Der aus Galizien stammende us-amerikanische Kriminologieprofessor Frank Tannenbaum (* 04.03.1893 in Brod, Österreich-Ungarn; heute [Brody, Ukraine] † 01.06.1969 in New York City) wurde außerhalb dieses Fachgebiets vor allem als Professor für die Geschichte Lateinamerikas an der Columbia University, New York, bekannt, wo er 25 Jahre lang die bekannten interdisziplinären Seminare zu dieser Thematik organisierte.

Darüber geriet weitgehend in Vergessenheit, dass er als junger Mann selbst im Gefängnis gesessen und ab 1932 an der Cornell University eine Professor für Kriminologie innegehabt hatte, die er 1935 freilich für die Lateinamerika-Professur an der Columbia University aufgab.

In der Kriminologie wird sein Buch "Crime and the Community" von 1938 in manchen Lehrbüchern als eine Art Vorläufer des Labeling Approach erwähnt.

Leben

Die Familie Tannenbaum (Eltern, Frank und zwei jüngere Geschwister) war 1905 von Ostgalizien in die USA gekommen und lebte zunächst in der Nähe von Great Barrington auf einer kleinen Farm in Massachussetts. Frank zog 1906 nach New York, wo er bei Verwandten unterkam und als Kellner und Aufzugsfahrer arbeitete und die Ferrer School in der West 107th Street in Manhattan besuchte. Dort kam er in Kontakt mit den Anarcho-Syndikalisten um Emma Goldman, Alexander Berkman und den International Workers of the World (IWW), den sog. Wobblies.

Im besonders kalten Winter 1913/14 organisierte Tannenbaum sog. "sit-downs" von Arbeitslosen und Obdachlosen in Kirchen, etwa in der Episcopal Church an der Lower Fifth Avenue. Die Gruppe bat dann um Unterkunft und Essen und Tannenbaum forderte sie auch auf, für einen Arbeitstag von 8 Stunden und 3 Dollar Mindestlohn einzutreten. Als Anführer einer solchen sog. "army of unemployed" besetzte er an seinem 21. Geburtstag die katholische Sankt Alphonsus Kirche am West Broadway und wurde wenig später zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe von 500 $ verurteilt. Er verbüßte fast das ganze Jahr auf Blackwell's (später: Welfare, heute: Roosevelt) Island.

Sein Prozess war in der New York Times dokumentiert und einige seiner Ausführungen vor Gericht waren dort wiedergegeben worden. Die Lektüre dieser Pressenachrichten führt die New Yorker Philanthropin Grace Childs dazu, sich mit Tannenbaum nach seiner Entlassung aus der Haft zu treffen und von seinem Studienwunsch zu erfahren. Daraufhin kontaktierte sie ihren Freund E. Stagg Whitin vom National Committee on Prisons and Prison Labor und Professor Carlton Hayes vom Geschichtsfachbereich der Columbia University. Auch der Gefängnikswärter Thomas M. Osborne, ein Freund von Tannenbaum, spielte mit einer Referenz eine positive Rolle. Nach einem erfolgreich verlaufenen Aufnahmegespräch mit dem Dekan Frederick P. Keppel erhielt Tannenbaum ein bescheidenes Stipendium von den Childses und machte eine bemerkenswerte akademische Karriere, die ihn nach einem ersten Columbia-Abschluss (1921) an die Brookings Institution in Washington, D.C., (PhD in Wirtschaftswissenschaften 1927) und schließlich 1935 in der Rolle eines Professors wieder an die Columbia University zurückführte.

  • Sein erstes berufliches Engagement war die Beratung des mexikanischen Präsidenten Lázaro Cárdenas.
  • 1932 wurde Tannenbaum Professor für Kriminologie an der Cornell University (1935 dann Professor für lateinamerikanische Geschichte an der Columbia University).
  • 1938 erschien sein Werk "Crime and the Community", in dem er die Bedeutung der sozialen Reaktion auf Abweichung für die Verfestigung devianter Identität betonte.

Werk

Tannenbaum studierte unter anderem bei Charles Dewey, einem Freund und Kollegen von George Herbert Mead - und vielleicht auch bei Mead selbst; jedenfalls kannte er dessen Werke und vor allem auch "The Psychology of Punitive Justice" - und entwickelte unter anderem auf dieser Basis sein zentrales kriminologisches Werk, "Crime and the Community" von 1938, in dem er seine Konzeption der „Dramatisierung des Bösen“ darstellte und auf der Basis des Symbolischen Interaktionismus zu ersten Formulierungen eines etikettierungstheoretischen Ansatzes gelangte. Unter anderem enthielt dieses Buch die prägnante Formulierung "The criminal becomes bad because he is defined as bad".[1] Allerdings griffen die späteren Vertreter des Labeling-Approaches (E. M. Lemert, Howard S. Becker) vorwiegend nicht direkt auf Tannenbaums Ausführungen zurück, sondern begründeten ihren Ansatz mehr oder minder unter direktem Rückgriff auf Mead oder andere Mead-Schüler. Wenn Tannenbaum heute oft übersehen oder nur als Vorläufer der kriminalsoziologischen Labeling-Perspektive eingestuft wird, so ist das genau genommen nicht ganz gerecht und auch nicht ganz korrekt.[2]

Zitate

  • "THE YOUNG DELINQUENT BECOMES BAD BECAUSE HE IS DEFINED AS BAD AND BECAUSE HE IS NOT BELIEVED IF HE IS GOOD"
  • (Getting caught as a turning point):

"THE BOY, NO DIFFERENT FROM THE REST OF HIS GANG, SUDDENLY BECOMES THE CENTER OF A MAJOR DRAMA..."

  • "THE PROCESS OF MAKING THE CRIMINAL, THEREFORE, IS A PROCESS OF TAGGING, DEFINING, IDENTIFYING, SEGREGATING, DESCRIBING, EMPHASIZING, MAKING CONSCIOUS AND SELF-CONSCIOUS; IT BECOMES A WAY OF STIMULATING, SUGGESTING, EMPHASIZING, AND EVOKING THE VERY TRAITS THAT ARE COMPLAINED OF."
  • "THE WAY OUT IS THROUGH A REFUSAL TO DRAMATIZE THE EVIL. THE LESS SAID ABOUT IT THE BETTER. THE MORE SAID ABOUT SOMETHING ELSE, STILL BETTER."

Publikationen von Frank Tannenbaum

  • Wall shadows: a study in American prisons. New York: G.P. Putnam's sons, 1922.
  • Crime and the Community, London 1938.
  • Slave and citizen, New York 1947.
  • Mexiko, the Struggle for Peace and Bread, New York 1951 (dt. 1967).
  • Eine Philosophie der Arbeit, Nürnberg 1954 (zuerst engl. 1951).
  • Ten Keys to Latin America, New York 1963.

Einzelnachweise

  • [1] Frank Tannenbaum, Crime and the Community, London 1938, S. 17.
  • [2] Siegfried Lamnek, Theorien abweichenden Verhaltens, 7. Aufl., München 2001, S. 219.

Weblinks

  • Literatur von und über Frank Tannenbaum im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
  • Delpar, Helen (1988) Frank Tannenbaum: The Making of a Mexicanist, 1914-1933. The Americas. Vol. 45, No. 2 (October), pp. 153-171.[[1]]
  • Frank Tannenbaum [[2]]
  • Hale, Charles A. (1995) Frank Tannenbaum and the Mexican Revolution. The Hispanic American Historical Review Vol. 75, No. 2 (May, 1995), pp. 215-246
  • Horsley, Carter B. (1969) Dr. Frank Tannenbaum, 76, Dies ..[[3]]
  • Tannenbaum, Frank Encyclopedia of the Harlem Renaissance
  • Phillips, Michael Frank Tannenbaum (1893-1969) in: The Historical Encyclopedia of World Slavery [[4]]
  • Ross, Stanley R. (1969) Frank Tannenbaum (1893-1969) The Hispanic American Historical Review Vol. 50, No. 2 (May, 1970), pp. 345-348 [[5]]
  • Thompson, Charles Willis (1914) So-Called I.W.W. Raids ... [[6]]
  • Winn, Peter (2010) Frank Tannenbaum Reconsidered. International Labor and Working-Class History (2010), 77: 109-114 Cambridge University Press doi: 10.1017/S0147547909990275 [[7]]