opfer bei der Bewältigung der Tatfolgen Hilfe und Unterstützung leistet - oder gar durch Desinteresse oder übertriebene Dramatisierung die Verarbeitung erschwert.
Es besteht die Gefahr, dass das bereits durch die Tat selbst (erste, "primäre Viktimisierung") geschädigte Opfer durch unangemessene Reaktionen der Umwelt weitere Schädigungen erleidet (zweite, "sekundäre Viktimisierung").


Dabei ist nicht nicht nur das nahe soziale Umfeld, sondern auch die Berichterstattung in den Medien und die Position des Opfers im Strafverfahren von Bedeutung - vor allem die Art und Weise, in der Polizei und Justiz mit dem Opfer umgehen, kann im Einzelfall hinsichtlich einer späteren psychischen Belastung entscheidend sein - werden hier Fehler gemacht, kann es zu einer dritten, der "tertiären Viktimisierung" kommen.
=='''Web-Links'''==


Die Stellung des Opfers im Strafverfahren wurde mit dem 1. und 2. Opferschutzgesetz (1986/2008), dem Zeugenschutzgesetz (1998) und dem Opferrechtsreformgesetz (2004) erheblich verbessert.  
'''World Society of Victimology:'''
Auch das Opferentschädigungsgesetz (1976/1985), die Förderung der Wiedergutmachung im Strafverfahren durch Änderung des JGG (1990), das Gesetz zum Täter-Opfer-Ausgleich (1999) sowie das zivilrechtliche Gewaltschutzgesetz (2001) haben deutlich zur Verbesserung der Position des Opfers beigetragen.
[http://www.worldsocietyofvictimology.org]


'''National Criminal Justice Reference Service (NCJRS) - Victims of Crime:'''
[http://www.ncrjs.gov]


a) '''Die Tatfolgen für das Opfer:'''
'''International Victimology Institute Tilburg:'''
[http://www.tilburguniversity.nl/intervict]


Jedes Opfer wird durch die Tat unterschiedlich belastet und geht mit deren Folgen unterschiedlich um.  
'''National Crime Victims Research and Treatment Center:'''
Eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der Tat scheint dem Umstand zuzukommen, ob zwischen Täter und Opfer vor der Tat eine Bekanntschaft mit einer Vertrauensbeziehung bestand - hier wird das Opfer durch die Tat oft in seinem Urvertrauen in die Zuverlässigkeit sozialer Beziehungen erschüttert.  
[http://www.musc.edu/cvc]
Darüber hinaus spielen Persönlichkeitseigenschaften wie das Selbstwertgefühl, aber auch Unterstützung im sozialen Umfeld oder durch die institutionalisierten Formen der Opferhilfe (Opferschutzorganisation "Weißer Ring"; Frauenhaus/-notruf) eine erhebliche Rolle.


Eigentums- und Vermögensdelikte haben typischerweise andere Folgen als Gewalt- und Sexualdelikte.
'''International Victimology Website:'''
Dabei ist schon der juristisch unzweifelhaft den Eigentumsdelikten zuzuordnende Einbruchsdiebstahls aus viktimologischem Blickwinkel kein eindeutiges Eigentumsdelikt mehr - sondern er liegt, wegen des Eindringens des Täters in die Privat- und Intimsphäre, an der Grenze zu den Gewaltdelikten.
[http://www.victimology.nl]
Nach einem Einbruch gaben beispielsweise ca. 30% der Befragten an, die Tat habe nicht zu materiellen, sondern vor allem zu seelischen Schäden geführt (Kilchling 1995).


Andererseits sind nicht alle Gewaltdelikte gleich: Bei den sog. Kontaktdelikten etwa kann das Spektrum von einer harmlosen Auseinandersetzung auf dem Schulhof bis hin zur lebensgefährlichen Körperverletzung reichen.
'''International Crime Victims Surveys:'''
So erklärten knapp 30% der von Kontaktdelikten Betroffenen, die Tat habe zu gar keinem Schaden geführt - dies deutet darauf hin, dass die  Konfrontation mit dem Täter nicht zwingend als schädigend empfunden werden muss (Studie von Kilchling).
[http://www.unicri.it/wwd/analysis/icvs/index.php]


Wenn man nicht auf die Art des Schadens, sondern auf das Schwereempfinden abstellt, ergibt sich folgendes Bild:  
'''Prometheus - Literaturdatenbank zu Trauma und Gewalt:'''
Etwas 75% der Opfer von Kontakt- und Einbruchsdelikten erwähnten hier eine subjektive Beeinträchtigung - während sich nur knapp 50% der Opfer von Nicht-Kontakttaten durch die Tat beeinträchtigt fühlten.
[http://www.prometheus-trauma.de]


Die weitere Aufschlüsselung zeigte, dass das Schwereempfinden nicht so sehr von der Art des Delikts oder  einem Kontakt mit dem Täter abhängt - sondern davon, ob das Opfer den Täter vor der Tat bereits kannte.
'''Psychotraumatologie der Psychosomatischen Universitätsklinik Heidelberg:'''
War dies der Fall, so schilderten 83,7% die Tat als "belastend", darunter überwiegend sogar "sehr belastend".
[http://www.opferforschung.de]
Waren Opfer und Täter nur flüchtig miteinander bekannt, reduzierte sich der Anteil auf 71,4%, wobei nur ein geringer Teil die Tat noch als "sehr belastend" einstufte.  
Bestand keine Vorbeziehung, war der Anteil derjenigen, die die Tat "belastend" empfanden, am geringsten (54,9%).


Bei den psychischen Schäden muss zwischen kurz- und langfristigen Folgen unterschieden werden:  
'''Statistisches Bundesamt Deutschland:'''
Zu den kurzfristigen, bis zu einigen Wochen anhaltenden Schäden können psychosomatische Beschwerden, Selbstvorwürfe und Angst gehören.  
[http://www.destatis.de]
Zu den langfristigen Störungen zählen solche, die durch das wiederholte Durchleben des Tatgeschehens, Schlafstörungen, Alpträume und Veränderungen im Sozialverhalten gekennzeichnet sind.
Es kann vorkommen, dass das Opfer die Folgen der Viktimisierung nicht mehr allein und dauerhaft bewältigen kann - man spricht dann von einer "posttraumatischer Belastungsstörung" (englisch: "post-traumatic stress disorder").


Eine Opfererfahrung kann in seltenen Fällen sogar positive Wirkungen haben: Der mit der Viktimisierung verbundene Einschnitt in das bisherige Leben kann für das Opfer auch mit einem "Neubeginn" unter veränderten Vorzeichen verbunden sein, der langfristig als positiv erlebt wird (Trennung von Beziehungen, neue Kontakte). Erste Befunde deuten allerdings darauf hin, dass es vor allem auch von der Art des Delikts abhängt, ob so ein Effekt eintreten kann.
'''Bundesministerium für Justiz:'''
[http://www.bmj.de]


'''Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:'''
[http://www.bmfsfj.de]


b) '''Interessen und Bedürfnisse des Opfers nach der Tat:'''
'''Polizeiliche Kriminalstatistik:'''
[http://www.bka.de/pks]


Ebenso wie die Tatfolgen sind auch die Interessen/Bedürfnisse des Opfers nach der Tat individuell sehr unterschiedlich. Die meisten Opfer wollen nach der Tat vor allem über das Geschehen reden und benötigen einen verständnisvollen Zuhörer.  
'''Kriminologisches Forschungsinstitut Nidersachsen e. V.:'''
Weitere typische Bedürfnisse, abhängig von der Art/Schwere des Delikts, sind:
[http://www.kfn.de]


- Sicherheit - die Tat soll sich nie wiederholen.
'''Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht:'''
- Keine Vorwürfe; die eigene Darstellung soll nicht in Zweifel gezogen werden.
[http://www.mpicc.de/ww/de/pub/home.cfm]  und [http://www.mpicc.de/ww/de/pub/home/kilchling.htm] (Dr. Michael Kilching)
- Materieller Ersatz für erlittene Schäden.
- Bestrafung des Täters (vor allem bei gravierenden körperlichen/seelischen Schäden).
- Vergessen der Tat und Rückkehr zur Normalität.
- Informationen über den Fortgang des Verfahrens durch Polizei und Justiz.
- Beratung und Unterstützung von Seiten Dritter bei Krisen.


Je weniger sich das Opfer durch die Tat beeinträchtigt fühlt, desto stärker ist sein Interesse am Ersatz des materiellen Schadens.
'''Opferschutzverbände:'''
Je stärker es sich beeinträchtigt fühlt, desto stärker ist sein Wunsch nach Bestrafung des Täters.
[http://www.weisser-ring.de]  und  [http://www.victimsupport.org]


Nach einem Fahr- und Motorraddiebstahl gaben gut 60% als wichtigsten Wunsch den Ersatz des materiellen Schadens an.
'''Online-Lexika:'''
Nach einem Einbruch stand der Wunsch nach Schadensersatz (36,8%) ebenfalls an erster Stelle. Daneben gab es hier jedoch einen erheblichen Anteil (26,5%) von Personen, für die es am wichtigsten war, bei den polizeilichen Ermittlungen gegen den Täter behilflich zu sein.  
[http://de.wikipedia.org/wiki/Viktimologie]  und  [http://www.krimlex.de]
Anders stellt sich die Bedürfnislage bei den Kontaktdelikten dar: Fast gleichrangig standen im Vordergrund die Wünsche, die Tat zu vergessen (31,8% bei allen Kontaktdelikten; bei Sexualtaten sogar 66,7%) und den Täter zu bestrafen (28,4% bei allen Kontaktdelikten; bei tätlichem Angriff 43,8%).  
Nur bei den Kontaktdelikten gab es darüber hinaus eine vergleichsweise hohe Anzahl von Personen (17,0%), die sich persönliche Hilfe bei der Bewältigung wünschten (Daten aus der Studie von Kilchling).


=='''Vertiefende Literatur'''==


c) '''Zusammenarbeit von Opfer und Strafverfolgungsbehörden:'''
'''M. Kilching:'''  
"Empirische Erkenntnisse aus Kriminologie und Viktimologie zur Lage von Opfern" - in: DVJJ-Journal 2002 (14-23)


Wichtig ist, ob - und wenn ja, warum  - sich ein Opfer nach der Tat an die Strafverfolgungsorgane wendet. Es ist festzustellen, dass sich das Anzeigeverhalten im hohen Maße an Kosten-Nutzen-Überlegungen orientiert. Die meisten Opfer nehmen von einer Strafanzeige Abstand, wenn sie denken, dass die mit einem Strafverfahren verbundenen Belastungen (wiederholte Zeugenaussagen bei Polizei und Gericht) in keinem lohnenden Verhältnis zu den möglichen Ergebnis (Sicherheit, Schadensersatz, Bestrafung) stehen.
'''H.-J. Schneider:'''
Auch Opfer, die noch unmittelbar nach der Tat ein erhebliches Verlangen nach einer Bestrafung des Täters haben, sehen deshalb häufig von einer Anzeige ab.
"Verbrechensopferforschung, -politik und -hilfe: Fortschritte und Defizite in einem halben Jahrhundert" - in: MschKrim (Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform) 89, 2006 (389-404)
Bei den Nicht-Kontaktdelikten, bei denen das Interesse nach wirtschaftlicher Wiedergutmachung im Vordergrund stand, wurde von knapp zwei Dritteln der Befragten (62,6%) Anzeige erstattet (bei Einbruch sogar 76,9%). Hier spielt sicher eine große Rolle, dass die Versicherungen meistens nur dann Ersatz leisten, wenn zuvor auch eine Anzeige erstattet wurde.                     Anders bei den Kontaktdelikten: Hier wurde nur in knapp einem Drittel der Fälle (31,8%) Anzeige erstattet, wobei die Quote bei Sexualdelikten auffällig niedrig lag (13,3%). Gründe für die Nichtanzeige waren der Bagatellcharakter der Tat, Resignation ("Polizei kann ja doch nichts machen"), und - in geringem Umfang - die Angst vor Bedrohung durch den Täter.
Daneben spielt auch eine gewisse "Schwellenangst" gegenüber der Justiz eine Rolle. Für die meisten Opfer von Kontaktdelikten (54,5%) war die Vorstellung, im Rahmen einer Gerichtsverhandlung einen öffentlichen Zeugenauftritt haben zu können, unangenehm (Daten aus der Studie von Kilchling).


d) '''Viktimisierung als Ursache späterer Delinquenz:'''
"Internationales Handbuch der Kriminologie" - Bd. I/II (Grundlagen/besondere Probleme der Kriminologie); 2007 und 2009


Kinder, an denen Missbrauchs- oder Gewalthandlungen verübt oder die vernachlässigt wurden, dürften im weiteren Verlauf ihrer Entwicklung häufiger als Straftäter in Erscheinung treten als Kinder, die keine derartigen Viktimisierungserfahrungen gemacht haben.
'''Raithel/Mansel:'''
Dieser Zusammenhang scheint unabhängig vom Geschlecht zu bestehen: Sowohl viktimisierte Jungen als auch Mädchen werden später in erhöhtem Maß auffällig, wobei die Prävalenzrate der Frauen deutlich geringer ist als die der Männer.
"Kriminalität und Gewalt im Jugendalter - Hell- und Dunkelfeldbefunde im Vergleich"; 2003
Die entsprechenden Viktimisierungserfahrungen begründen also lediglich einen Risikofaktor für Kriminalität, und nicht jede Gewaltanwendung/Misshandlung im Kindesalter führt später zu kriminellem Verhalten.
Vermutlich wird die Art der Reaktion nicht nur durch die Qualität (Art, Schwere, Häufigkeit,  Dauer), sondern auch durch die Disposition sowie durch die Verfügbarkeit hilfreicher sozialer Beziehungen bestimmt.
Delinquenz als Reaktion auf erlittene Traumata ist somit zwar möglich, aber keinesfalls sicher.


Ausdrücke wie "Gewalt schafft Gewalt" legen nahe, dass gewalttätige Eltern zu gewalttätigen Kindern führen. Ein derartiger Zusammenhang ist zwar empirisch nachweisbar, doch es bleibt unklar, ob daneben nicht noch andere Faktoren eine wichtige Rolle spielen.
'''Lamnek:'''
Offenbar lösen Misshandlungen bei den Betroffenen selbst eher keine Lernprozesse aus (im Sinne von: "Gewalt lohnt sich"), sondern sie schwächen vielmehr die Bindungen des Betroffenen an die Gewalt ausübenden Bezugspersonen - womit späteres abweichendes Verhalten ganz allgemein begünstigen wird (siehe kriminologische Lern- und Kontrolltheorien).
"Theorien abweichenden Verhaltens" - Bd. I/II (Klassische/moderne Ansätze); 2007/2008


Vor allem körperliche Misshandlungen können auch durch schwieriges, die Kompensationsfähigkeit der Eltern übersteigendes Verhalten des Kindes zumindest mit begünstigt werden. Sie müssen deshalb immer - wie andere Risikofaktoren auch - in dem von Wechselwirkungen geprägten innerfamiliären Beziehungssystem gesehen werden.
'''Hassemer''':
"Verbrechensopfer - Gesetz und Gerechtigkeit"; 2002

Aktuelle Version vom 27. April 2010, 17:48 Uhr

Der Begriff Viktimisierung wird vor allem in der Kriminologie und der Psychologie, aber auch in den Sozialwissenschaften verwendet. Wörtlich übersetzt bedeutet Viktimisierung "zum Opfer machen" oder "zum Opfer werden" (lateinisch: "victima" = ursprüngliche Bedeutung: Opfertier, aber auch Opfer; englisch: "victim").

Er beschreibt zum einen die unmittelbaren Ursachen, Wirkungen und Folgen einer Straftat für das Opfer (primäre Viktimisierung), zum anderen aber auch die mittelbaren Folgen im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen dem Opfer und seinem sozialen Umfeld (sekundäre Viktimisierung) oder den Instanzen der sozialen Kontrolle (tertiäre Viktimisierung).

Die Viktimisierung ist der zentrale Begriff in der Viktimologie, der "Lehre vom (Verbrechens-) Opfer".


Der Opferbegriff

Unter einem Opfer wird überwiegend eine natürliche Person verstanden, die als Folge eines Verstoßes gegen Strafrechtsnormen einen körperlichen, seelischen oder wirtschaftlichen Schaden erlitten hat. Juristische Personen, die Allgemeinheit oder sogar der Staat können jedoch ebenfalls zum Opfer werden ("Individualopfer" im Gegensatz zum "Kollektivopfer").

Fraglich ist, ob nur diejenigen zu den Opfern gerechnet werden sollen, die als direkte Folge einer Tat einen Schaden erlitten haben, da Tatfolgen auch bei Angehörigen von Opfern auftreten können. Selbst bei Personen, die das Tatgeschehen nur beobachteten, können psychische Beeinträchtigungen ähnlich wie beim Geschädigten auftreten. Auch der Täter selbst kann Opfer werden, etwa durch Notwehr/Nothilfe oder wenn er in Folge seiner Tat (z. B. polizeiliches Handeln) eigene Schäden erleidet.

Dem objektivem Opferbegriff, der auf der Feststellung eines "Betroffensein" durch externe Beobachter beruht, steht der subjektive, sich auf das "Betroffensein" aus Sicht des Opfers beziehende Opferbegriff gegenüber. Für Opferbefragungen wird im allgemeinen der subjektive Opferbegriff bevorzugt.

Für Befragungen wird das "Opfer-ErIebnis" als ein zeitlich begrenztes, unkontrollierbares und aversives, auf andere Personen zurückführbares und (aus Opfersicht) normverletzendes Ereignis definiert . Der Betrug, bei dem das Opfer gerade nicht weiß, dass es getäuscht wird, wird von dieser Definition allerdings ebenso wenig erfasst wie nicht wahrgenommene Viktimisierungen (z. B. bei Kleinkindern, die einen Missbrauch altersbedingt noch nicht als verboten einordnen können) - bloße Empfindlichkeiten oder falsche Normvorstellungen (z. B. bei Sexualdelikten) dagegen werden erfasst.


Das Opfer im Hell- und Dunkelfeld

Das Hellfeld erfasst die den Strafverfolgungsorganen bekannt gewordenen Viktimisierungen. Das Opfer hat zumindest bei der nicht im öffentlichen Raum stattfindenden Kriminalität großen Einfluss darauf, ob die Tat der Polizei/Justiz bekannt wird.

Bei Diebstahl, Betrug, Unterschlagung, Raub und Vergewaltigung gehen etwa 80% aller Strafverfahren auf eine Anzeige des Opfers, aber nur 9-18% auf Anzeigen Dritter und sogar nur 3-6% auf polizeieigene Erkenntnisse zurück. Erstattet das Opfer keine Anzeige, besteht somit eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Polizei keine Kenntnis von der Tat bekommt und erst gar keine Strafverfolgung stattfindet - das Opfer wird deshalb auch als "Torwächter des Strafverfahrens" (englisch: "gatekeeper") bezeichnet.

Die Hellfelddaten geben somit nur einen - durch die individuellen Interessen und Bedürfnisse des Opfers verzerrten - Ausschnitt aller erlebten Viktimisierungen wieder.

Als Quelle für die im Hellfeld erfassten Viktimisierungen steht allein die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) zur Verfügung.

Um die Belastung der einzelnen Alters- und Opfergruppen zu ermitteln, werden Opfergefährdungszahlen (OGZ) berechnet, die die Anzahl der polizeilich registrierten Opfer pro 100.000 Personen der Wohnbevölkerung (incl. Ausländern) angeben. Dabei zeigt sich, dass von Körperverletzungsdelikten - und leicht verringert auch von Raub/räuberischer Erpressung - vor allem männliche Jugendliche und Heranwachsende betroffen sind. Sexualdelikte werden vor allem gegenüber Mädchen und jungen Frauen verübt, mit einem hohen Anteil sexuellen Missbrauchs sechs- bis vierzehnjähriger Mädchen.

Die Opferbelastung ist sowohl im Hell- als auch im Dunkelfeld bei Jugendlichen und Heranwachsenden am höchsten. Erwachsene sind, bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil, deutlich seltener betroffen.

Aus der Dunkelfeldforschung ist ein hohes Viktimisierungsrisiko im sozialen Nahbereich bekannt. Dies jedoch spiegelt sich im Hellfeld nicht wieder - unter den angezeigten Delikten gibt es nur bei der "Misshandlung von Schutzbefohlenen" einen hohen Anteil (ca. 75%) von Taten, bei denen Täter und Opfer verwandt sind. Bei allen anderen Delikten - außer bei Tötungsdelikten (32%) - spielen Verwandte keine besondere Rolle. Dies gilt auch für den Tatbestand des "sexuellen Missbrauchs von Kindern" - die PKS-Verteilung bestätigt damit den Befund der Dunkelfeldforschung, dass Opfer eine Anzeige gegen Täter aus der eigenen Familie scheuen.

Zahlen zur Opferhäufigkeit

Das Viktimisierungsrisiko - also der Höhe des Risikos, Opfer einer Straftat zu werden - wird in Opferbefragungen erhoben. Es lassen sich grundsätzlich zwei Typen von Opferbefragungen unterscheiden: Kriminalitätsmessungen (englisch: crime surveys), bei denen allerdings mehr die Straftat als das Opfer im Mittelpunkt steht, sowie die viktimologischen Fragestellungen (englisch: victim surveys), bei denen die Gewinnung ausführlicher opferbezogener Daten und die möglichst präzise Messung von Viktimisierungen und deren Umstände im Vordergrund steht.

Opferprävalenz

Die wichtigste Kennzahl im Hinblick auf die Opferhäufigkeit ist die Prävalenz (Definition: Anzahl der Menschen aus einer Gruppe definierter Größe, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums Opfer einer kriminellen Handlung werden). Die meisten Menschen werden irgendwann im Laufe ihres Lebens Opfer irgendeiner Straftat - ähnlich wie Tätererfahrungen stellen Opfererfahrungen eine nahezu ubiquitäre (= überall verbreitete) Erscheinung dar.

Am häufigsten wird dabei von eher leichten Delikten berichtet, größtenteils gewaltlose Eigentums- und Vermögensdelikte. Eine bundesweite Befragung (1995/96) von mindestens 16 Jahre alten Personen ergab, dass knapp ein Viertel der Befragten (22,7%) innerhalb des zurückliegenden Jahres Opfer eines dieser Delikte geworden war. Am häufigsten genannt wurden: Beschädigungen an Kraftfahrzeugen (7,3%), Betrug (5,9%) und Fahrraddiebstahl (5,0%). Noch seltener waren Gewalt- und Sexualdelikte: Körperverletzung/Bedrohung (2,8%), Raub (1,4%) und Vergewaltigung/sexueller Angriff (0,6% - es wurden nur natürliche Personen befragt; die sehr häufigen Delikte zum Nachteil juristischer Personen, z. B. Ladendiebstahl, wurden nicht erfasst).

Eine andere, im Jahre 2000 unter Schülern des 9. Jahrgangs durchgeführte Befragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) zeigte eine deutlich höhere Opferprävalenz in der Altersgruppe unter 16 Jahren. Hier gaben ca. 25% der Befragten an, im vergangenen Jahr Opfer eines Gewaltdelikts geworden zu sein - am häufigsten wurden hier genannt: Körperverletzung ohne Waffe (15,2%) und Raub (9,2%).

Jugendliche sind demnach insgesamt gefährdeter als Erwachsene. Zu beachten ist allerdings, dass Opfer- und Täterrollen bei Jugendlichen oftmals ineinander übergehen.

Viktimisierung im sozialen Nahbereich

Bei der Erhebung aussagekräftiger Zahlen muss man insbesondere bei Sexualdelikten und Gewalt in der Familie damit rechnen, dass die Befragten nur wenig offen antworten. Bleiben die Taten deshalb sowohl den Strafverfolgern als auch den Interviewern verborgen, spricht man vom "doppelten Dunkelfeld". Um Ergebnisse zur Opferhäufigkeit auch in "Tabu-Bereichen" zu erhalten wird die sog. "drop off"-Technik - bei der die Befragten die Fragebögen anonymisiert zurückgeben - angewendet. Insbesondere Frauen berichten bei dieser Vorgehensweise sehr viel häufiger über Gewalterfahrungen als beim traditionellen persönlichen Interview ("face to face").

Die nachfolgenden Ergebnisse zeigen, dass insbesondere der soziale Nahbereich für Frauen und Kinder ein erhebliches Risiko bietet - innerfamiliäre physische und sexuelle Gewalt tritt offenbar häufiger auf als in der Öffentlichkeit angenommen.

  • Frauen als Opfer

In einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) von 2004 gaben in Bezug auf körperliche Gewalt 37% und in Bezug auf sexuelle Gewalt 13% aller befragten Frauen (Alter: 16 bis 85 Jahre) an, seit dem 16. Lebensjahr wenigstens einmal Opfer einer solchen Tat geworden zu sein.

Körperliche und/oder sexuelle Gewalt hatten schon 40% der Frauen wenigstens einmal im Leben erlitten. Rund 25% gaben an, die Gewalthandlungen seien wenigstens in einem Fall von aktuellen oder früheren Beziehungspartnern ausgegangen.

Bezogen auf den 5-Jahreszeitraum vor der Befragung gaben in der KFN-Studie 17,3% der Frauen an, Opfer von Körperverletzungen geworden zu sein. 3,5% gaben an, in diesem Zeitraum Opfer von Vergewaltigungen/sexuellen Nötigungen geworden zu sein - über das gesamte Leben betrachtet berichteten hiervon 8,6%. Der weit überwiegende Anzahl der Taten fand dabei im sozialen Nahbereich, also innerhalb der Familie oder des Haushalts, statt.

  • Kinder als Opfer

Die "drop off"-Technik wird auch angewendet, um Erkenntnisse über Gewalt gegen Kinder zu erhalten. Über körperliche Züchtigungen durch die Eltern berichteten 75%, etwa 10% über nicht vom elterlichen Erziehungsrecht gedeckte körperliche Misshandlungen. Über sexuellen Missbrauch in der Kindheit/Jugend wurde oft berichtet, wobei der Anteil betroffener Frauen etwa zwei- bis dreimal höher lag als der der Männer.

Opfertypologien

Die Prävalenz gibt lediglich an, wie hoch das statistische Risiko ist, Opfer einer Straftat zu werden.

Opfertypologien geben an, aufgrund welch individueller Disposition jemand zum Opfer wird. Die wichtigsten Befunde deutscher Untersuchungen zeigen folgendes Bild:

  • Das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, variiert mit dem Alter: Jugendliche und Heranwachsende tragen ein deutlich größeres Risiko als ältere Menschen - besonders bei den Kontaktdelikten (Körperverletzung, Raub, sexuelle Belästigung).
  • Das Geschlecht ist im Zusammenhang mit dem Opferrisiko von untergeordneter Bedeutung: Männer sind stärker von körperlicher Gewalt, Frauen stärker von Sexualdelikten betroffen. Bei den übrigen Delikten ist das Opferrisiko für beide Geschlechter in etwa gleich groß.
  • Bei "Kontaktdelikten" ist der Familienstand von Bedeutung: Alleinstehende sind bei Kontaktdelikten (hier findet ein Kontakt zwischen Täter und Opfer statt, bspw. Körperverletzung) deutlich über-, Paare/Verheiratete unterrepräsentiert. Bei den übrigen Delikten spielt der Familienstand offenbar keine entscheidende Rolle.
  • Bei Nicht-Gewalttaten (insbesondere Diebstahl) stehen Haushaltsgröße und -einkommen in Zusammenhang mit dem Opferrisiko: Haushalte mit drei oder mehr Personen und höherem Einkommen werden häufiger Opfer als kleine Haushalte/Haushalte mit geringem Einkommen.
  • Menschen werden überwiegend an ihrem Wohnort (zu Hause/in der näheren Umgebung) Opfer: Mit zunehmender Entfernung vom Wohnort - Auslandsaufenthalte ausgenommen - nimmt das Viktimisierungsrisiko ab. Menschen in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern tragen ein höheres Risiko als auf dem Land; in den nördlichen und östlichen Bundesländern ist das Opferrisiko höher als in den südlichen.

Viktimisierungstheorien

Die Viktimisierungstheorien versuchen die Frage zu beantworten, warum Menschen zu Opfern von Straftaten werden - sie versuchen einen Zusammenhang zwischen Merkmalen des Opfers und dessen Viktimisierungsrisiko herzustellen. Dafür kommen vor allem drei Ausgangspunkte in Betracht: das Opfer selbst, die Beziehungen des Opfers zum Täter und die Tatsituation. Weitere Ausgangspunkte können sozialstrukturelle Bedingungen (Machtlosigkeit der Opfer) oder kulturelle Einflüsse (Zugehörigkeit der Opfer zu einer Minderheit) sein.

Theorie der erlernten Hilflosigkeit

Die "Theorie der erlernten Hilflosigkeit" stellt auf einen Zusammenhang zwischen Viktimisierung und langfristigen Lernprozessen des Opfers ab (Seligman, 1975): Die Erfahrung, die Folgen einer Situation nicht vorhersehen und damit beeinflussen zu können, kann passives Verhalten ("erlernte Hilflosigkeit") zur Folge haben. Wer sich wiederholt oder über einen längeren Zeitraum in einer traumatisierenden, ausweglosen Situation befindet, ist nach der Beendigung dieser Situation oft nicht mehr in der Lage, zu seinem normalen Verhalten zurückzukehren. Sofern die Gefahr einer Viktimisierung durch eine Straftat droht, kann das Opfer dieser nicht ausweichen, weil es nicht gelernt hat, dass es Gefahren erfolgreich abwenden kann. Diese Theorie kann vornehmlich erklären, warum jemand wiederholt zum Opfer wird oder an einer einmal bestehenden Opferrolle festhält - bietet jedoch keine Erklärung für nur einmaliges oder gelegentliches Opferwerden.

Interaktionistische Theorie

Diese Theorie, in der die Viktimisierung als das Ergebnis einer verfehlten Täter-Opfer-Interaktion gesehen wird, knüpft an die Beziehungen des Opfers zum Täter an. Dabei ist vor allem an solche Fälle zu denken, in denen die Tat eine "Vorgeschichte" hat und sich aus der Beziehung zwischen Täter und Opfer heraus entwickelt oder in denen es infolge einer Situationsverkennung des Täters zur Tat kommt. Der interaktionistische Ansatz eignet sich nur zur Erklärung von Kontaktdelikten. Auf die besondere Beziehung zwischen Opfer und Täter beziehen sich auch Theorien, die das Tatgeschehen auf eine Mitursächlichkeit des Opfers ("Opferpräzipitation"). Das Opfer wird dabei nicht nur als passiv erduldendes Objekt gesehen, sondern als Subjekt, das einen aktiven Beitrag zur Entstehung und Entwicklung der Tat leistet. In einer Untersuchung über Tötungsdelikte wurde festgestellt, dass in 26% der Fälle der letztlich Getötete als erster Gewalt (Schläge oder Einsatz einer gefährlichen Waffe) angewandt hatte.

Diese älteren Erklärungsansätze sind aber problematisch, weil hier die Mitursächlichkeit des Opfers leicht als Mitschuld erscheinen kann; der falsche Gedanke des "blaming the victim" ("selbst Schuld") wird begünstigt.

Situationsorientierte Ansätze

Diese Ansätze stellen auf die soziale Situation ab, in denen Menschen zu Opfern werden. Das Viktimisierungsrisiko ist hier die Folge der Wahrscheinlichkeit, sich zu bestimmten Zeiten unter bestimmten Umständen an bestimmten Orten aufzuhalten und auf tatgeneigte/nicht tatgeneigte Menschen zu treffen. Hervorzuheben sind zwei eng benachbarte Konzepte:

  • Das Lebensstil-Konzept (englisch: "lifestyle concept"): Es erklärt das unterschiedliche Viktimisierungsrisiko als Folge des unterschiedlichen Lebensstils von Opfern im Vergleich zu Nicht-Opfern, wobei der Lebensstil durch das berufliche und private Verhalten - beispielsweise ob man zu bestimmten Zeiten einen als riskant bekannten Ort aufsucht oder nicht - geprägt wird. Der Lebensstil bestimmt das Ausmaß, mit dem man sich bestimmten Risiken aussetzt, und die Wahrscheinlichkeit, mit der man auf tatgeneigte Menschen trifft.
  • Das Routineaktivitäten-Konzept (englisch: "routine activity approach"): Es erklärt das Viktimisierungsrisiko als Konsequenz eines in gewissem Maße ritualisierten Alltagsverhaltens ("Routineaktivitäten"), das die Gelegenheit zur Begehung von Straftaten beeinflusst. Von einer das Viktimisierungsrisiko erhöhenden Gelegenheit wird dann ausgegangen, wenn drei Faktoren zusammentreffen: Es muss eine Person geben, die zur Begehung einer Straftat bereit ist (englisch: "motivated offender"), das potentielle Opfer oder bestimmte Gegenstände müssen für den potentiellen Täter einen materiellen oder symbolischen Wert haben ("availability of suitable targets") und ein Schützender fehlen ("absence of a capable guardian").

Gegen die Erklärungsansätze der beiden Theorien spricht, dass es häufig auch und gerade dann zu Straftaten kommt, wenn sich ein potentielles Opfer außerhalb üblichen Verhaltensroutinen aufhält und damit leichter in Situationen gerät, in denen es sich unsicherer fühlt und keine ausreichenden Schutzmechanismen zur Verfügung stehen. Auch eine Viktimisierung im sozialen Nahbereich kann mit "Routineaktivitäten" kaum in Verbindung gebracht werden. Sinnvoll ist dagegen der Hinweis auf die situativen Bedingungen, also auf die Attraktivität des potentiellen Tatziels und das Fehlen wirksamen Schutzes - hierin liegt ein wichtiger Ausgangspunkt für die Entwicklung von Präventionsstrategien.

Tatbegünstigende Personeneigenschaften

Körperliche oder psychische Eigenschaften können - aufgrund geringerer Abwehrfähigkeiten - eine Opferdisposition im Sinne einer erhöhten Attraktivität für potentielle Täter begründen. Dieser Umstand ist vor allem bei folgenden Deliktsformen wichtig: Die Eigenschaft "erkennbarer Ausländer" für rassistisch motivierte Gewalttaten, die Eigenschaft "alter Mensch" für Raub- und Betrugstaten und für Trickdiebstähle, die Eigenschaft "Kind/Jugendlicher" oder "Frau" für Gewalt- und Sexualdelikte.


Das Opfer nach der Tat

Im Mittelpunkt stehen hier die Tatfolgen für das Opfer sowie dessen Interessen und Bedürfnisse nach der Tat. Wichtig ist die Reaktion des nahen sozialen Umfeldes (Familie, Freunde, Arbeitskollegen) auf das Tatgeschehen: Ob und inwieweit es dem Opfer bei der Bewältigung der Tatfolgen Hilfe bietet - oder durch Desinteresse oder übertriebene Dramatisierung die Verarbeitung sogar erschwert. Es besteht die Gefahr, dass das bereits durch die Tat selbst (erste, "primäre Viktimisierung") geschädigte Opfer durch unangemessene Reaktionen der Umwelt weitere Schädigungen erleidet (zweite, "sekundäre Viktimisierung").

Dabei ist nicht nicht nur das nahe soziale Umfeld, sondern auch die Berichterstattung in den Medien und die Position des Opfers im Strafverfahren von Bedeutung - vor allem die Art und Weise, in der Polizei und Justiz mit dem Opfer umgehen, kann hinsichtlich einer späteren psychischen Belastung entscheidend sein - durch Fehler kann es hier zu einer dritten, der "tertiären Viktimisierung" kommen.

Die Stellung des Opfers im Strafverfahren wurde mit dem 1. und 2. Opferschutzgesetz (1986/2008), dem Zeugenschutzgesetz (1998) und dem Opferrechtsreformgesetz (2004) erheblich verbessert. Auch das Opferentschädigungsgesetz (1976/1985), die Förderung der Wiedergutmachung im Strafverfahren durch Änderung des JGG (1990), das Gesetz zum Täter-Opfer-Ausgleich (1999) sowie das zivilrechtliche Gewaltschutzgesetz (2001) haben deutlich zur Verbesserung der Position des Opfers - insbesondere in Form von Beistandsmöglichkeiten durch Vertrauenspersonen und Zeugenanwalt sowie die Möglichkeit der Nebenklagevertretung - beigetragen.

Tatfolgen für das Opfer

Jedes Opfer wird durch die Tat unterschiedlich belastet und geht mit deren Folgen unterschiedlich um. Eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der Tat scheint dem Umstand zuzukommen, ob zwischen Täter und Opfer vor der Tat eine Bekanntschaft mit einer Vertrauensbeziehung bestand - hier wird das Opfer durch die Tat oft in seinem Urvertrauen in die Zuverlässigkeit sozialer Beziehungen erschüttert. Darüber hinaus spielen Persönlichkeitseigenschaften wie das Selbstwertgefühl, aber auch Unterstützung im sozialen Umfeld oder durch die institutionalisierten Formen der Opferhilfe (Opferschutzorganisation "Weißer Ring"; Frauenhaus/-notruf) eine erhebliche Rolle.

Eigentums- und Vermögensdelikte haben typischerweise andere Folgen als Gewalt- und Sexualdelikte. Dabei ist schon der juristisch unzweifelhaft den Eigentumsdelikten zuzuordnende Einbruchsdiebstahls aus viktimologischem Blickwinkel kein eindeutiges Eigentumsdelikt mehr - sondern er liegt, wegen des Eindringens des Täters in die Privat- und Intimsphäre, an der Grenze zu den Gewaltdelikten. So gaben nach einem Einbruch ca. 30% der Befragten an, die Tat habe nicht zu materiellen, sondern vor allem zu seelischen Schäden geführt.

Andererseits sind nicht alle Gewaltdelikte gleich: Bei den sog. Kontaktdelikten etwa kann das Spektrum von einer harmlosen Auseinandersetzung bis hin zur lebensgefährlichen Körperverletzung reichen. Knapp 30% der von Kontaktdelikten Betroffenen sagten, die Tat habe zu keinem Schaden geführt - dies deutet darauf hin, dass die Konfrontation mit dem Täter nicht unbedingt als schädigend empfunden wird.

Wenn man nicht auf die Art des Schadens, sondern auf das Schwereempfinden abstellt, ergibt sich folgendes Bild: Etwas 75% der Opfer von Kontakt- und Einbruchsdelikten erwähnten hier eine subjektive Beeinträchtigung - während sich nur knapp 50% der Opfer von Nicht-Kontakttaten durch die Tat beeinträchtigt fühlten.

Die weitere Aufschlüsselung zeigte, dass das Schwereempfinden nicht so sehr von der Art des Delikts oder einem Kontakt mit dem Täter abhängt - sondern davon, ob das Opfer den Täter vor der Tat bereits kannte. War dies der Fall, so schilderten 83,7% die Tat als "belastend", darunter überwiegend sogar "sehr belastend". Bestand keine Vorbeziehung, war der Anteil derjenigen, die die Tat "belastend" empfanden, mit 54,9% am geringsten. (Daten aus einer Studie von Kilchling, 1995)

Bei den psychischen Schäden muss zwischen kurz- und langfristigen Folgen unterschieden werden: Zu den kurzfristigen, bis zu einigen Wochen anhaltenden Schäden können psychosomatische Beschwerden, Selbstvorwürfe und Angst gehören. Zu den langfristigen Störungen zählen solche, die durch das wiederholte Durchleben des Tatgeschehens, Schlafstörungen, Alpträume und Veränderungen im Sozialverhalten gekennzeichnet sind. Es kann vorkommen, dass das Opfer die Folgen der Viktimisierung nicht mehr allein und dauerhaft bewältigen kann - man spricht dann von einer "posttraumatischer Belastungsstörung" (englisch: "post-traumatic stress disorder").

Eine Opfererfahrung kann aber in seltenen Fällen sogar positive Wirkungen haben: Der mit der Viktimisierung verbundene Einschnitt in das bisherige Leben kann für das Opfer auch mit einem "Neubeginn" unter veränderten Vorzeichen verbunden sein, der langfristig als positiv erlebt wird (Trennung von Beziehungen, neue Kontakte).

Interessen und Bedürfnisse des Opfers nach der Tat

Ebenso wie die Tatfolgen sind auch die Interessen/Bedürfnisse des Opfers nach der Tat individuell sehr unterschiedlich. Die meisten Opfer wollen nach der Tat vor allem über das Geschehen reden und benötigen einen verständnisvollen Zuhörer. Weitere typische Bedürfnisse, abhängig von der Art/Schwere des Delikts, sind:

  • Sicherheit - keine neue Tat.
  • Keine Vorwürfe wegen der Tat; die eigene Darstellung soll nicht in Zweifel gezogen werden.
  • Materieller Ersatz für erlittene Schäden.
  • Bestrafung des Täters (vor allem bei gravierenden körperlichen/seelischen Schäden).
  • Vergessen der Tat, Rückkehr zur Normalität.
  • Informationen zum Fortgang des Verfahrens durch Polizei und Justiz.
  • Beratung/Unterstützung von Seiten Dritter.

Je weniger sich das Opfer durch die Tat beeinträchtigt fühlt, desto stärker ist sein Interesse am Ersatz des materiellen Schadens. Je stärker es sich beeinträchtigt fühlt, desto stärker ist sein Wunsch nach Bestrafung des Täters.

Nach einem Fahr- und Motorraddiebstahl gaben gut 60% als wichtigsten Wunsch den Ersatz des materiellen Schadens an. Anders stellt sich die Bedürfnislage bei den Kontaktdelikten dar: Fast gleichrangig standen im Vordergrund die Wünsche, die Tat zu vergessen (31,8% bei allen Kontaktdelikten; bei Sexualtaten sogar 66,7%) und den Täter zu bestrafen (28,4% bei allen Kontaktdelikten; bei tätlichem Angriff 43,8%). (Kilchling)

Zusammenarbeit des Opfers mit den Strafverfolgungsbehörden

Wichtig ist, ob - und wenn ja, warum - sich ein Opfer nach der Tat an die Strafverfolgungsorgane wendet. Es ist festzustellen, dass sich das Anzeigeverhalten im hohen Maße an Kosten-Nutzen-Überlegungen orientiert. Die meisten Opfer nehmen von einer Strafanzeige Abstand, wenn sie denken, dass die mit einem Strafverfahren verbundenen Belastungen (wiederholte Zeugenaussagen bei Polizei und Gericht) in keinem lohnenden Verhältnis zum möglichen Ergebnis (Sicherheit, Schadensersatz, Bestrafung) stehen. Auch Opfer, die unmittelbar nach der Tat ein erhebliches Verlangen nach einer Bestrafung des Täters haben, sehen deshalb häufig von einer Anzeige ab.

Bei den Nicht-Kontaktdelikten, bei denen das Interesse nach wirtschaftlicher Wiedergutmachung im Vordergrund stand, wurde von knapp zwei Dritteln der Befragten (62,6%) Anzeige erstattet (bei Einbruch sogar 76,9%). Hier spielt sicher eine große Rolle, dass die Versicherungen meistens nur dann Ersatz leisten, wenn zuvor auch eine Anzeige erstattet wurde.

Bei den Kontaktdelikten wurde nur in knapp einem Drittel der Fälle (31,8%) Anzeige erstattet, wobei die Quote bei Sexualdelikten auffällig niedrig lag (13,3%). Gründe für die Nichtanzeige waren der Bagatellcharakter der Tat und Resignation ("Polizei kann ja doch nichts machen"). Für die meisten Opfer von Kontaktdelikten (54,5%) war die Vorstellung, im Rahmen einer Gerichtsverhandlung einen öffentlichen Zeugenauftritt haben zu können, unangenehm. (Kilchling)

Weiter ist die Anzeigenbereitschaft vom Alter des Opfers abhängig: Bei älteren Opfern ist sie insgesamt höher als bei jüngeren, nimmt jedoch ab dem 60. Lebensjahr wieder ab (glockenförmiger Verlauf) - die Anzeigenquote beträgt 40% bei den unter 21-Jährigen, 73,5% bei den 50- bis 59-Jährigen, 61,8% bei den Senioren ab 60 Jahren.

Viktimisierung als Grundlage späterer Delinquenz

Kinder, an denen Missbrauchs- oder Gewalthandlungen verübt oder die vernachlässigt wurden, treten im späteren Leben häufiger als Straftäter in Erscheinung als Kinder ohne derartige Viktimisierungserfahrungen. Dieser Zusammenhang scheint unabhängig vom Geschlecht zu sein: Sowohl viktimisierte Jungen als auch Mädchen werden später in erhöhtem Maß auffällig, wobei die Prävalenzrate der Frauen - wie bei kriminellem Verhalten allgemein - deutlich geringer ist als die der Männer.

Viktimisierungserfahrungen begründen also lediglich einen Risikofaktor für Kriminalität, und nicht jede Gewaltanwendung/Misshandlung im Kindesalter führt später zu kriminellem Verhalten. Vermutlich wird die Art der Reaktion nicht nur durch die Qualität (Art, Schwere, Häufigkeit, Dauer), sondern auch durch die Disposition sowie durch die Verfügbarkeit hilfreicher sozialer Beziehungen bestimmt. Delinquenz als Reaktion auf erlittene Traumata ist somit zwar möglich, aber keinesfalls sicher.


Web-Links

World Society of Victimology: [1]

National Criminal Justice Reference Service (NCJRS) - Victims of Crime: [2]

International Victimology Institute Tilburg: [3]

National Crime Victims Research and Treatment Center: [4]

International Victimology Website: [5]

International Crime Victims Surveys: [6]

Prometheus - Literaturdatenbank zu Trauma und Gewalt: [7]

Psychotraumatologie der Psychosomatischen Universitätsklinik Heidelberg: [8]

Statistisches Bundesamt Deutschland: [9]

Bundesministerium für Justiz: [10]

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: [11]

Polizeiliche Kriminalstatistik: [12]

Kriminologisches Forschungsinstitut Nidersachsen e. V.: [13]

Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht: [14] und [15] (Dr. Michael Kilching)

Opferschutzverbände: [16] und [17]

Online-Lexika: [18] und [19]

Vertiefende Literatur

M. Kilching: "Empirische Erkenntnisse aus Kriminologie und Viktimologie zur Lage von Opfern" - in: DVJJ-Journal 2002 (14-23)

H.-J. Schneider: "Verbrechensopferforschung, -politik und -hilfe: Fortschritte und Defizite in einem halben Jahrhundert" - in: MschKrim (Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform) 89, 2006 (389-404)

"Internationales Handbuch der Kriminologie" - Bd. I/II (Grundlagen/besondere Probleme der Kriminologie); 2007 und 2009

Raithel/Mansel: "Kriminalität und Gewalt im Jugendalter - Hell- und Dunkelfeldbefunde im Vergleich"; 2003

Lamnek: "Theorien abweichenden Verhaltens" - Bd. I/II (Klassische/moderne Ansätze); 2007/2008

Hassemer: "Verbrechensopfer - Gesetz und Gerechtigkeit"; 2002