George Herbert Mead

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George Herbert Mead

Der us-amerikanische Philosoph, Soziologe und Psychologe George Herbert Mead (27.02.1863 South Hadley, Mass. - 26.04.1931 in Chicago) war als einer der Begründer des symbolischen Interaktionismus von großer Bedeutung für die entsprechende Richtung in der kriminologischen Theorie, die mit Namen wie Frank Tannenbaum, Howard S. Becker, David Matza und anderen verbunden ist. Sein Aufsatz über "The Psychology of Punitive Justice" (1918) existiert als "Psychologie der Strafjustiz" auch auf Deutsch.

Nach seinem Studium (Harvard, Leipzig - bei Wilhelm Wundt - und Berlin) und einer ersten Anstellung an der Universität von Michigan (1891) ging er 1894 an die Universität von Chicago, wo er bis an sein Lebensende lehrte. Mead verfasste keine Dissertation und wurde nie promoviert. Er veröffentlichte auch nie ein Buch. Postum sammelten Schüler von Mead viele seiner Aufsätze und brachten sie in Buchform heraus.

Für die Kriminologie sind vor allem drei Schriften interessant:

  • "The Psychology of Punitive Justice", American Journal of Sociology 23, (1918): 577-602. deutsch: Psychologie der Strafjustiz. In: Gesammelte Aufsätze Band I. Frankfurt a.M. 1980: Suhrkamp: 253-284.
  • “The Genesis of Self and Social Control” (1925)
  • “The Objective Reality of Perspectives” (1926)

Theorie des Symbolischen Interaktionismus

Im Gegensatz zu mehr ontologischen Denkern wie Heidegger, die die Enthüllung des Seins aus der Perspektive des erlebenden Menschen betonen, konzentrieren sich Pragmatiker wie Mead auf die Entwicklung des Selbst und die Objektivität der Welt innerhalb des sozialen Bereichs. Sie betonen die wechselseitige Abhängigkeit menschlichen Bewusstseins von geteilten Bedeutungen (vgl. Mead 1982: 5). Um Akteure zu verstehen, so Mead, sei es von großer Bedeutung, zunächst einmal genau zu erkennen, was Menschen tatsächlich tun (Pragmatismus). Das Tun des Menschen prägt seine Sprache und seinen Geist. Und das Tun ist soziales Handeln auf der Basis geteilter Bedeutungen (symbolischer Interaktionismus). Entscheidend sind für diese Denkrichtung:

  • Konzentration auf die Interaktion zwischen dem Akteur und der Welt
  • Eine Betrachtung des Akteurs und der Welt als dynamischer Prozesse und nicht statischer Strukturen
  • Die Fähigkeit des Akteurs, die soziale Welt zu interpretieren.

Mithin ist das Bewusstsein nicht von der Aktion und Interaktion zu trennen, sondern integraler Teil von beiden. Die Schüler von Mead entwickelten daraus den symbolischen Interaktionismus. Aus dem "sozialen Behaviorismus" Meads entwickelte sich ein sozialphilosophischer Strang der Theorien kommunikativen Handelns. Nach Mead entwickelt sich Geist ausschließlich aus dem sozialen Handeln und sozialer Kommunikation und insofern gibt es keinen Geist und keinen Gedanken ohne Sprache - und Sprache (der Inhalt des Geistes) “is only a development and product of social interaction” (Mind, Self and Society, 191 f.). Das ist der Handlungs-Nexus der Wahrnehmung und der Sprache. Wir nehmen die Welt in Begriffen von "Mitteln zum Leben" wahr (Mead 1982: 120). Lebensmittel wahrzunehmen ist dasselbe wie Essen wahrzunehmen. Ein Haus wahrzunehmen bedeutet Unterkunft wahrzunehmen. Das ist der Handlungsbezug von Wahrnehmung.

Das Individuum ist ein Produkt der Gesellschaft und von sozialer Interaktion. Das Selbst entsteht, wenn das Individuum für sich selbst zum Objekt wird, indem es die Perspektive anderer Menschen auf sich selbst richtet. Menschen lernen, sich vom Standpunkt anderer anzusehen. Mead entwickelte die von William James stammende Unterscheidung zwischen "I" und "me" weiter. Das "me" ist das akkumulierte Verstehen des "generalisierten anderen", d.h. dessen, was man glaubt, das die eigenen Bezugsgruppen von einem halten. Das "I" ist das Selbst als Subjekt, das "me" ist das Selbst als Objekt. Das "I" ist der, der etwas weiß (the knower), das "me" ist der, von dem etwas gewusst wird (the known). Der Geist, der Bewußtseinsstrom, ist die Gesamtheit der selbstreflexiven Bewegungen der Interaktion zwischen dem "I" und dem "me". Für Mead ist der Denkprozesse der internalisierte Dialog zwischen dem "I" und dem "me".

Das Verstehen der sozialen Welt beginnt für das Kind mit "play" (Einnehmen verschiedener Rollen). Im nächsten Stadium ("game") muss das Kind die Rolle eines jeden anderen Mitspielers einnehmen. Zudem haben diese Rollen eine Beziehung zueinander ("Baseball"; Mead, 1934/1962:151). Nun beginnen Kinder, in organisierten Gruppen zu funktionieren - und ihre Rolle darin zu bestimmen. Mead nennt dies des Kindes erste Begegnung mit dem "generalisierten Anderen".

Psychologie der Strafjustiz

Der Strafprozess ist eine Aggression, mit der „wir die soziale Struktur gegen einen Widersacher verteidigen“ (Mead 1980:263). Er einigt alle Mitglieder der Gemeinschaft in einer Art emotionaler Aggressivität. Mead nennt das einen „einzigartigen Vorzug“ (S. 270). Damit steht Mead in der Tradition von Durkheim. Merton (1964: 61) spricht insofern von der latenten Funktion der Strafjustiz.

Ähnlich wie Durkheim zeigt Mead, wie «die Haltung der Aggressivität entweder gegen einen Gesetzesbrecher oder gegen einen äusseren Feind einer Gruppe ein Gefühl der Solidarität verleiht, das prompt wie eine Flamme emporschiesst und die Unterschiede der individuellen Interessen verzehrt». Der «Preis, der für diese Solidarität der Gefühle gezahlt wird, [ist allerdings] hoch und zuweilen verhängnisvoll.»

Um die so geschaffene kollektive Identität zu stabilisieren, bedarf es immer neuer Feinde oder einer andauernd aktualisierten Dauer-Feindschaft.

Seitdem Strafe nicht mehr bloße Vergeltung sein möchte, sondern der Prävention dienen will, entsteht ein neues Problem. Mead stellt fest, „daß ein System von Strafen, das im Hinblick auf seine abschreckende Wirkung entworfen worden ist, Verbrechen nicht nur sehr unzureichend unterbindet, sondern eine Klasse von Verbrechern produziert“ (Mead 1980:261).

Mead kritisiert das „Stigma, das dem Verbrecher zugewiesen wird“ (265).

„Wo immer die Strafjustiz, diese moderne, kunstvolle Ausarbeitung von Tabu und Bann mit deren Konsequenzen in primitiven Gesell-schaften, die öffentliche Meinung zur Verteidigung sozialer Güter und Institutionen gegen wirkliche oder vermeintliche Feinde organisiert und formuliert, bemerken wir, daß die Definition der Feinde, mit anderen Worten, der Verbrecher, eine Definition der Güter und Institutionen mit sich bringt. Diese Definition ist die Rache des Verbrechers an der Gesellschaft, die ihn vernichtet. Die Konzentration der öffentlichen Meinung auf den Verbrecher, die die Institution der Rechtsprechung mobilisiert, lähmt die Versuche, eine sinnvolle Vorstellung von unseren gemeinschaftlichen Gütern im Hinblick auf ihre nützliche Verwendung zu entwerfen“ (269).

Mead sieht die Nachteile der Strafjustiz: „Eine soziale Organisation, die aus Feindseligkeiten entsteht, begünstigt von vornherein einen Charakter, der auf Opposition und Widerspruch gegründet ist, und neigt dazu, alle anderen Charaktere bei den Gruppenmitgliedern zu unterdrücken. Der Ruf ‘Haltet den Dieb!’ vereinigt uns alle als Eigentumsbesitzer gegen einen Räuber. ... Im selben Ausmaß, in dem wir uns aufgrund von Feindseligkeit organisieren, unterdrücken wir unsere Individualität“ (71).

Mead Hoffnung war, daß die Gesellschaft im Zuge der Modernisierung auf die Befriedigung von feindseligen Rache-Bedürfnissen verzichten könne. Als Hauptrichtung der Entwicklung sah er die "Resozialisierung" (Inklusion statt Exklusion). Als ersten Ausdruck einer integrativen Haltung gegenüber "Kriminellen" sah Mead die Jugendgerichte.

"Seemingly without the criminal the cohesiveness of society would disappear and the universal goods of the community would crumble into mutually repellent individual particles. The criminal does not seriously endanger the structure of society by his destructive activities, and on the other hand he is responsible for a sense of solidarity, aroused among those whose attention would be otherwise centered upon interests quite divergent from those of each other. Thus courts of criminal justice may be essential to the preservation of society even when we take account of the impotence of the criminal over against society, and the clumsy failure of criminal law in the repression and suppression of crime." (591)

"Thus we see society almost helpless in the grip of the hostile attitude it has taken toward those who break its laws and contravene its institutions. Hostility toward the lawbreaker inevitably brings with it the attitudes of retribution, repression, and exclusion. These provide no principles for the eradication of crime, for returning the delinquent to normal social relations, nor for stating the transgressed rights and institutions in terms of their positive social functions." (590).

"Means of intercommunications have been the great civilizing agents. The multiple social stimulation of an indefinitive number of varied contacts of a vast number of individuals with each other is the fertile field out of which spring social organizations, for these make possible the larger social life that can absorb the hostilities of different groups. When this condition has been supplied there seems to be an inherent tendency in social groups to advance from the hostile attitudes of individuals and groups toward each other through rivalries, competitions, and co- operations toward a functional self-assertion which recognizes and utilizes other selves and groups of selves in the activities in which social human nature expresses itself." (593 f.).

"It is in the juvenile court that we meet the undertaking to reach and understand the causes of social and individual breakdown, to mend if possible the defective situation and reinstate the individual at fault. This is not attended with any weakening of the sense of the values that are at stake, but a great part of the paraphernalia of hostile procedure is absent. (. . .) We find the beginnings of scientific technique . . . in the presence of the psychologist and medical officer. (. . .) Where the responsibility rests upon others this can be brought out in much greater detail and with greater effect since it is not defined under abstract legal categories and the aim in determining responsibility is not to place punishment but to obtain future results. (. . .) Of far greater importance is the appearance of the values of family relations, of schools, of training of all sorts, of opportunities to work, and of all the other factors that go to make up that which is worth while in the life or a child or an adult." (594 f.)

Werke von George H. Mead

  • 1932. The Philosophy of the Present. Hg. v. Arthur E. Murphy. Prometheus Books.
  • 1934. Mind, Self, and Society. Ed. by Charles W. Morris. University of Chicago Press.
  • 1936. Movements of Thought in the Nineteenth Century. Ed. by Merritt H. Moore. University of Chicago Press.
  • 1938. The Philosophy of the Act. Ed. by C.W. Morris et al. University of Chicago Press.
  • 1964. Selected Writings. Ed. by A. J. Reck. University Chicago Press.
  • 1982. The Individual and the Social Self: Unpublished Essays by G. H. Mead. Ed. by David L. Miller. University of Chicago Press. ISBN 9780608094793
  • 1980. Hans Joas (Hg.) George Herbert Mead. Gesammelte Aufsätze. Band 1 und 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
  • 2001. Essays in Social Psychology. Ed. by M. J. Deegan. Transaction Books.

Literatur über George H. Mead

  • Aboulafia, Mitchell (Hg.) (1991) Philosophy, Social Theory, and the Thought of George Herbert Mead. SUNY Press.
  • Aboulafia, Mitchell (2001) The Cosmopolitan Self: George Herbert Mead and Continental Philosophy. University of Illinois Press.
  • Baldwin, John (2009). George Herbert Mead. Sage. ISBN 0-8039-2320-1.
  • Blumer, H. & Morrione, T.J. (2004) George Herbert Mead and Human Conduct. New York: Altamira Press.
  • Conesa-Sevilla, J. (2005). The Realm of Continued Emergence: The Semiotics of George Herbert Mead and its Implications to Biosemiotics, Semiotics Matrix Theory, and Ecological Ethics. Sign Systems Studies, September, 2005, Tartu University, Estonia.
  • Cook, Gary A. (1993) G.H. Mead: The Making of a Social Pragmatist. University of Illinois Press.
  • Cronk, George (2005), "George Herbert Mead", in Fieser, James; Dowden, Bradley, The Internet Encyclopedia of Philosophy
  • Desmonde, William H (2006) [1967]. "Mead, George Herbert (1863-1931)". In Borchert, Donald M.. Encyclopedia of Philosophy. 6. Macmillan Reference. pp. 79–82. ISBN 0028657861.
  • Gillespie, A. (2005) "G.H. Mead: Theorist of the social act," Journal for the Theory of Social Behaviour 35: 19-39.
  • Gillespie, A. (2006). Games and the development of perspective taking. Human Development, 49, 87-92.
  • Gillespie, Alex (2006). Becoming Other - from Social Interaction to Self-Reflection. Information Age Publishing. ISBN 9781593112301.
  • Joas, Hans (1985) G.H. Mead: A Contemporary Re-examination of His Thought. MIT Press.
  • Habermas, Jürgen (1992) "Individuation through socialization: On George Herbert Mead’s theory of socialization," in Habermas, Postmetaphysical Thinking, translated by William Mark Hohengarten. MIT Press.
  • Honneth, Axel (1996) "Recognition and socialization: Mead's naturalistic transformation of Hegel's idea," in Honneth, Struggle for Recognition: The Moral Grammar of Social Conflicts, translated by Joel Anderson. MIT Press.
  • Lewis, J.D. (1979) "A social behaviorist interpretation of the Meadian 'I'," American Journal of Sociology 85: 261-287.
  • Lundgren, D.C. (2004) "Social feedback and self-appraisals: Current status of the Mead-Cooley hypothesis," Symbolic Interaction 27: 267-286.
  • Miller, David L. (1973) G.H. Mead: Self, Language and the World. University of Chicago Press.
  • Miller, David (2009). George Herbert Mead: Self, Language, and the World. University of Texas Press. ISBN 0-292-72700-3.
  • Ritzer, George (2008). Sociological Theory. McGraw-Hill. pp. 352–353. ISBN 978-0-07-352818-2.
  • Sánchez de la Yncera, Ignacio (1994) La Mirada Reflexiva de G.H. Mead. Centro de Investigaciones Sociológicas.
  • Shalin, Dmitri (1988) "G. H. Mead, socialism, and the progressive agenda," American Journal of Sociology 93: 913-951.
  • Silva, F. C. (2007) G.H. Mead. A Critical Introduction. Cambridge: Polity Press.
  • Silva, F. C. (2008) Mead and Modernity. Science, Selfhood and Democratic Politics. Lanham: Lexington Books.

Weblinks

  • George Herbert Mead in: de.wikipedia [[1]]
  • George Herbert Mead, "The Psychology of Punitive Justice", American Journal of Sociology 23, (1918): 577-602. deutsch: Psychologie der Strafjustiz. In: Gesammelte Aufsätze Band I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Der Originaltext findet sich unter:[[2]]
  • Joas, Hans (2006) Die überirdische Majestät der menschlichen Person. Über den Wandel des Strafsystems und seine kulturellen Hintergründe. NZZ Online [[3]]


  • Die deutschsprachigen Zitate stammen aus: Rüdiger Lautmann: Das Perpetuum mobile der Kontrollwissenschaften (im Netz als Doc-Dokument)
  • Die englischsprachigen Zitate stammen aus: Wolfgang Ludwig-Mayerhofer: Soziale Kontrolle ...[[4]]