Lombrosianischer Mythos

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Der Lombrosianische Mythos ist ein Begriff, der von den Soziologen Alfred R. Lindesmith und Yale Levin durch ihren Aufsatz The Lombrosian Myth in Criminology im Jahre 1937 geprägt wurde. Der Artikel hinterfragt die Bedeutung und Stellung des italienischen Arztes und Begründers der Kriminalanthropologie Cesare Lombroso als Gründungsvater der Kriminologie und setzt ihn in den historischen Kontext.

The Lombrosian Myth in Criminology

Die beiden Autoren schreiben:

Die vorherrschende Auffassung von Lombroso als Gründer der wissenschaftlichen Kriminologie in diesem Lande kann am ehesten als Mythos beschrieben werden.
Viele frühere Kriminalitätsstudien entsprechen nahezu zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Studien. Eine große Bandbreite an Literatur über jugendliche Delinquenz, Berufsverbrechertum, Kriminalitätsgründe und anderer Aspekte der Kriminologie existierten bereits als Lombroso mit seiner Arbeit begann. Die Heranziehung von autobiografischen Dokumenten, die Verwendung von offiziellen Statistiken, der Umweltansatz sowie Studien über den Kriminellen "in the open" waren selbstverständlich und wurden lange vor der Zeit der Italienischen Schule angewandt. Vom soziologischem Gesichtspunkt her repräsentiert die Ankunft Lombrosos eher einen Rückschritt oder ein Zwischenspiel als einen Fortschritt im Verlauf der Kriminologie. Die Dunkelheit dieser früheren Arbeit kann am besten als Ergebnis von verschobenen Prestigewerten erklärt werden, die der Bedeutung des Sozialdarwinismus in den Sozialwissenschaften, der wachsenden Popularität von psychologischen oder anderen individuellen oder biologischen Theorien im späten 19. Jahrhundert sowie der Isolation der amerikanischen Kriminologie von früheren europäischen Entwicklungen geschuldet sind. [1] (Übersetzung: H.B.)

der Kriminologiebegriff

Die Debatte um den Gründungsvater der Kriminologie entscheidet sich am maßgeblich am Begriff der Kriminologie. ... KAISER

Die Anfänge der Kriminologie und der kriminologischen Forschung wurden vor allem durch einzelpersönlichkeiten, die "pioneers of criminology", wie Mannheim sie nennt, bestimmt. jede der Bezugswissenschaften der KRO kann mindestens einen solchen Namen ins Feld führen, von denen hier nur einige erwähnt werden sollen (SCHWIND, 88)


Die wissenschaftliche Kriminologie hat eine erst kurze Geschichte, aber eine lange Vergangenheit [4]. Obwohl Verbrechen und deviantes Verhalten die Menschen zu alle Zeiten und an allen Orten bewegt haben, begann die empirisch-methodische Ursachenforschung von kriminellem Verhalten vergleichsweise spät. In einem ebenfalls 1937 erschienenen Artikel in greifen beide Autoren das Thema nochmals auf und versuchen aufzuzeigen, dass der biologische Determinismus von Lombroso, den er in seinem Werk L'uomo delinquente von 1876 begründete, in der Tat ein Zwischenspiel darstellt. Sie schreiben: Im Widerspruch zu den sich im Umlauf befindlichen Behauptungen, welche von der Entwicklung vom "Umweltansatz" bis zur Kriminalitätsforschung als eine des 20. Jahrhunderts sprechen, glauben wir ausreichend dargestellt zu haben, dass der Ansatz im frühen 19. Jahrhundert von Gelehrten in verschiedenen Ländern, die jeweils um die Arbeiten des anderen wussten, systematisch angewandt wurde. Die erste systematische Studie in diesem Bereich wurde offensichtlich in Frankreich von A. M. Guerry und in Belgien von von A. Quetelet in den 1830er Jahren betrieben. [2] (Übersetzung: H.B.)

Warum aber meistenteils Lombroso mit der Veröffentlichung seines Werkes L'uomo delinquente 1876 als der Gründungsvater der wissenschaftlichen Kriminologie angesehen wird, ist Kernstück der Kritik von Lindesmith und Levin. So bezeichnen sie zum Beispiel die kriminalsoziologischen Forschungen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in England und Frankreich als Niemandsland der Kriminologiegeschichte, deren Quellen bedingt durch einen militanten biologischen Determinismus der italienischen Schule [QUELLE5] übersehen werden.


Die Entwicklungsgeschichte der Kriminologie wurden zweifelsohne von zahlreichen Wissenschaftlern geprägt, die allesamt und auf ihre Weise einen Beitrag für die Institutionalisierung und Konsolidierung der Kriminologie als eigenständige Wissenschaft geleistet haben. Wie berechtigt ist aber die Frage nach kriminologischem Gedankengut in einer Zeit, in der eine die Erscheinung von Kriminalität und deren Ursachen untersuchende Wissenschaft noch gar nicht existierte? Alle alle Wegbereiter der heutigen Kriminologie waren seinerzeit auf unterschiedlichsten wissenschaftlichen Gebieten tätig, die heute zwar heute der modernen Kriminologie zuzurechnen sind, in vergangenen Tagen aber eher Teilgebiete ihrer Disziplinen darstellten.


Der historische Kontext

Wegbereiter

Erste Überlegungen zu Kriminalitätsgründen und Ursachen finden sich bereits im antiken Griechenland. So fragt bereits Platon in seinen Schriften Apologie und Phaidon nach... ##### ... nach der Antike wurde bis zum Anbruch der Neuzeit jegliche Form der Kriminalität eng mit Sünde und Häresie konnotiert, so dass die allgemeine Gerichtsbarkeit in den Händen der unterschiedlichen von Gottes Gnaden ernannten Fürsten oder auch in denen der Kirche in Form der Inquisition lag. Die Frage und Suche nach Kriminalitätsgründen und -ursachen war damit zunächst in den Bereich der Religion gerückt und dem Zugriff der Wissenschaft vorerst entzogen. Bereits die sich in 15. und 16 Jahrhundert ausbreitende humanistische Weltanschauung führte zu einer weiteren Beschäftigung mit kriminalsoziologischen Problemen. So stellte der englische Jurist und Staatsmann Thomas Morus (wahrscheinlich * 7. Februar 1478 in London; † 6. Juli 1535 ebenda) im Rahmen seines Romans Utopia die Frage nach dem Ursprung der Diebe und Räuber und schlug dabei vorbeugende Kriminalitätsbekämpfung durch Verminderung von Armut und Elend vor. So schreibt Morus in seinem Roman:

Er [der Jurist] erzählte, es würden allenthalben oft zwanzig [Diebe und Räuber] aufs mal an einem Galgen gehenkt, und fügte bei, da so wenige ihrer Strafe  entwischten, frage er sich um so mehr, welches Verhängnis daran Schuld sei, daß trotzdem so viele  Räuber ihr Unwesen trieben. ... Da sagte ich ... : „Das sei nicht zum Verwundern. Diese Bestrafung der Diebe geht über das Maß hinaus und nützt überdies dem Staate nichts. Um einen Diebstahl zu ahnden, ist sie nämlich zu scharf, und um diesem Treiben Einhalt zu tun, reicht sie nicht aus; denn weder ist das einfache Stehlen ein so ungeheuerliches Verbrechen, daß es den Kopf kosten muß, noch gibt es irgendeine Strafe, die schwer genug wäre, um einen Menschen vom Rauben abzuschrecken, wenn er kein anderes Gewerbe hat, mit dem er sein Leben fristen kann.“ [3]

Neben diesen


Nahezu gleichzeitig sah die Constitutio Criminalis Carolina Karls des V von 1532 bei Delikten wie Kindstötung und Tötung einen Sachverständigen zur empirischen Abklärung der Verbrechensursache vor (Kunz, S.33). Mit der beginnenden Renaissance begann sich sodann die Verbindung zwischen diesseitigen Verbrechen und jenseitigen Schicksal weiter zu lösen und der Weg war frei für wissenschafliche Erklärungsversuche und begleitende Reformen.

  • erste gerichtliche Fallsammlungen

Ein weiterer Eckpunkt in der Geschichte der Kriminologie bilden die Fallsammlungen von François Gayot de Pitaval (* 1673 in Lyon; † 1743 ebenda) und Paul Johann Anselm von Feuerbach (* 14. November 1775 in Hainichen; † 29. Mai 1833 in Frankfurt/Main). Sie gelten als erste Gerichtsberichterstatter, die durch ihre Sammlungen von Rechtsfällen [6] nicht nur die Prozessverläufe, sondern auch das Vorleben der Tatbeteiligten sowie die Tatbegehung und die -aufklärung darstellten. Durch diese Zusammenschau von Prozessbeobachtungen boten sich eine nunmehr erstmals empirische Sammlungen von Kriminalitätsfällen, die aus Sicht der wissenschaftlichen Methodologie heute nicht mehr wegzudenken wären. Wie Beccaria ist von Feuerbach der Tradition des öffentlichen, staatlichen Strafrechts verpflichtet. Er sieht das Strafrecht als legitimes Mittel der Steuerung durch den Staat an [9]. Von Feuerbach gilt als Begründer der deutschen Strafrechtslehre und hat hierbei einen wesentlichen Akzent auf die Generalprävention gelegt.

  • erste kriminalpolitische Studien und klassische Schulde der Kriminologie

Mit dem satirischen Briefroman Persische Briefe [7], einer Sammlung von fiktiven Briefen, die zwei Perser auf ihrer Reise durch Frankreich in ihre Heimat schicken, verfasste der französische Literat und Staatstheoretiker de Montesquieu (* vor dem 18. Januar 1689 bei Bordeaux; † 10. Februar 1755 in Paris) nebenbei auch mit eine der ersten kriminalpolitischen Studien der Neuzeit. Ihre Briefe beinhalten eine kritische Beschreibung des Okzidents und des christilichen Europas am Anfang des 18. Jahrhunderts. Im Achzigsten Brief schreibt Usbek an Rehdi in Venedig: “Wenn sich das Volk einer milden Regierung ebenso unterordnet wie einer strengen, so ist erstere vorzusiehen, weil sie eher der Vernunft entspricht und weil Strenge ein fremdartiger Beweggrund ist. Bedenke, lieber Rhedi, daß die Höhe der Strafen in einem Staat nicht bewirkt, daß die Gesetze eher befolgt werden. In den Ländern, wo die Strafen maßvoll sind, werden sie ebenso gefürchtet wie in denen, wo sie tyrannisch und abscheulich sind.“ (Montesquieu, 1991, S.154) Mehr als 40 Jahre später erscheint in Mailand, das damals der österreichischen Lombardei angehörte, das Werk Dei delitti e delle pene, eine Denkschrift von 106 Seiten Umfang, die bereits wenige Jahre nach ihrem Erscheinen Englische, ins Französische und ins Deutsche übersetzt wurde und die Strafrechtsreformen der Länder Europas massiv beeinflusste. Dem Autor, der italienische Jurist und Straftheoretiker Cesare Beccaria ( *15. März 1738 in Mailand; 28. November 1794 ebenda), steht der Verdienst zu, mit diesem Werk die moderne Kriminalpolitik und die klassische Schule der Kriminologie begründet zu haben. Beccaria argumentiert ausgehend von der Theorie des Hobbschen Gesellschaftsvertrages, der nach dem Glück der größten Zahl strebt, und nach den Grundsätzen von Humanität in Effektivität für ein Willkürverbot der Verfolgungsbehörden, für die strenge Bindung eines Richters an das Gesetz, für die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung und gleichzeitig der Abschaffung von geheimen Verhandlungen, für die Abschaffung von Folter, der so genannten Peinlichen Befragung, als strafprozessuales Mittel, für den nahezu vollständige Verzicht der Todesstrafe sowie deren Ersatz durch öffentlich zu leistende Zwangsarbeit und schließlich für eine vorbeugende Kriminalpolitik, deren gesellschaftlicher Nutzen im Vordergrund stehen sollte. In seinem Werk stellt er fest: „Es ist besser, Verbrechen zu verhüten als zu bestrafen“ [11 Quelle] Durch seine begründete Strafrechts- und Strafvollzugskritik leistet er indirekt der Kriminalprävention seiner Zeit wertvolle Dienste. Durch die Betonung der Nützlichkeit im Handeln des Staates führt er den Utilitarismus von John Stuart Mill (* 20. Mai 1806 in London; † 8. Mai 1873 in Avignon) und Jeremy Benthem (* 15. Februar 1748 in London; † 6. Juni 1832 ebenda) fort und wird daher auch als geistiger Vater der klassischen Schule der Kriminologie angesehen. [13] Rückblickend erscheint Beccarias Werk jedoch weder inhaltlich ingeniös noch methodisch belastbar, da sein kriminalpräventives Programm noch nicht auf empirisch überprüfbaren Annahmen über die mutmaßliche Entstehung von Verbrechen beruht. [8] Methodische Grundsätze einer wissenschaftlichen Datenerhebung oder Erforschung lassen sich bei Beccaria somit noch nicht erkennen. Elio Monachesi schrieb 1972 „Der Beifall, den es [das Werk; H.B.] erhielt, beruhte nicht auf der exklusiven Originalität, tatsächlich wurden die von Beccaria verfochtenen Reformen von anderen aufgestellt, sondern weil es den ersten erfolgreichen Versuch darstellte, ein in sich konsistentes und logisches Strafsystem vorzustellen – ein Strafsystem, um es an die Stelle der den verwirrenden, unsicheren, missbrauchenden und inhumanen Praktiken innewohnenden Strafgesetze und Justizsysteme seiner Zeit zu setzen.“ [12] (Übersetzung: H.B.)


  • Strafvollzugsreformen

Insbesondere die Strafreform nach dem Gesichtspunkt des Utilitarismus wurde zur Zeit der Entstehung von Beccarias Denkschrift maßgeblich in Europa von dem englischen Juristen und Ethiker Jeremy Bentham vertreten, der u.a. versuchte, ein utilitaristisches Ethiksystem zu entwickeln, um mit diesem der steigenden Kriminalität in England Herr zu werden. [14] Eine Handlung war nach Bentham nützlich, wenn sie dazu dienlich war, Positives zu produzieren oder das Eintreten von Negativem für diejenigen, für die die Handlung von Interesse war, zu verhindern. [15] Bentham sah es dabei als Aufgabe der Strafgesetze an, unerwünschtes Verhalten durch geeignete Sanktionen zu verhindern. Um die Rechtsprechung und den Strafvollzug zu rationalisieren, sollten diese Gesetze generalpräventiv wirken [16]. Eine besondere Form sowohl Effizienz mit Generalprävention zu verbinden, sah Bentham in Form des von ihm entwickelten Konzeptes des Panopticons, das durch seine markante Bauweise und stadtnahe Erbauung den Einwohnern der Stadt einerseits eine ständige Ermahnung zur Gesetzestreue andererseits durch die Form der Insassenkontrolle mit einem Minimum an Personal zu betreiben sein sollte. [17] Bentham setzte mit seinen Reformbemühungen sich für gerechtere und humanere Strafen ein und etablierte letztendlich ein Strafsystem in England, dass sich in der Folgezeit - auch mit Hilfe des Werkes von Beccaria - über den gesamten europäischen Kontinent ausbreitete. Bentham gilt daher durch seine vielen Reformbemühungen als einer der wichtigsten Sozialreformer im England des 19. Jarhunderts.


John Howard

  • 2. September 1726 in Hackney bei London; † 20. Januar 1790 in Cherson/Krim

Sein Lebenswerk war die Reform der Staatsgefängnisse, die er systematisch begründete und damit in England eine neue Gesetzgebung hervorrief, die dann sukzessive den europäischen Strafvollzug wesentlich humaner gestaltete (bedeutendste Schrift: The State of the Prisons in England and Wales, erste Ausgabe erschienen Warrington, Eyres, 1777).

Beobachtungen und Reformbestrebungen im Gefängniswesen Werk: State of prisons in England and Wales (1777) = Anstoß zu einer internationalen Reformbewegung des Strafvollzuges

Nikolaus Heinrich Julius 03. Oktober 1783 in Altona; † 20. August 1862 in Hamburg) Gefängnisreformer

Johann Peter Frank (* 19. März 1745 in Rodalben; † 24. April 1821 in Wien) der Begründer der Sozialhygiene als Wissenschaft

Die von Beccaria gegründete Klassische Schule der Kriminologie begründete ihrerseits noch keine eigenständige wissenschaftliche Disziplin, sondern folgte eher einer in dieser Epoche vorherrschenden humanitären und effizienzorientierten Strafrechtskritik. Weder sind spezielle Ansätze zur Untersuchung von Kriminalität ersichtlich noch differenzierte Erlärungsversuche zur Ursache von Kriminalität dargelegt worden. [18] Kriminologische Studien erscheinen vor diesem Hintergrund eher als zufällige Abschweifung der Bezugsdisziplinen als Teilgebiete einer souveränen und autonomen Wissenschaft.


Die Moralstatistiker

Erste wissenschaftliche Methoden weisen erst die Studien des französischen Juristen und Statistiker André-Michel Guerry (* 24.Dezember 1802 in ???; † 09. April 1866 in ???) auf, der im Jahre 1833 erstmals das Zahlenmaterial über die französische Kriminalität der 1825 bis 1830 auf einer Landkarte zusammenträgt. Guerry bemerkte auf diese Weise für seine Zeit erstaunliche Regelmäßigkeiten in den Mittelwerten, sowohl bezogen auf die Kriminalitätsarten als auch auf die soziale Schicht, das Alter oder das Geschlecht. [20] Durch das Studium ihrer Gesamtheit, erreichte somit Guerry erstmals, die scheinbare Willkür des einzelnen Verbrechens statistischen Regeln zu unterwerfen. So konnte er auch - entgegen der landläufigen Annahme - statistisch nachweisen, dass es mitnichten ausreicht, einen Menschen zu unterrichten, um diesen glücklicher und gesetzestreu zu machen. [21] Etwa zur gleichen Zeit begann der Astronom Adolphe Quetelet (* 22. Februar 1796 in Gent; † 17. Februar 1874 in Brüssel) im benachbarten Belgien ebenfalls mit statistischen Analysen, wobei er aber umfangreicher und weitgehender vorging als Guerry zur gleichen Zeit in Frankreich und bspw. demographische und soziale Variablen statistisch in Beziehung setzten. [24] Quetelet wollte die Statistik in den Rang einer eigenständigen Sozialwissenschaft erheben und somit durch die Erforschung von Ursachen sozialer Regelmäßigkeiten auch Aussagen über zukünftige Entwicklungen treffen können. [22] Er untersuchte dazu die Gesetzmäßigkeiten der körperlichen als auch der geistigen Kräfte, denen die Menschen unterliegen und versuchte durch eine nur genügend große Grundgesamtheit und ihrem Mittelwert die individuellen Abweichungen vernachlässigbar zu machen und die Konstanz ihrer Korrelation sichtbar zu machen. [23] Obwohl Quetelet nicht an den Determinismus glaubte und dem Menschen einen freien Willen zugestand, versagte er ihm einen Einfluss auf die Gesellschaft als Ganzes. Gilt Guerry als der Begründer der Kriminalgeographie, darf Quetelet als der Urheber der


„Es gibt ein Budget, das mit erschreckender Regelmäßigkeit bezahlt wird, nämlich das der Gefängnisse, der Galeeren und der Schafotte. ... Wir können im voraus aufzählen, wie viele ihre Hände mit dem Blute ihrer Mitmenschen besudeln werden, wie viele Fälscher, wie viele Giftmischer es geben wird, fast so, wie man im voraus die Geburten und Todesfälle angeben kann, die einander folgen müssen“ (KUNZ 39)

die moderne Kriminologie

Mitte des 19. Jahrhunderts befand sich Europa im Wandel. Die Industrialisierung erfasst immer größere Bereiche der Wirtschaft und beginnt, die Arbeitsverhältnisse und -prozesse sowie die Lebensumstände der Arbeiter mehr und mehr zu verändern. Medizinische Fortschritte, die Einführung medizinischer Standards führen sowie sichere Ernten führten Anfang des 19. Jahrhunderts zu einem rasanten Bevölkerungszuwachs aber mit zunehmender Landflucht und Herausbildung einer Lohnarbeiterschaft auch Ausbeutung, Massenelend und Pauperismus der mittellosen Stadtbevölkerung. Unter diesen Voraussetzungen des Frühindustrialismus entwickelt der französische Soziologe Emile Durkheim (* 15. April 1858 in Épinal; † 15. November 1917 in Paris) als Gegenstück zum Utilitarismus der Klassischen Schule seine Anomietheorie, die sich auf die Modernisierungsprozesse einer arbeitsteiligen Industriegesellschaft bezieht. [19] Durkheim stellt dabei erstmals vor, dass Kriminalität struktureller Bestandteil einer jeden Gesellschaft sein muss und „normal“ ist.



a) krank, entartet, degeneriert (positive Schule) b) sozial verelendet


Paul Topinard (1830-1911) - Zuschreibung der ersten Verwendung des Begriffes KRO auf das Jahr 1879 (unsicher)

Der positivismus und die Italienische Schule

Cesare Lombroso

Cesare Lombroso November 6, 1835 – October 19, 1909 Raffaele Garofalo (* 1852; † 1934) Enrico Ferri

  • 25. Februar 1856 in San Benedetto Po; † 12. April 1929 in Rom

Nennung des Begriffs Criminologia (Lehrbuch) 1885

  • Auguste Comte


Franz von Liszt (* 2. März 1851 in Wien; † 21. Juni 1919)

Emile Durkheim (* 15. April 1858 in Épinal, Frankreich; † 15. November 1917 in Paris)

Die Kriminalpathologie

Die Kriminalsoziologie

(Die Französische Schule)

Alexandre Lacassagne

Alexandre Lacassagne

  • 17. August 1843; † 24. September 1924 in Cahors,

Gabriel Tarde

  • 12. März 1843 in Sarlat; † 13. Mai 1904 in Paris

Armand-Marie Corre

sozialistische Kriminologie

Friedrich Engels (1845) Die Lage der arbeitenden Klasse in England Bonger


Mehrfaktorenkonzept eklektisch-mehrdimensionale Betrachtung von KRI Vereinigungstheorie

Ergebnis

Zitate

Es kommt nicht so sehr darauf an, Beccaria vielleicht zum Begründer der Kriminologie küren zu wollen [10]. Das dürfte aus verschiedenen Gründen so eindeutig nicht möglich sein, insbesondere angesichts seiner weitreichenden Rezeption gesellschaftstheoretischen (incl. Kriminologischen) Gedankenguts anderer Köpfe der Aufklärung sowie der nur punktuellen, usystematiscehn, mehr prosaisch als theoretischgefaßten Äußerungen kriminologischen Charakters. (Kräupl, 1989, S. 150)

Es ist unter Kriminologen heute allgemein akzeptiert, daß die Kriminologie als Wissenschaft keineswegs mit den Forschungen des italienischen Arztes Cesare Lombroso (1835-1909) begonnen hat. Aber wahrscheinlich war die Kriminologie nie zuvor und danach so populär wie in jenem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, nachdem Lombroso sein Buch über den geborenen Verbrecher "L'uomo delinquente" 1876 veröffentlicht hatte. (Stangl, 1988, S. 68, m.w.N.)

Die Ursprünge der modernen Kriminologie werden in der Literatur meist nicht weiter zurückverfolgt als auf Cesare Lombroso. Lombroso gilt als eigentlicher Begründer der Kriminologie. Entdeckungen wesentlich älteren Datums werden häufig mit seinem Namen verknüpft oder doch der von ihm geführten italienischen Schule zugeschrieben, und wo die kriminologischen Forschungen der vor-lombrosianischen Aera, etwa die bahnbrechenden Studien Quetelet's oder Guerry's überhaupt Erwähnung finden, da erscheinen die meist als bloße Vorläufer einer doch erst von Lombroso zur Wissenschaft entwickelten Disziplin. (Mechler, 1970, S. 1)

Dadurch, dass die Mehrzahl der Kriminologen die Kriminologie mit der Elle des wissenschaftlichen Instrumentariums misst, kommt es zu der Verbannung eines Cesare Beccaria (1738-1794) [...] in den Vorhof der Kriminologie auf der einen Seite und und zur Stilisierung der sogenannten positiven Schule von C. Lombroso (1835-1909) zur eigentlichen Begründerin der Kriminologie auf der anderen Seite. (Sack, 1978, S. 231) (QUELLE)

Das kriminalpräventive Programm Beccarias beruht allerdings noch nicht auf empirisch überprüfbaren Annahmen über die mutmaßliche Entstehung des Verbrechens. Ansätze einer methodisch kontrollierten Erforschung von Verbrechensursachen sind in seinem Werk noch nicht erkennbar. (Deimling, 1989, S. 165)

Peter Strasser, Verbrechermenschen

Anmerkungen

[1] "The prevailing conception in this country of Lombroso as the founder of scientific criminology may best be described as a myth. Many earlier studies of crime closely parallel contemporary sociological studies. An extensive literature upon juvenile delinquency, professional crime, crime causation, and other aspects of criminology was already in existence when Lombroso began his work. The use of autobiograpgical documents, the employment of official statistics, the ecological approach, and the study the criminal "in the open," were understood and applied long before the time of the Italian school. From a sociological viewpoint, the advent of Lombroso represents a retrogression or an interlude in the progress of criminpology rather than a step in advance. The eclipse of the earlier work may perhaps best be explained as a result of shifting prestige values associated wit the importation of social Darwinism into the social sciences, with the growing popularity, in the later part of the nineteenth century, of psychiatric and other individualistic or biological theories, and with the isolation of American criminology from earlier European developments. (Lindesmith/Levin 1937, Seite 653) [2] "Contrary to widely circulated assertions which speak of the "ecological approach" to the study of crime as a twentieth century developement, we believe that it has been amply demonstrated that this approach was unsystematically employed in the early part of the nineteenth century by scholars in different countries who were aware of each other's work. The first systematic work in this field was apparently done in France by A.M. Guerry and in Belgium by A. Quetelet in the 1830's." (Lindesmith/Levin, 1937a, Seite 815) [3] Morus, 1981, Seite 25-26 [4] Göppinger, 1980, Seite 21 [5] Y. Levin and A. Lindesmith, 1937a [6] Merkwürdige Kriminalrechtsfälle (Gießen 1808 und 1811, Gießen 1839) und Causes célèbres et intéressantes, avec les jugemens qui les ont décidées (QUELLE) [7] Lettres Persanes 1721, dt. Persische Briefe, Reclam, 1991 [8] Deimling 1989, Seite 165 [9] Naucke, 1989, Seite 44 [10] Vergl. eine solche Bewertung bei Monachesi, E., C. Beccaria. In: Mannheim, H. (Hrsg.), Pioneers in Criminology, London 1960. [11] [12] "The acclaim it received was not because its contents were exclusively original, as a matter of fact many of the reforms Beccaria advocated had been proposed by others, but rather because it constituted the first successful atempt to present a consistent and logically constructed penological system - a system to be substituted for the confusing, uncertain, abusive and inhuman practises inherent in the criminal law and penal system of his world." (Monachesi, 1972, Seite 48) [13] vgl. Kunz, Seite 36 [14] vgl. Geis, Seite 54 [15] vgl. Geis, Seite 54-55 [16] vgl. Geis, Seite 61 [17] vgl. Geis, Seite 64-66 [18] vgl. Kunz, Seite 36-37 [19] vgl. Kunz, Seite 39 [20] vgl. Mechler, Seite 13 [21] vgl. Mechler, Seite 15 [22] vgl. Mechler, Seite 23 [23] vgl. Mechler, Seite 33-34 [24] vgl. Pilgram, Seite 250 [25] [26] [27] [28]


Literatur

  • Deimling Gerhard (1989) Der gesellschaftskritische Ansatz des Präventionsgedankens im Werk Beccarias, in: Deimling, G. (Hrsg.): Cesare Beccaria, C.F.Müller, Heidelberg: 165-178
  • Hering, Karl-Heinz (1966) Der Weg der Kriminologie zur selbständigen Wissenschaft, Kriminologische Schriftenreihe, Band 23, Kriminalistik Verlag Hamburg
  • Morus, Thomas (1981), Utopia, Diogenes, Zürich
  • Kaiser, Günther (1985) Kriminologie, Eine Einführung in die Grundlagen, C.F. Müller, Heidelberg
  • Kunz, Karl-Ludwig (2008) Kriminologie, Haupt Verlag, Bern
  • Kräupl, Günther (1989) Die Gesellschaft, der Einzelne und das Verbrechen – Beccarias kriminologisches Verständnis. In: Deimling, Gerhard (Hrsg.): Cesare Beccaria, C.F.Müller, Heidelberg: 149-163
  • Geis, Gilbert, (1972) Jeremy Bentham (1748-1832), In: Mannheim, Hermann (Hrsg.), Pioneers in Criminology, Patterson Smith, Montclair/New Jersey, 51-68
  • Hering, Karl-Heinz (1966) Der Weg der Kriminologie zur selbständigen Wissenschaft, In: Mergen, Armand (Hrsg.) Kriminologische Schriftenreihe, Band 23, Kriminalistik Verlag, Hamburg
  • Kürzinger, Josef (1995) Kriminologie, Eine Einführung in die Lehre vom Verbrechen, Richard Boorberg Verlag Stuttgart
  • Lindesmith, Alfred R. und Yale Levin (1937) The Lombrosian Myth in Criminology, American Journal of Sociology 42: 653-671.
  • Lindesmith, Alfred R. und Yale Levin (1937a) English Ecology and Criminology of the Past Century. In: Journal of Criminal Law und Criminology 27: 801-816,

aus: http://emedien.sub.uni-hamburg.de/han/52244/www.jstor.org/stable/1137531

  • Mechler, Achim (1970) Studien zur Geschichte der Kriminalsoziologie, Kriminologische Studien, Band 5, Verlag Otto Schwartz & Co Göttingen
  • Monachesi, Elio (1972) Cesare Beccaria. In: Mannheim, Hermann (Hrsg.), Pioneers in Criminology, Patterson Smith, Montclair/New Jersey, 36-50
  • Naucke, Wolfgang (1989) Die Modernisierung des Strafrechts durch Beccaria. In: Deimling, G. (Hrsg.): Cesare Beccaria, C.F.Müller, Heidelberg: 37-53
  • Pilgram, Arno (I993) ökonomische Kriminalitätstheorien, In: Kaiser, Güther/Kerner, Hans-Jürgen/Sack, Fritz/Schellhoss, Hartmut (Hrsg.): Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3.Auflage, C.F.Müller Juristischer Verlag, Heidelberg: 250-253
  • Sack, Fritz (1978) Probleme der Kriminalsoziologie. In: König, Rene (Hrsg.), Handbuch der Empirischen Sozialforschung, Band 12, Wahlverhalten, Vorurteile, Kriminalität, Stuttgart, S. 192-492.
  • Stangl, Wolfgang (1988) Wege in eine gefängnislose Gesellschaft, über die Verstaatlichung und Entstaatlichung der Strafjustiz, Verlag der österreichischer Staatsdruckerei
  • Strasser, Peter (1984) Verbrechermenschen, Zur kriminalwissenschaftlichen Erzeugung des Bösen, Campus, Frankfurt/Main
  • Wolfgang, Marvin E. (2000) Precursor of Modern Criminology, In: Jehle, Jörg-Martin/Rössner/Dieter (Hrsg.): Beccaria als Wegbereiter der Kriminologie, Forum Verlag Godesberg, Mönchengladbach: 27-35

Weblinks