Kriminalitätsfurcht: Unterschied zwischen den Versionen

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Kriminalitätsfurcht wurde erstmals 1965 in den USA (fear of crime) und Deutschland im Rahmen von Opferbefragungen durch die Frage danach erhoben, ob man sich fürchte, nachts im eigenen Stadtteil allein unterwegs zu sein. In den siebziger Jahren folgten vergleichbare Untersuchungen in europäischen Ländern, in Japan und in Australien.
Kriminalitätsfurcht wurde erstmals 1965 in den USA (fear of crime) und Deutschland im Rahmen von Opferbefragungen durch die Frage danach erhoben, ob man sich fürchte, nachts im eigenen Stadtteil allein unterwegs zu sein. In den siebziger Jahren folgten vergleichbare Untersuchungen in europäischen Ländern, in Japan und in Australien.


Es zeigte sich, dass es ein großes [[Dunkelfeld]] gab, die Kriminalitätsbelastung der Bevölkerung also wesentlich höher war, als es die [[Polizeiliche Kriminalstatistik]] vermuten ließ. Zudem gab ein relativ großer Prozentsatz der Bevölkerung Furcht vor einer Viktimisierung an. Diese Befunde erweckten Interesse an der Kriminalitätsfurcht und am Opfer, auf das sich die kriminologische Forschung zunächst konzentrierte (Boers 1991: 7ff.).
Es zeigte sich, dass es ein großes [[Dunkelfeld]] gab, die Kriminalitätsbelastung der Bevölkerung also wesentlich höher war, als es die [[Polizeiliche Kriminalstatistik]] vermuten ließ. Zudem gab ein relativ großer Prozentsatz der Bevölkerung Furcht vor einer Viktimisierung an. Diese Befunde erweckten Interesse an der Kriminalitätsfurcht und am Opfer, auf das sich die kriminologische Forschung zunächst konzentrierte (Boers 1991: 7 ff.).


Es werden drei Ansätze unterschieden, die das Phänomen Kriminalitätsfurcht theoretisch zu erklären versuchten: die Viktimisierungsperspektive, die Soziale-Kontroll-Perspektive und die Soziale-Problem-Perspektive. In jüngerer Zeit unternahm Boers (1991) den Versuch, die in der Vergangenheit gewonnenen Erkenntnisse in einem neuen interaktiven Verständnismodell der Kriminalitätseinstellungen zusammenzufassen.  
Es werden drei Ansätze unterschieden, die das Phänomen Kriminalitätsfurcht theoretisch zu erklären versuchten: die Viktimisierungsperspektive, die Soziale-Kontroll-Perspektive und die Soziale-Problem-Perspektive. In jüngerer Zeit unternahm Boers (1991) den Versuch, die in der Vergangenheit gewonnenen Erkenntnisse in einem neuen interaktiven Verständnismodell der Kriminalitätseinstellungen zusammenzufassen.  
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''Indirekte Viktimisierung'': Individuen erfahren über informelle Kommunikation (Freunde, Nachbarn, Familie etc.) von Viktimisierungen anderer. Durch die soziale Nähe zum Opfer kann daher Furcht entstehen. Diese Erklärung erfuhr einige empirische Unterstützung.
''Indirekte Viktimisierung'': Individuen erfahren über informelle Kommunikation (Freunde, Nachbarn, Familie etc.) von Viktimisierungen anderer. Durch die soziale Nähe zum Opfer kann daher Furcht entstehen. Diese Erklärung erfuhr einige empirische Unterstützung.
''Allgemeine Lebensängste'': Der Verlust sozialer Bindungen oder der wahrgenommene Verfall des Gemeinwesens wird durch Kriminalität aktualisiert und kanalisiert. Eine eindeutige Bestätigung für diesen Erklärungsansatz konnte nie gefunden werden.
''Allgemeine Lebensängste'': Der Verlust sozialer Bindungen oder der wahrgenommene Verfall des Gemeinwesens wird durch Kriminalität aktualisiert und kanalisiert. Eine eindeutige Bestätigung für diesen Erklärungsansatz konnte nie gefunden werden.
''Vulnerabilität'': Das Bewusstsein der geringeren physischen Kraft kann zu größerer Furcht führen. Die Verletzlichkeit ist dabei Produkt einer Wechselwirkung von physischen, psychischen und sozialen Prozessen. Dieser Ansatz erfuhr einige empirische Bestätigung, wies dabei allerdings über die Viktimisierungsperspektive hinaus, deren mangelnde Erklärungskraft zur Entwicklung neuer Ansätze führte (Boers 1991: 45 ff.).
''Vulnerabilität'': Das Bewusstsein der geringeren physischen Kraft kann zu größerer Furcht führen. Die Verletzlichkeit ist dabei Produkt einer Wechselwirkung von physischen, psychischen und sozialen Prozessen. Dieser Ansatz erfuhr einige empirische Bestätigung, wies dabei allerdings über die Viktimisierungsperspektive hinaus, deren mangelnde Erklärungskraft zur Entwicklung neuer Ansätze führte (Boers 1991: 45 ff.).


===Soziale-Kontroll-Perspektive===
===Soziale-Kontroll-Perspektive===
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Eine Modifikation der Soziale-Kontroll-Perspektive sieht als Auslöser von Kriminalitätsfurcht ein multizentrisches Gefüge von sozialer Desorganisation, Kriminalitätsproblemen, Ausprägungen informeller Sozialkontrolle und Art der Nachbarschaft, die bei der (Nicht-)Herausbildung von Kriminalitätsfurcht in wechselseitiger Wirkbeziehung stehen. Eine empirische Überprüfung dieser Annahmen wird in Ermangelung geeigneter Methoden jedoch als schwierig erachtet.
Eine Modifikation der Soziale-Kontroll-Perspektive sieht als Auslöser von Kriminalitätsfurcht ein multizentrisches Gefüge von sozialer Desorganisation, Kriminalitätsproblemen, Ausprägungen informeller Sozialkontrolle und Art der Nachbarschaft, die bei der (Nicht-)Herausbildung von Kriminalitätsfurcht in wechselseitiger Wirkbeziehung stehen. Eine empirische Überprüfung dieser Annahmen wird in Ermangelung geeigneter Methoden jedoch als schwierig erachtet.


Der Broken-Windows-Ansatz gilt als konservativ geprägte Sonderform der Soziale-Kontroll-Perspektive. Er geht ebenfalls von der Annahme sozialer Desorganisation und dem Vorliegen von incivilities aus, konzentriert sich jedoch auf personale Zeichen von Verfall. Zentral ist die Annahme, dass bestimmte Personengruppen (z.B. Betrunkene, "herumlungernde" Personen, Bettler) Vorboten für eine alsbald einsetzende Kriminalitätswelle seien. Daher entstehe bei den Bewohnern Furcht. Entsprechend müsse früh, schnell und scharf auf soziale Unordnung reagiert werden, bevor Kriminalität und Kriminalitätsfurcht entstehen könnten. Der Polizei wird ein zentraler Stellenwert zugewiesen, während die Entkriminalisierung bestimmter Verhaltensweisen unter dieser Prämisse als kontraproduktiv betrachtet wird, da sie die Polizei der Möglichkeit beraubt, frühzeitig einzugreifen. Entsprechende Programme ([[Policing|Community Policing]]) wurden u.a. daraufhin untersucht, inwieweit sie Kriminalitätsfurcht senken konnten. Es zeigte sich jedoch, dass gerade das eher aggressive Policing nicht zu einer Senkung beitragen konnte (Boers 1991: 113ff.).
Der Broken-Windows-Ansatz gilt als konservativ geprägte Sonderform der Soziale-Kontroll-Perspektive. Er geht ebenfalls von der Annahme sozialer Desorganisation und dem Vorliegen von incivilities aus, konzentriert sich jedoch auf personale Zeichen von Verfall. Zentral ist die Annahme, dass bestimmte Personengruppen (z. B. Betrunkene, "herumlungernde" Personen, Bettler) Vorboten für eine alsbald einsetzende Kriminalitätswelle seien. Daher entstehe bei den Bewohnern Furcht. Entsprechend müsse früh, schnell und scharf auf soziale Unordnung reagiert werden, bevor Kriminalität und Kriminalitätsfurcht entstehen könnten. Der Polizei wird ein zentraler Stellenwert zugewiesen, während die Entkriminalisierung bestimmter Verhaltensweisen unter dieser Prämisse als kontraproduktiv betrachtet wird, da sie die Polizei der Möglichkeit beraubt, frühzeitig einzugreifen. Entsprechende Programme ([[Policing|Community Policing]]) wurden u. a. daraufhin untersucht, inwieweit sie Kriminalitätsfurcht senken konnten. Es zeigte sich jedoch, dass gerade das eher aggressive Policing nicht zu einer Senkung beitragen konnte (Boers 1991: 113 ff.).


===Soziale-Problem-Perspektive===
===Soziale-Problem-Perspektive===


Dieser Ansatz stützt sich auf den symbolischen Interaktionismus von Mead. Er geht von der Annahme aus, dass soziale Probleme nicht objektiv existieren, sondern institutionell durch Zuschreibungsprozesse konstruiert werden. Den [[Massenmedien]] kommt dieser Auffassung zufolge eine zentrale Rolle zu, da sie strukturierte und interpretierte Informationen über Vorkommnisse vermitteln, die außerhalb der täglichen Erfahrungswelt liegen. Hierdurch konstruieren sie die Wirklichkeit "Kriminalität" und sind gleichzeitig Auslöser von Kriminalitätsfurcht.
Dieser Ansatz stützt sich auf den symbolischen Interaktionismus von Mead. Er geht von der Annahme aus, dass soziale Probleme nicht objektiv existieren, sondern institutionell durch Zuschreibungsprozesse konstruiert werden. Den [[Massenmedien]] kommt dieser Auffassung zufolge eine zentrale Rolle zu, da sie strukturierte und interpretierte Informationen über Vorkommnisse vermitteln, die außerhalb der täglichen Erfahrungswelt liegen. Hierdurch konstruieren sie die Wirklichkeit "Kriminalität" und sind gleichzeitig Auslöser von Kriminalitätsfurcht.
Gestützt wird diese Annahme durch Inhaltsanalysen, die zeigen, dass Art, Ausmaß und Platzierung der Kriminalitätsberichterstattung ein verzerrtes Bild der Realität liefern. Gewaltkriminalität beherrscht etwa ein Drittel der kriminalitätsbezogenen Berichterstattung, obwohl sie in der Kriminalstatistik zusammen nur etwa 2% der Gesamtkriminalität ausmacht. Den Polizeipressestellen kommt hier eine Filterfunktion in der Informationsübermittlung zu, da sie in erster Linie darüber entscheiden, welche Fälle an die Presse weitergegeben werden.
Gestützt wird diese Annahme durch Inhaltsanalysen, die zeigen, dass Art, Ausmaß und Platzierung der Kriminalitätsberichterstattung ein verzerrtes Bild der Realität liefern. Gewaltkriminalität beherrscht etwa ein Drittel der kriminalitätsbezogenen Berichterstattung, obwohl sie in der [[Polizeiliche Kriminalstatistik|Polizeilichen Kriminalstatistik]] zusammen nur etwa 2 % der Gesamtkriminalität ausmacht. Den Polizeipressestellen kommt hier eine Filterfunktion in der Informationsübermittlung zu, da sie in erster Linie darüber entscheiden, welche Fälle an die Presse weitergegeben werden.


Ein zweiter Überprüfungsansatz ist die Medienwirkungsforschung. Die Zusammenhänge gelten als komplex. Medien können beeinflussen, welche Themen in der Öffentlichkeit diskutiert werden (Agenda-Setting). Bestehende Einstellungen können so zwar nicht verändert, aber verstärkt werden. Zudem scheinen Printmedien eher im kognitiven Bereich wirksam zu werden, während elektronische Medien in erster Linie Emotionen ansprechen. Kriminalitätsfurcht wird v.a. bei wahrgenommener sozialer, personaler und räumlicher Ähnlichkeit zwischen der Situation des Rezipienten und der des Opfers ausgelöst. Massenmedien wirken also nicht generell furchtsteigernd oder -auslösend, sondern nur unter bestimmten spezifischen Bedingungen (differentielle Medienwirkung; Boers 1991: 139ff.).
Ein zweiter Überprüfungsansatz ist die Medienwirkungsforschung. Die Zusammenhänge gelten als komplex. Medien können beeinflussen, welche Themen in der Öffentlichkeit diskutiert werden (Agenda-Setting). Bestehende Einstellungen können so zwar nicht verändert, aber verstärkt werden. Zudem scheinen Printmedien eher im kognitiven Bereich wirksam zu werden, während elektronische Medien in erster Linie Emotionen ansprechen. Kriminalitätsfurcht wird v.a. bei wahrgenommener sozialer, personaler und räumlicher Ähnlichkeit zwischen der Situation des Rezipienten und der des Opfers ausgelöst. Massenmedien wirken also nicht generell furchtsteigernd oder -auslösend, sondern nur unter bestimmten spezifischen Bedingungen (differentielle Medienwirkung; Boers 1991: 139 ff.).


===Interaktives Verständnismodell der Kriminalitätseinstellungen===
===Interaktives Verständnismodell der Kriminalitätseinstellungen===


In jüngerer Zeit hat Boers (1991: 207ff.) ein Modell entwickelt, das die widersprüchlichen Befunde zu integrieren versucht. Er trennt die Kriminalitätseinstellungen in eine soziale und eine personale Dimension. Die soziale Dimension beinhaltet überdauernde Einstellungen, Werthaltungen und politische oder soziale Orientierungen, während die personale Dimension Risikoeinschätzung, Einschätzung der Bewältigungsmöglichkeit, Kriminalitätsfurcht und Schutz- und Vermeideverhalten umfasst.
In jüngerer Zeit hat Boers (1991: 207 ff.) ein Modell entwickelt, das die widersprüchlichen Befunde zu integrieren versucht. Er trennt die Kriminalitätseinstellungen in eine soziale und eine personale Dimension. Die soziale Dimension beinhaltet überdauernde Einstellungen, Werthaltungen und politische oder soziale Orientierungen, während die personale Dimension Risikoeinschätzung, Einschätzung der Bewältigungsmöglichkeit, Kriminalitätsfurcht und Schutz- und Vermeideverhalten umfasst.


Kriminalitätsfurcht entsteht diesem Konzept zufolge durch einen komplexen Bewertungsprozess, innerhalb dessen das persönliche Risiko einer Opferwerdung eingeschätzt wird. Diese Bewertung wird durch Faktoren wie eine vorangegangene Viktimisierung, eine indirekte Opfererfahrung, Zeichen sozialer Desorganisation und Medienberichte mit lokalem Bezug beeinflusst. In einem weiteren Bewertungsschritt wird überprüft, inwieweit Möglichkeiten bestehen, mit der antizipierten Situation fertig zu werden. Hier spielt die physische, psychische und soziale Vulnerabilität eine Rolle, beeinflusst durch Geschlecht, Alter, sozialen Status, soziale Integration etc. Fällt das Ergebnis des Bewertungsprozesses entsprechend aus, so entsteht Kriminalitätsfurcht, die dann wiederum zu Vermeideverhalten führt. Erste Untersuchungen stützen dieses Modell.
Kriminalitätsfurcht entsteht diesem Konzept zufolge durch einen komplexen Bewertungsprozess, innerhalb dessen das persönliche Risiko einer Opferwerdung eingeschätzt wird. Diese Bewertung wird durch Faktoren wie eine vorangegangene Viktimisierung, eine indirekte Opfererfahrung, Zeichen sozialer Desorganisation und Medienberichte mit lokalem Bezug beeinflusst. In einem weiteren Bewertungsschritt wird überprüft, inwieweit Möglichkeiten bestehen, mit der antizipierten Situation fertig zu werden. Hier spielt die physische, psychische und soziale Vulnerabilität eine Rolle, beeinflusst durch Geschlecht, Alter, sozialen Status, soziale Integration etc. Fällt das Ergebnis des Bewertungsprozesses entsprechend aus, so entsteht Kriminalitätsfurcht, die dann wiederum zu Vermeideverhalten führt. Erste Untersuchungen stützen dieses Modell.
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