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'''Der Schulenstreit im 19. Jahrhundert''' (auch ''„Paradigmenstreit“'' oder ''„Anlage-Umwelt-Streit“'' genannt) entfachte sich über die Frage nach den Entstehungsbedingungen kriminellen Verhaltens aufgrund der unterschiedlichen Sichtweisen der italienischen und französischen Schule.  
'''Der Schulenstreit im 19. Jahrhundert''' (auch ''„Paradigmenstreit“'' oder ''„Anlage-Umwelt-Streit“'' genannt) entfachte sich über die Frage nach den Entstehungsbedingungen kriminellen Verhaltens aufgrund der unterschiedlichen Sichtweisen der italienischen und französischen Schule.  


== Begriffsherkunft ==
== Begriffsherkunft ==
Im 19. Jahrhundert herrschte zwischen Mediziner, Psychiater, Soziologen und Juristen ein Streit über die Entstehungsbedingungen des kriminellen Verhaltens.  
Im 19. Jahrhundert herrschte zwischen Medizinern, Psychiatern, Soziologen und Juristen ein Streit über die Entstehungsbedingungen des kriminellen Verhaltens.  


Bei diesem sog. "'''Schulenstreit'''" standen sich die An­hän­ger der italienischen und der französischen Schule gegenüber (vgl. Abbildung 1).  
Bei diesem sog. "'''Schulenstreit'''" standen sich die An­hän­ger der italienischen und der französischen Schule gegenüber (vgl. Abbildung 1).  
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[[Datei:VonVerbrechenundStrafen.jpg|200px|thumb|right|Abb. 2: [[Cesare Beccaria]] gilt als Begründer der Kriminologie.]]
[[Datei:VonVerbrechenundStrafen.jpg|200px|thumb|right|Abb. 2: [[Cesare Beccaria]] gilt als Begründer der Kriminologie.]]
[[Datei:Cesare_Lombroso.jpg|200px|thumb|right|Abb. 3: [[Cesare Lombroso]] war ein Anhänger der italienischen Schule, welche die ''"Anlage"'' des Täters für Kriminalität verantwortlich machte.]]
[[Datei:Cesare_Lombroso.jpg|200px|thumb|right|Abb. 3: [[Cesare Lombroso]] war ein Anhänger der italienischen Schule, welche die ''"Anlage"'' des Täters für Kriminalität verantwortlich machte.]]
[[Datei:Alexandre_Lacassagne.jpg|200px|thumb|right|Abb. 4: [[Alexandre Lacassagne]] war ein Anhänger der französische Schule, welche die ''"Umwelt"'' des Täters für Kriminalität verantwortlich machte.]]
[[Datei:Alexandre_Lacassagne.jpg|200px|thumb|right|Abb. 4: [[Alexandre Lacassagne]] war ein Anhänger der französischen Schule, welche die ''"Umwelt"'' des Täters für Kriminalität verantwortlich machte.]]


Im Mittelalter galt das [[Verbrechen]] als Sünde und Beleidigung des allmächtigen Gottes, wodurch der Verbrecher nicht nur seinen Seelenfrieden verwirkt hat, sondern in der Gesellschaft auch als krank bzw. "unnormal" galt. Um das soziale Leben, dessen Normen, Institutionen und Werte vor dem Einfluss des kranken "Abweichlers" zu schützen, musste dieser durch oftmals grausame Behandlungen korrigiert werden <ref>Becker, 1995, S. 147 ff.</ref>. Ein Interesse an den Ursachen des abweichenden Verhaltens bestand zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Im Mittelalter galt das [[Verbrechen]] als Sünde und Beleidigung des als allmächtig begriffenen Gottes, wodurch der Verbrecher nicht nur seinen Seelenfrieden verwirkte, sondern in der Gesellschaft auch als krank bzw. "unnormal" galt. Um das soziale Leben, dessen Normen, Institutionen und Werte vor dem Einfluss des kranken "Abweichlers" zu schützen, musste dieser durch oftmals grausame Behandlungen korrigiert werden.<ref>Becker, 1995, S. 147 ff.</ref> Ein Interesse an den Ursachen des abweichenden Verhaltens bestand zu diesem Zeitpunkt noch nicht.


Im 17. und 18. Jahrhundert wurde die geistliche Ordnungsvorstellung des Mittelalters durch das Verhältnis von einem absolutistischen Staat als Herrscher und seinen Untertanen auf weltliche Grundlagen umgestellt.   
Im 17. und 18. Jahrhundert wurde die geistliche Ordnungsvorstellung des Mittelalters durch das Verhältnis von einem absolutistischen Staat als Herrscher und seinen Untertanen auf weltliche Grundlagen umgestellt.   
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Mit seinem berühmt gewordenen Buch „[[Über Verbrechen und Strafen]]“ (1764) löste er eine Debatte über die Strafgesetzgebung und Kriminalpolitik aus. Beccaria fasste zusammen, dass Kriminalität keine Krankheit ist - wie bis dahin angenommen -, sondern bewusst und eigenverantwortlich vom Individuum vollzogen wird. Allerdings legte Beccaria seinen Fokus eher auf die Tat an sich, als auf den Täter.  
Mit seinem berühmt gewordenen Buch „[[Über Verbrechen und Strafen]]“ (1764) löste er eine Debatte über die Strafgesetzgebung und Kriminalpolitik aus. Beccaria fasste zusammen, dass Kriminalität keine Krankheit ist - wie bis dahin angenommen -, sondern bewusst und eigenverantwortlich vom Individuum vollzogen wird. Allerdings legte Beccaria seinen Fokus eher auf die Tat an sich, als auf den Täter.  


Beccaria war gegen das absolutistische Strafrecht (Todesstrafe, Folter, Willkür) und forderte ein staatlich begrenztes Strafrecht zum Schutz der individuellen Freiheitsrechte. So plädierte er u.a. für die Abschaffung des Strafzwecks der Vergeltung zugunsten der Abschreckung. So sollte beispielsweise durch höhere Strafen ein Nachteilsgefühl geweckt werden, welches den Vorteil der Tat bei weitem überwiegt <ref>Beccaria, 1998, S. 58 ff.</ref>.
Beccaria war gegen das absolutistische Strafrecht (Todesstrafe, Folter, Willkür) und forderte ein staatlich begrenztes Strafrecht zum Schutz der individuellen Freiheitsrechte. So plädierte er u.a. für die Abschaffung des Strafzwecks der Vergeltung zugunsten der Abschreckung. So sollte beispielsweise durch höhere Strafen ein Nachteilsgefühl geweckt werden, welches den Vorteil der Tat bei weitem überwiegt.<ref>Beccaria, 1998, S. 58 ff.</ref>


Beccaria und den anderen Vertretern der klassischen Schule ging es vor allem um die Verhältnismäßigkeit der Sanktionen im Hinblick auf die Tat an sich.
Beccaria und den anderen Vertretern der klassischen Schule ging es vor allem um die Verhältnismäßigkeit der Sanktionen im Hinblick auf die Tat an sich.
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=== Die positivistische Schule im 19. Jahrhundert ===
=== Die positivistische Schule im 19. Jahrhundert ===


Im 19. Jahrhundert wurde die klassische Schule durch die positivistische Schule abgelöst. Beeinflusst vom [http://de.wikipedia.org/wiki/Darwinismus Darwinismus] hat diese Schule die Entstehungsbedingungen des kriminellen Verhaltens teilweise in der Anlage des Täters und teilweise in der Umwelt, in welcher der Täter lebt, gesucht <ref>Adler, Mueller & Laufer, 1998, S. 53</ref>. Dabei hat sich eine kriminalbiologische und eine kriminalsoziologische Sichtweise herausgebildet.  
Im 19. Jahrhundert wurde die klassische Schule durch die positivistische Schule abgelöst. Beeinflusst vom [http://de.wikipedia.org/wiki/Darwinismus Darwinismus] hat diese Schule die Entstehungsbedingungen des kriminellen Verhaltens teilweise in der Anlage des Täters und teilweise in der Umwelt, in welcher der Täter lebt, gesucht.<ref>Adler, Mueller & Laufer, 1998, S. 53</ref> Dabei hat sich eine kriminalbiologische und eine kriminalsoziologische Sichtweise herausgebildet.  


==== Die italienische Schule (auch kriminalbiologische oder kriminalanthropologische Schule genannt) ====
==== Die italienische Schule (auch kriminalbiologische oder kriminalanthropologische Schule genannt) ====
Als Hauptvertreter der italienischen (kriminalbiologischen) Schule gilt [[Cesare Lombroso]] (* 06.11.1835 in Verona; † 19.10.1909 in Turin). Geprägt von dem positivistischen Gedanken hielt Lombroso Kriminalität für angeboren.
Als Hauptvertreter der italienischen (kriminalbiologischen) Schule gilt [[Cesare Lombroso]] (* 06.11.1835 in Verona; † 19.10.1909 in Turin). Geprägt von dem positivistischen Gedanken hielt Lombroso Kriminalität für angeboren.


Seine Grundthese vom „geborenen Verbrecher“, der an äußerlichen Merkmalen zu erkennen ist, versuchte er anhand von anatomischen Merkmalen und Messungen an Straftätern zu belegen <ref>Lombroso, 1894, S. 170 ff.</ref>.
Seine Grundthese vom „geborenen Verbrecher“, der an äußerlichen Merkmalen zu erkennen sei, versuchte er anhand von anatomischen Merkmalen und Messungen an Straftätern zu belegen.<ref>Lombroso, 1894, S. 170 ff.</ref>


Lombroso nahm somit den biologischen Determinismus an, bei dem ein abweichendes Verhalten des Verbrechertyps unvermeidlich ist.
Lombroso nahm somit den biologischen Determinismus an, bei dem ein abweichendes Verhalten des Verbrechertyps unvermeidlich ist.
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==== Die französische Schule (auch kriminalsoziologische Schule genannt) ====
==== Die französische Schule (auch kriminalsoziologische Schule genannt) ====
[[Gabriel Tarde]] (* 12.03.1843 in Sarlat; † 13.05.1904 in Paris) und [[Alexandre Lacassagne]] (* 17.08.1843 in Cahors; † 24.09.1924 in Lyon) gehören zu den Vertretern der französischen Schule, welche die Gesellschaft, also das Umfeld in dem die Menschen leben, für Kriminalität verantwortlich machen <ref>Sebald, 2008, S. 100</ref>.
[[Gabriel Tarde]] (* 12.03.1843 in Sarlat; † 13.05.1904 in Paris) und [[Alexandre Lacassagne]] (* 17.08.1843 in Cahors; † 24.09.1924 in Lyon) gehören zu den Vertretern der französischen Schule, welche die Gesellschaft, also das Umfeld in dem die Menschen leben, für Kriminalität verantwortlich machen.<ref>Sebald, 2008, S. 100</ref>


Im Gegensatz zu Lambroso hat Lacassagne das Milieu des Täters für die Entstehung des Verbrechens verantwortlich gemacht (sog. Milieutheorie). Diese Annahme wird durch den bekannt gewordenen Ausspruch von Lacassagne deutlich: ''„Jede Gesellschaft hat die Verbrecher, die sie verdient!“'' <ref>Übersetzung aus dem Französischen: ''„les Sociétés ont les criminels qu'elles méritent!“''; Lacassagne, Coutagne, & Garraud, 1886, S. 183</ref>
Im Gegensatz zu Lambroso hat Lacassagne das Milieu des Täters für die Entstehung des Verbrechens verantwortlich gemacht (sog. Milieutheorie). Diese Annahme wird durch den bekannt gewordenen Ausspruch von Lacassagne deutlich: ''„Jede Gesellschaft hat die Verbrecher, die sie verdient!“<ref>Übersetzung aus dem Französischen: ''„les Sociétés ont les criminels qu'elles méritent!“''; Lacassagne, Coutagne, & Garraud, 1886, S. 183</ref>''


Tarde hat die Nachahmung (Imitation) des Sozialen für die Entstehung von Verbrechen verantwortlich gemacht. Von ihm stammt der bekannte Satz: ''„Die anderen sind schuldig, nicht der Verbrecher.“'' <ref>Übersetzung aus dem Französischen: ''„Tout le monde est coupable excepté le criminel.“''; Tarde, 1893: zit. nach Seelig/Bellavic 1963, S. 46</ref> Tarde kann aus heutiger Sicht als Wegbereiter der sog. Lerntheorien bezeichnet werden, da er versucht hat, Kriminalität durch Lern- und Nachahmungsprozesse zu erklären.
Tarde hat die Nachahmung (Imitation) des Sozialen für die Entstehung von Verbrechen verantwortlich gemacht. Von ihm stammt der bekannte Satz: ''„Die anderen sind schuldig, nicht der Verbrecher“<ref>Übersetzung aus dem Französischen: ''„Tout le monde est coupable excepté le criminel.“''; Tarde, 1893: zit. nach Seelig/Bellavic 1963, S. 46</ref>.'' Tarde kann aus heutiger Sicht als Wegbereiter der sog. Lerntheorien bezeichnet werden, da er versucht hat, Kriminalität durch Lern- und Nachahmungsprozesse zu erklären.


Tarde und Lacassagne gelten als Vorreiter der soziologischen Kriminalitätstheorien, die nicht das Verhalten einzelner Individuen erklären, sondern die gesellschaftlichen Einflüsse beschreiben, die abweichendes Verhalten begünstigen können.
Tarde und Lacassagne gelten als Vorreiter der soziologischen Kriminalitätstheorien, die nicht das Verhalten einzelner Individuen erklären, sondern die gesellschaftlichen Einflüsse beschreiben, die abweichendes Verhalten begünstigen können.


== Die Marburger Schule (auch Vereinigungsschule genannt) ==
== Die Marburger Schule (auch Vereinigungsschule genannt) ==
[[Datei:Liszt.jpg|200px|thumb|right|[[Franz von Liszt]] hat die italienische und französische Schule mit der ''"Anlage-Umwelt-Formel''" in der Marburger Schule vereint.]]
[[Datei:Liszt.jpg|200px|thumb|right|Abb. 5: [[Franz von Liszt]] hat die italienische und französische Schule mit der ''"Anlage-Umwelt-Formel''" in der Marburger Schule vereint.]]
Geprägt von dem Italiener [[Enrico Ferri]] hat der deutsche Strafrechtsreformator [[Franz von Liszt]] (* 2.03.1851 in Wien; † 21.06.1919 in Seeheim a.d. Bergstraße) den Standpunkt vertreten, dass Kriminalität das Produkt aus Anlage und Umwelt ist.  
Geprägt von dem Italiener [[Enrico Ferri]] hat der deutsche Strafrechtsreformator [[Franz von Liszt]] (* 2.03.1851 in Wien; † 21.06.1919 in Seeheim a.d. Bergstraße) den Standpunkt vertreten, dass Kriminalität das Produkt aus Anlage und Umwelt ist.  


Liszt hat versucht, die unterschiedlichen Sichtweisen der italienischen (kriminalbiologischen) und französischen (kriminalsoziologischen) Schule mit der sog. "Anlage-Umwelt-Formel" zu vereinen. Demnach wird Kriminalität durch die teils angeborene Eigenart des Täters und aus den ihn umgebenden gesellschaftlichen Einflüssen bedingt<ref>Sebald, 2008, S. 100</ref>.
Liszt hat versucht, die unterschiedlichen Sichtweisen der italienischen (kriminalbiologischen) und französischen (kriminalsoziologischen) Schule mit der sog. "Anlage-Umwelt-Formel" zu vereinen. Demnach wird Kriminalität durch die teils angeborene Eigenart des Täters und aus den ihn umgebenden gesellschaftlichen Einflüssen bedingt.<ref>Sebald, 2008, S. 100</ref>


Dieser sog. [[Kriminalitätstheorien|Mehrfaktorenansatz]] geht davon aus, dass es verschiedene Ursachen gibt, die zu Kriminalität führen können (multikausale Kriminalitätserklärung). Daher wird dieser Ansatz auch als "Kombinationsansatz" bezeichnet.   
Dieser sog. [[Kriminalitätstheorien|Mehrfaktorenansatz]] geht davon aus, dass es verschiedene Ursachen gibt, die zu Kriminalität führen können (multikausale Kriminalitätserklärung). Daher wird dieser Ansatz auch als "Kombinationsansatz" bezeichnet.   


Liszt war der Annahme, dass die sozialen Einflüsse eine weit höhere Bedeutung auf die kriminelle Handlung hätten, als die Anlage des Täters. Dies machte Liszt auch mit der bekannten kriminalpolitischen Aussage deutlich, dass ''„eine gute Sozialpolitik die beste Kriminalpolitik ist."''<ref>Von Liszt, 1905, S. 246</ref>
Liszt war der Annahme, dass die sozialen Einflüsse eine weit höhere Bedeutung auf die kriminelle Handlung hätten als die Anlage des Täters. Dies machte Liszt auch mit der bekannten kriminalpolitischen Aussage deutlich, dass ''„eine gute Sozialpolitik die beste Kriminalpolitik"''<ref>Von Liszt, 1905, S. 246</ref>sei.


Das Verbrechen war für Liszt, ''[...] „wie jede menschliche Handlung, das notwendige Ergebnis aus der teils angeborenen Eigenart des Täters einerseits, der ihn im Augenblick der Tat umgebenden gesellschaftlichen, insbesondere wirtschaftlichen Verhältnisse anderseits."'' <ref>Von Liszt, 1905, S. 65</ref>  
Das Verbrechen war für Liszt, ''[...] „wie jede menschliche Handlung, das notwendige Ergebnis aus der teils angeborenen Eigenart des Täters einerseits, der ihn im Augenblick der Tat umgebenden gesellschaftlichen, insbesondere wirtschaftlichen Verhältnisse anderseits"''<ref>Von Liszt, 1905, S. 65</ref>.


In der Marburger Antrittsvorlesung 1882 ([[Marburger Programm]]) formulierte Liszt mit seiner strafrechtlichen Abhandlung „Der Zweckgedanke im Strafrecht“ den Zweck von Strafe neu, indem er eine Abkehr von der Vergeltungsstrafe hin zu einem spezialpräventiven Behandlungsstrafrecht fordert. So sollten Gelegenheitstäter eine Bewährungsstrafe als Denkzettel erhalten, verbesserliche Hangtäter eine (längere) Freiheitsstrafe, die von Maßnahmen der Resozialisierung begleitet sein sollte und die unverbesserlichen Hangtäter sollten dauerhaft verwahrt werden, damit der Schutz der Gesellschaft gewährleistet ist <ref>Schmidt, 1982, S. 406-407</ref>.
In der Marburger Antrittsvorlesung 1882 ([[Marburger Programm]]) formulierte Liszt mit seiner strafrechtlichen Abhandlung „Der Zweckgedanke im Strafrecht“ den Zweck von Strafe neu, indem er eine Abkehr von der Vergeltungsstrafe hin zu einem spezialpräventiven Behandlungsstrafrecht forderte. So sollten Gelegenheitstäter eine Bewährungsstrafe als Denkzettel erhalten, verbesserliche Hangtäter eine (längere) Freiheitsstrafe, die von Maßnahmen der Resozialisierung begleitet sein sollte, während unverbesserliche Hangtäter dauerhaft verwahrt werden sollten, damit der Schutz der Gesellschaft gewährleistet sei.<ref>Schmidt, 1982, S. 406-407</ref>  


Aufgrund der großen Bedeutung der empirischen Wissenschaften (Kriminalanthropologie, Kriminalpsychologie und Kriminalistik) für das Strafrecht forderte Liszt ein Zusammenwirken der strafrechtlichen und kriminologischen Disziplinen zu einer sogenannten "gesamten Strafrechtswissenschaft" <ref>Leferenz, 1981, S. 203</ref>.
Aufgrund der großen Bedeutung der empirischen Wissenschaften (Kriminalanthropologie, Kriminalpsychologie und Kriminalistik) für das Strafrecht forderte Liszt ein Zusammenwirken der strafrechtlichen und kriminologischen Disziplinen zu einer "gesamten Strafrechtswissenschaft".<ref>Leferenz, 1981, S. 203</ref>


Liszt war der Meinung, dass das [[Verbrechen]] wissenschaftlich erforscht werden muss und sich die Strafrechtspflege sowie die Kriminalpolitik an den empirischen Ergebnissen zu orientieren haben.
Liszt war der Meinung, dass das [[Verbrechen]] wissenschaftlich erforscht werden muss und sich die Strafrechtspflege sowie die Kriminalpolitik an den empirischen Ergebnissen zu orientieren haben.


Liszt überlegte, die Strafgesetzbücher von damals durch einen einzigen Paragraphen zu ersetzen: ''„Jeder gemeingefährliche Mensch ist im Interesse der Gesamtheit so lange als nötig unschädlich zu machen.“''<ref>Von Liszt, 1905, S. 80</ref>  
Liszt überlegte, die Strafgesetzbücher von damals durch einen einzigen Paragraphen zu ersetzen: ''„Jeder gemeingefährliche Mensch ist im Interesse der Gesamtheit so lange als nötig unschädlich zu machen“''<ref>Von Liszt, 1905, S. 80</ref>.


Unter anderem gehen:
Unter anderem gehen:
* das Jugendgerichtsgesetz (Erziehungsgedanke),
* das [[Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht|Jugendgerichtsgesetz]] (Erziehungsgedanke)  
* die Bewährungsstrafe,
* die [[Bewährung|Bewährungsstrafe]]
* der [[Täter-Opfer-Ausgleich]],
* der [[Täter-Opfer-Ausgleich]]
* der [[Strafvollzug|Aufbau des Strafvollzugs]] (Resozialisierung)  
* der [[Strafvollzug|Aufbau des Strafvollzugs]] (Resozialisierung)  
auf diese Überlegung zurück.
auf diese Überlegungen zurück.


Wie Sebald schreibt, regte Liszt ferner eine Wendung vom Tat- zum Täterstrafrecht an, was heute in der Strafzumessung im Rahmen des [http://dejure.org/gesetze/StGB/46.html § 46 StGB] Berücksichtigung findet <ref>Sebald, 2008, S. 101</ref>.  
Wie Sebald schreibt, regte Liszt eine Wendung vom Tat- zum Täterstrafrecht an, was heute in der Strafzumessung im Rahmen des [http://dejure.org/gesetze/StGB/46.html § 46 StGB] Berücksichtigung findet.<ref>Sebald, 2008, S. 101</ref>   


Neben der [[Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft]] war Liszt Mitbegründer der 1888 gegründeten [[Internationale Kriminalistische Vereinigung|Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (IKV)]] und hat durch seine Vereinigungsgedanken das kriminologische Denken nicht nur in Europa nachhaltig geprägt.
Neben der [[Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft]] war Liszt Mitbegründer der 1888 gegründeten [[Internationale Kriminalistische Vereinigung|Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (IKV)]] und hat durch seine Vereinigungsgedanken das kriminologische Denken nicht nur in Europa nachhaltig geprägt.
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Mit der "Anlage-Umwelt-Formel" von Liszt wurde eine Vereinigung zwischen der französischen Kriminalsoziologie und der italienischen Kriminalanthropologie gebildet. Sie wird daher oft auch als "Vereinigungstheorie" bezeichnet, da Liszt - wie oben beschrieben - eine Synthese aus Anlage und Umwelt annahm.   
Mit der "Anlage-Umwelt-Formel" von Liszt wurde eine Vereinigung zwischen der französischen Kriminalsoziologie und der italienischen Kriminalanthropologie gebildet. Sie wird daher oft auch als "Vereinigungstheorie" bezeichnet, da Liszt - wie oben beschrieben - eine Synthese aus Anlage und Umwelt annahm.   


Durch die "Anlage-Umwelt-Formel" werden die Entstehungsbedingungen des kriminellen Verhaltens als sozialer Prozess verstanden, so dass neben dem Täter auch das Verbrechensopfer und die Gesellschaft im Fokus stehen. So widmet sich die moderne Kriminologie zunehmend auch der informellen und formellen Sozialkontrolle:  
Durch die "Anlage-Umwelt-Formel" werden die Entstehungsbedingungen des kriminellen Verhaltens als sozialer Prozess verstanden, so dass neben dem Täter auch das Verbrechensopfer und die Gesellschaft im Fokus stehen. So widmet sich die moderne Kriminologie zunehmend auch der informellen und formellen [[Soziale Kontrolle|Sozialkontrolle]]:  
* Informelle Kontrolle: Kriminalitätskontrolle durch nicht dafür vorgesehene Personen (z.B. Nachbarn)  
* Informelle Kontrolle: Kriminalitätskontrolle durch nicht dafür vorgesehene Personen (z.B. Nachbarn)  
* Formelle Kontrolle: Kriminalitätskontrolle durch dafür vorgesehene Institutionen (z.B. Polizei)
* Formelle Kontrolle: Kriminalitätskontrolle durch dafür vorgesehene Institutionen (z.B. Polizei)


Die Sichtweise von Liszt (Marburger Schule) weckte das Interesse für die Kriminologie und hatte großen Einfluss auf die Entwicklung der Strafrechtswissenschaft sowie die Strafgesetzgebung in Deutschland.
Die Sichtweise von Liszt weckte das Interesse für die Kriminologie und hatte großen Einfluss auf die Entwicklung der Strafrechtswissenschaft sowie die Strafgesetzgebung in Deutschland.


Liszt gilt mit seinen spezialpräventiven Gedanken als Begründer der modernen Strafrechtsschule, die großen Einfluss auf das klassische Strafrecht hatte, welches bis dahin auf Vergeltung und Sühne als Zweck des Strafens setzte.  
Liszt gilt mit seinen spezialpräventiven Gedanken als Begründer der modernen Strafrechtsschule, die großen Einfluss auf das klassische Strafrecht hatte, welches bis dahin auf Vergeltung und Sühne als Zweck des Strafens setzte.  


Liszt war der Meinung, dass sich die Strafe nur noch alleine durch ihre zu erreichende präventive Wirkung und ihrem Zweck für die Gesellschaft legitimieren sollte <ref>Von Müller, 2004, S. 125</ref>.
Liszt war der Meinung, dass sich die Strafe nur noch alleine durch ihre zu erreichende präventive Wirkung und ihrem Zweck für die Gesellschaft legitimieren sollte.<ref>Von Müller, 2004, S. 125</ref>
Der Satz von Liszt: ''„Die Kriminalpolitik, als die nach festen Grundsätzen vorgehende Bekämpfung des Verbrechens, muss, wenn sie erfolgreich sein soll, bei den Ursachen des Verbrechens einsetzen, da ja jedes Übel wirksam nur in seinen Wurzeln bekämpft werden kann.“''<ref>Von Liszt, 1905, S. 236</ref>, bezieht sich bereits primär auf Präventionsmaßnahmen.
Der Satz von Liszt: ''„Die Kriminalpolitik, als die nach festen Grundsätzen vorgehende Bekämpfung des Verbrechens, muss, wenn sie erfolgreich sein soll, bei den Ursachen des Verbrechens einsetzen, da ja jedes Übel wirksam nur in seinen Wurzeln bekämpft werden kann“''<ref>Von Liszt, 1905, S. 236</ref>., bezieht sich bereits primär auf Präventionsmaßnahmen.


Auch heutzutage ist der Leitgedanke des Vorrangs der Prävention vor der Repression kriminalpolitisch im Grundsatz unbestritten. So gilt nach wie vor der Grundsatz "Prävention vor Repression", der besagt, dass es sinnvoller ist, Straftaten zu verhüten, als sich auf die Verfolgung geschehener Straftaten zu beschränken.
Auch heutzutage ist der Leitgedanke des Vorrangs der Prävention vor der Repression kriminalpolitisch im Grundsatz unbestritten. So gilt nach wie vor der Grundsatz "Prävention vor Repression", der besagt, dass es sinnvoller ist, Straftaten zu verhüten, als sich auf die Verfolgung geschehener Straftaten zu beschränken.
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== Die Auswirkungen des Schulenstreits ==
== Die Auswirkungen des Schulenstreits ==
Ausgelöst durch den Schulenstreit und den Einfluss der modernen Kriminologie auf das Strafrecht entfachte sich am Ende des 19. Jahrhunderts auch der sog. "[http://de.wikipedia.org/wiki/Determinismus Determinismus]-[http://de.wikipedia.org/wiki/Indeterminismus Indeterminismus]-Streit" in den Strafrechtswissenschaften, bei dem das Problem der Willensfreiheit in der Strafrechtslehre im Mittelpunkt stand.  
Ausgelöst durch den Schulenstreit und den Einfluss der modernen Kriminologie auf das Strafrecht entfachte sich am Ende des 19. Jahrhunderts auch der sog. "[http://de.wikipedia.org/wiki/Determinismus Determinismus]-[http://de.wikipedia.org/wiki/Indeterminismus Indeterminismus]-Streit" in den Strafrechtswissenschaften, bei dem das Problem der Willensfreiheit in der Strafrechtslehre im Mittelpunkt stand.  
Hierbei wurde sich die Frage gestellt, ob der Mensch aufgrund der Anlage- und Umwelteinflüsse seine Handlungen überhaupt frei beeinflussen kann und er in der Lage ist, sich bewusst für oder gegen eine Handlung zu entscheiden<ref>Bannenberg & Rössner, 2005, S. 11-12</ref>.
Hierbei wurde die Frage aufgeworfen, ob der Mensch aufgrund der Anlage- und Umwelteinflüsse seine Handlungen überhaupt frei beeinflussen kann und er in der Lage ist, sich bewusst für oder gegen eine Handlung zu entscheiden.<ref>Bannenberg & Rössner, 2005, S. 11-12</ref>


Wenn die Handlung des Täters neurobiologisch determiniert ist und sich der Täter nicht bewusst und eigenverantwortlich für oder gegen die Tat entscheiden kann, ist auch eine strafrechtliche Abschreckung irrelevant und es stellt sich unweigerlich die Frage nach der Schuld des Täters.  
Wenn die Handlung des Täters neurobiologisch determiniert ist und sich der Täter nicht bewusst und eigenverantwortlich für oder gegen die Tat entscheiden kann, ist auch eine strafrechtliche Abschreckung irrelevant und es stellt sich unweigerlich die Frage nach der Schuld des Täters.  


Einen Einstieg und Überblick zu der Bedeutung des Determinismus-Indeterminismus-Streits für das Strafrecht bietet der im Internet abrufbare [http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/05-02/hrrs-2-05.pdf Aufsatz von Spilgies]<ref>Spilgies, 2005, S. 45-48</ref>.
Einen Einstieg und Überblick zu der Bedeutung des "Determinismus-Indeterminismus-Streits" für das Strafrecht bietet der im Internet abrufbare [http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/05-02/hrrs-2-05.pdf Aufsatz von Spilgies].<ref>Spilgies, 2005, S. 45-48</ref>


Auch heutzutage blicken die Hirn- und Genforscher auf Fragen von Moral & Schuld und versuchen, kriminelles Verhalten mit Hilfe von neurobiologischen Ansätzen erklären zu können. Vergleiche dazu auch [[Neurokriminologie]]
Auch heutzutage blicken die Hirn- und Genforscher auf Fragen von Moral sowie Schuld und versuchen, kriminelles Verhalten mit Hilfe von neurobiologischen Ansätzen erklären zu können. Vergleiche dazu auch: [[Neurokriminologie]]


== Einzelnachweise ==
== Einzelnachweise ==