Unter den Talaren: der Myth von tausend Jahren!

Etymologie

Myth, zu Deutsch Mythos (pl. Mythen), verballhornt in Pidgin-Englisch: myff. Stammt ursprünglich aus dem Griechisch-lateinischen und bedeutet Wort, Rede, Erzählung, aber auch Sage bzw. Fabel. Heute wird der Begriff zumeist für vermeintliches Wissen verwendet.

Definition

Ein Mythos ist eine Aussage, die letztgültig sein soll. Ein Mythos erhellt den Grund aller Erscheinungen des Daseins und beschreibt eine Idee oder Auffassung, deren Verwurzelung in der Realität höchst unterschiedlich ist. Ihre Haupteigenschaften sind ihre Unzerstörbarkeit und ihr Glaubenspotenzial. Prinzipiell kann ein umgekehrt reziproker Zusammenhang zwischen Realitätsnähe und Unzerstörbarkeit/Glaubenspotenzial konstatiert werden. Von der Ideologie unterscheidet sich der Mythos durch seine geringe oder zum Teil völlig unzureichende bzw. willkürlich vornehmbare "rationale" Interpretierbarkeit. Nach ihrem Inhalt kann man im wesentlichen unterscheiden: Mythen

1) vom Anfang der Welt (kosmogon. M.)

2) vom Ende der Welt (eschatolog. M.), meist damit verknüpft ...

3) von der Entstehung der Götter (theogon. M.)

4) vom Wechsel der Tages- und Jahreszeiten (kosmolog. M.)

5) von der Entstehung des Menschen (anthropogon. M.)

6) von den Ursprüngen der Völker, Stiftung religiöser Kulte und Begründung gesellschaftlicher Ordnung (ätiolog. M.).

Begriffsgeschichte

Wann der Begriff in der Kriminologie erstmals auftauchte, ist nicht bekannt. Da jedoch die Kriminologie eine sehr junge Wissenschaft ist, haben Mythen von Anfang an existiert und die Kriminologie in Theorie und Praxis hartnäckig begleitet.

Typische Mythen

  • Die Idee, der Masterstudiengang Internationale Kriminologie verhülfe zu einer Stelle als ProfilerIn (cf. in diesem Zusammenhang auch die Publikation des BKA: "Wie kann ich Profiler werden?" (PDF-Datei)). Damit ein Stück weit in Zusammenhang stehend auch der Mythos, es sei durch beharrliches kriminalistisches Fremdgehen möglich, den Studiengang über wissenschaftliche Trinkversuche hinaus doch noch stärker polizeilich-technisch anzubinden.
  • The myth of the sovereign state (Garland 2001).
  • Being on the list (comment: which is not a myth, actually, as we all are ...).
  • The myth of E. Fitzgerald (who is still on the list).
  • The myth of a strict principle of legality.
  • Der Mythos von der Vorrangigkeit des kriminellen Verhaltens, das es kausal zu erklären gelte.
  • Wer Freitag schreibt, ist selber schuld.
  • Das T-Shirt von Frau Kressi und der Uschi.
  • Alle (geschriebenen und bereits bewerteten) Klausuren seien ohne Probleme im Prüfungsamt abzuholen. Dazu gehörig der Mythos, man müsse einfach nur die Hausarbeit am Tresen abgeben (Praktischer Tipp: Jeder Kneipentresen ist interessierter, cf. auch Huber 2000).
  • Für einen Vortrag bei der Common Session erhält man die heißgeliebten Credit Points.
  • Der Mythos von um 22.15 Uhr endenen Partys (cf. auch hier Huber 2000).
  • Ein weiterer, sich als äußerst resistent erweisender Mythos ist der, dass harte Strafen abschreckend seien. Praktisch ebenso unzerstörbar ist der Glaube daran, man könne doch noch ein wie auch immer geartetes Merkmal (meist ein biologisches, physiologisches oder physisches Korrelat) finden, das den Verbrecher per se sichtbar macht. Diese Hoffnung zieht sich von Lombroso bis heute durch (vgl. Mörderchromosom). Dass ein solches Korrelat unter kriminalpolitischen Gesichtspunkten sehr praktisch wäre, ist nicht von der Hand zu weisen.
  • Ein gerade laut geträumter (professoraler) Mythos ist der einer "general theory of crime" (cf. z. B. Gottfredson und Hirschi 1990). Es wird beharrlich versucht, eine solche Möglichkeit anhand rechtwinkliger Dreiecke plausibel zu machen. Was bislang weitgehend erfolglos bleibt. Menschliches Verhalten weist keine Tendenz zur Rechtwinkligkeit auf (trotz jahrhundertelanger Disziplinierungsversuche), weshalb eine allgemeine Kriminalitätstheorie nicht denkbar ist. Daher bleibt den Kriminologen trotz aller mathematischer Anlehnungsversuche der Weg in die Astrophysik versperrt.
  • Auch im Bereich des Community policing gilt es, mit Mythen aufzuräumen: "George Dixon and the way he's solving problems and mysteries is a myth" (Fletcher 2006).

Zusammenhang mit anderen Begriffen

Der Mythos, dass harte Strafen abschreckend seien, ist wesentlich mitverantwortlich für Entwicklung und Ausbau der situative crime prevention. Die Idee eines Korrelats krimineller Energie hat nicht nur arbeitsmarkttechnische Vorteile, verschafft sie doch Kriminologen immer wieder Arbeit und wirkt dadurch Arbeitsplatz erhaltend. Sie eignet sich auch für die Seelenhygiene der aufrechten und kampfbereiten Kritischen Kriminologen, die durch derlei Ideen immer wieder Material geliefert bekommen, an dem sie sich abarbeiten, über das sie sich aufregen und zu dem sie publizieren können. Diese guten Seiten haben Mythen solcher Art auch den Sammelbegriff Positivismus eingetragen.

Kriminologische Relevanz

Da gerade die Kriminologie zu den Wissenschaften gehört, die gerne mit (zum Teil liebgewonnenen) Mythen aufräumt, sieht sie sich natürlich ständig, man möchte fast sagen hauptberuflich, mit Mythen konfrontiert (vgl. Don-Quichotismus). Studentische kriminologische Relevanz entfaltete der Begriff erstmals im Wintersemester 2005/2006 im Seminar "International Criminal and Security Policy". Er erweist sich seither als hartnäckiger, liebgewonnener Begleiter in allen kriminologischen Lebenslagen.

Im Text verwendete Literatur

  • Fletcher, Robin 2006: Street Wise, Street Blind – Intelligence Sharing on the Front Line, Vortrag bei den Common Sessions am 9. Mai, Hamburg.
  • Garland, David 2001: The Culture of Control. Crime and Social Order in Contemporary Society, Chicago, IL.
  • Gottfredson, Michael R. und Hirschi, Travis 1990: A General Theory of Crime, Stanford, CA.
  • Huber, Andreas 2000: "Kontrolliertes Trinken: Mythos und Wirklichkeit", Psychologie heute 27, Heft 7, Seite 52 bis 53.
  • Matthews, Roger 2005: "The Myth of Punitiveness", Theoretical Criminology 9, Heft 2, Seite 175 bis 201.
  • Scheingold, Stuart 1984: The Politics of Law and Order. Street Crime and Public Policy, New York, NY.

Weiterführende Literatur

Empfehlenswert ist außerdem sämtliche kriminologische Literatur, wenn sie die folgenden Bedingungen erfüllt:
1. die Literatur befasst sich mit einem Mythos oder
2. der Begriff Myth(os) ist enthalten.
So zum Beipiel:

  • Albrecht, Günter/Backes, Otto/Kühnel, Wolfgang (Hrsg.) 2001: Gewaltkriminalität zwischen Mythos und Realität, Frankfurt am Main.
  • Campbell, Joseph 1989: Die Kraft der Mythen: Bilder der Seele im Leben des Menschen, Zürich u. a.
  • Ewald, Uwe 2006: "Kollektive Massentötungen und die Rede vom aufsteigenden Mythos internationaler Strafjustiz", Kriminologisches Journal 38, Heft 1, Seite 32 bis 48.
  • Fagan, Jeffrey: "Myths and Realities about Crack." Contemporary Drug Problems 16 (1989): 527-33.
  • Farell, Warren 1994: The Myth of Male Power: Why Men Are the Disposable Sex, London.
  • Мелетинский, Елеазар Моисеевич: Поэтика мифа. Москва: Наука 1976.
  • Peterson, Robert: "Legalization: The Myth Exposed." In Searching for Alternatives, edited by Melvyn B Krauss and Edward P. Lazear. Stanford: Hoover Institution Press, 1991.
  • Püschel, Klaus u. a. 2003: Klaus Störtebeker – Ein Mythos wird entschlüsselt, München.