Frank Tannenbaum

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Der Anarchist, Strafgefangene, Kriminologieprofessor und Mexikanologe Frank Tannenbaum (* 04.03.1893 in Brod, Österreich-Ungarn; heute Brody, Ukraine † 01.06.1969 in New York City) war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein bekannter amerikanischer Strafvollzugskritiker und zudem einer der Pioniere einer symbolisch-interaktionistischen Kriminologie.

Tannenbaum studierte nach seiner Haftentlassung unter anderem bei John Dewey, einem Freund und Kollegen von George Herbert Mead - und vielleicht auch bei Mead selbst; jedenfalls kannte er dessen Werke und vor allem auch "The Psychology of Punitive Justice" - und entwickelte unter anderem auf dieser Basis sein zentrales kriminologisches Werk, "Crime and the Community" von 1938, in dem er seine Konzeption der „Dramatisierung des Bösen“ darstellte und auf der Basis des Symbolischen Interaktionismus zu ersten Formulierungen eines etikettierungstheoretischen Ansatzes gelangte.

Während Howard S. Becker in seinen "Außenseitern" ausdrücklich auf Tannenbaum und Lemert aufbaut, erklärte Lemert (in: Laub 1979), weder er noch Becker seien sich, als sie ihre Theorien entwickelten, der Werke Tannenbaums bewusst gewesen. Dazu mag beigetragen haben, dass Tannenbaum seine kriminologischen Schriften in großem Abstand vor und nach seiner Rolle als Kriminologieprofessor publizierte. So wird er denn in der Gegenwart "eher als ein Vorläufer denn als eigentlicher Vertreter der kriminalsoziologischen Labeling-Perspektive eingestuft" (Lamnek 2001: 219).

Überlebt haben aus seinem kriminologischen Werk die Formulierung "The criminal becomes bad because he is defined as bad" (Tannenbaum 1938: 17) und seine These, dass es gerade die Aufmerksamkeit des Justizsystems für die Jugenddelinquenz sei, die das Phänomen ungewollt verschärfe, da die "Dramatisierung des Bösen" (dramatization of evil) die Abweichler dazu bringe, sich selbst mit ihrer Rolle als Straftäter zu identifizieren.


Leben

Propaganda der Tat in New York

Der 1905 mit seinen Eltern und zwei jüngeren Geschwistern aus Ostgalizien eingewanderte Frank Tannenbaum verließ seine Familie in Massachusetts im Alter von 13 Jahren nach einem Streit mit seinem Vater, der ihm keinen weiterführenden Schulbesuch erlauben wollte, und ging allein nach New York City, wo er mit 0,80 $ ankam und für 0,15 $ die Nacht in einem Hotel in der Bowery wohnte, während er tagsüber für $ 3,00 pro Woche als Kellner (und später auch als Liftboy) arbeitete

Er besuchte eine von Emma Goldman geleitete Abendschule an der West 107th Street, und zwar das nach Francisco Ferrer benannte Ferrer Center (Modern School).

Dort half der von Emma Goldman auch in ihren Memoiren gewürdigte Tannenbaum u.a. bei der Herstellung der anarchistischen Zeitschrift Mother Earth.

Er wurde bald ein führender Aktivist der militanten Gewerkschaft der Industrial Workers of the World, der sog. Wobblies. Er engagierte sich für die Beschränkung der täglichen Arbeitszeit auf acht Stunden und für die Einführung eines Mindestlohns (von drei Dollar am Tag).

Im besonders kalten Winter von 1913/14 hatte Tannenbaum eine neue Idee, wie man das Schicksal der Hungernden und Ausgebeuteten für die Öffentlichkeit zu einem Thema machen könnte. Den Anlass dazu hatte wohl der damalige US-Präsident Taft geliefert, als er bei einer Veranstaltung in der Cooper Union in Manhattan auf die Frage eines Arbeitslosen: "If I need a job and there aren't any - what do I do?" geantwortet hatte: "God knows - I don't."

Nun organisierte Tannenbaum sog. "sit-downs" von Arbeitslosen und Obdachlosen in Kirchen der Gutsituierten und forderten Unterkunft und Essen. So lange es sich um protestantische Kirchen handelte, verlief alles nach Plan. Mal wurde man abgewiesen, mal aber auch freundlich empfangen. So etwa in der Episcopal Church an der Lower Fifth Avenue. Die Zeitungen berichteten darüber und die Anliegen der Protestierer wurden zum öffentlichen Thema.

Am 4. März 1914 - Frank Tannenbaums 21. Geburtstag - ging es dann für die rund 200 Mitglieder von Tannenbaums "army of the unemployed" nicht mehr so glatt: erstmals hatte man sich mit der Sankt-Alphonsus-Kirche am West Broadway eine katholische Kirche ausgesucht. Die Bitte um Erlaubnis, für eine Nacht dort bleiben zu dürfen, wurde mit einem Ruf nach der Polizei beantwortet, die schließlich 189 Männer und eine Frau (Gussie Miller von der Ferrer School) festnahm.

Als Anführer erhielt Tannenbaum von Richter John A.L. Campbell die Höchststrafe von einem Jahr Gefängnis und 500 $ Geldbuße auferlegt. Die Buße wurde von der Ferrer Association, der Fraye Arbeter Shtime und dem Labor Defense Committee bezahlt. Aber die Freiheitsstrafe verbüßte er nahezu vollständig im Gefängnis von Blackwell's Island (heute: Roosevelt).

Zu seiner Verurteilung erklärte er, dass die Gesellschaft bereit sei, nahezu jedes Delikt zu vergeben, außer das der Verkündung eines neuen Evangeliums:

"That's my crime. I was going about telling people that the jobless must be housed and fed, and for that I got locked up."

Wochenlange Massendemonstrationen in Manhattan (Union Square) mit Zehntausenden von Teilnehmern demonstrierten die Wirkung von Tannenbaums gewaltfreien Propagandaaktionen. In den Worten von Alexander Berkman hatten die Wobblie-Raids mehr zur Enttarnung religiöser Heuchelei beigetragen als Jahrzehnte der Aufklärungsarbeit durch Freidenker. Ein Gedicht von Adolph Wolff, das von manchen noch nach Jahrzehnten auswendig aufgesagt werden konnte, illustriert diese Wirkung:

"Degraded in the convict's stripes/He chafes behind the prison bars/And breathes the dungeon stench./Arrayed in sacerdotal garb/The priest is celebrating mass/Preaching to men the word of God./The potentate upon the bench/Wrapped in judiciary gown, he sits/A judge of fellow men./Yet would I rather be - /The dirt on the feet of a Tannenbaum/Than the soul/Of such a judge - of such a priest" (Avrich 2006: 2006 ff.).

Studium und Beruf

Der Bericht von Charles Willis Thompson in der New York Times über seine Gerichtsverhandlung führte zu einem Wendepunkt in seiner Biographie. Die wohlhabende New Yorker Philanthropin Grace H. Childs zeigte sich beeindruckt, nahm Kontakt zu ihm auf und trug entscheidend dazu bei, ihm seinen Wunsch nach einem Studium nach der Haftentlassung zu erfüllen.

Sie kontaktierte E. Stagg Whitin vom National Committee on Prisons and Prison Labor und den Geschichtsprofessor Carlton Hayes von der Columbia University. Auch der prominente Sing-Sing-Gefängnisdirektor Thomas Mott Osborne spielte eine Rolle (vgl. Tannenbaum 1933). Nach einem Gespräch mit dem Dekan Frederick P. Keppel erhielt Tannenbaum ein bescheidenes Stipendium von den Childses und erwarb nach seinem Studium an der Columbia University (1921), wo er bei John Dewey studierte, einen PhD in Wirtschaftswissenschaften an der Brookings Institution in Washington, D.C. (1927).

Sein erstes berufliches Engagement war die Beratung des mexikanischen Präsidenten Lázaro Cárdenas. Von 1932-1934 war er Professor für Kriminologie an der Cornell University. 1935 kehrte er als Professor für lateinamerikanische Geschichte an die Columbia University zurück.

Werk

Wall Shadows (1922)

Crime and the Community (1938/1951)

Im Gegensatz zu den Theorien seiner Zeit, die von einer Fehlanpassung devianter Individuen an die Normen der Gesellschaft ausgingen, nahm Tannenbaum die Gruppe in den Blick und erklärte: "The issue involved is not whether an individual is maladjusted to society, but the fact that his adjustment to a special group makes him maladjusted to the large society because the group he fits into is at war with society” (1938: 8).

Abschließend konstatiert Tannenbaum (1951: 474-478):

  • "We cannot seriously change the incidence of crime in American life without changing our police, our politics, our morals, our values" (474).
  • "One thing is clear, that what we do now is wrong, perhaps completely wrong. We have failed to reform the criminal" (474).
  • "The trouble lies perhaps in a wrong analysis of the problem itself and therefore in a wrong way of dealing with it. It is, I think, no exaggeration to say that our entire punitive and rehabilitative efforts have gone wrong because they mis-state4d their problem. The assumptions both of those who would reform and of those who would punish have been these:

(1) The the criminal is an individual and can be dealt with as an individual (...) If the criminal is to change the patgtern of his ways, then the group from whom he takes the content of meaning for his activities and from whom he expects and receives recognition must change its expectancies from him." (475) ....

Zitate

  • "The young delinquent becomes bad because he is defined as bad and because he is not believed if he is good."
  • "The boy, no different from the rest of his gang, suddenly becomes the center of a major drama ..." (wenn er erwischt wird, während seine Kollegen nicht erwischt werden).
  • "The process of making the criminal, therefore, is a process of tagging, defining, identifying, segregating, describing, emphasizing, making conscious and self-conscious; it becomes a way of stimulating, suggesting, emphasizing, and evoking the very traits that are complained of."
  • "The way out is through a refusal to dramatize the evil. The less said about it the better. The more said about something else, still better."
  • "No more self-defeating device could be discovered than the one society has developed in dealing with the criminal."

Publikationen von Frank Tannenbaum

Kriminologie

  • Prison Democracy. The Atlantic Monthly 1920: 433-446
  • Wall Shadows. A Study in American Prisons. New York: G.P. Putnam's Sons, 1922. [1]
  • Osborne of Sing Sing. With an Introduction by the Honorable Franklin D. Roosevelt. The University of North Carolina Press in Chapel Hill, 1933.
  • Crime and the Community. Boston u. New York: Ginn & Co. 1938 (auch: Columbia University Press, New York 1938 und 1951).
  • Darker Phases Of The South, 1924, Publisher: G.P.Putnam s Sons,

Slave and Citizen, 1947, Beacon Press, 1946

Weitere Publikationen

  • The Mexican agrarian revolution, 1930
  • Darker phases of the South. G.P. Putnam's Sons in New York, London 1924.
  • Peace by Revolution: An Interpretation of Mexico. New York: Columbia University Press, 1933.
  • Slave and citizen. The negro in the Americas. Vintage books in New York 1946.
  • Mexiko, the Struggle for Peace and Bread, New York 1951 (dt. 1967).
  • A Philosophy of Labor. New York: Knopf 1951 (1964 eng. Ausg. u.d.T.: The true society. A philosophy of labor).
  • Eine Philosophie der Arbeit, Nürnberg 1954 (zuerst engl. 1951).
  • Ten Keys to Latin America, New York 1963.
  • Hg.: A Community of Scholars. New York: Frederick A. Praeger, 1965.

Publikationen über Frank Tannenbaum

  • Avrich, Paul (2006) The Modern School Movement, AK Press (204 f.).
  • Putnam, George Palmer (NYT 26. Juni 1921) The New Tannenbaum.

Zitate

  • "We must destroy the prison, root and branch. That will not solve our problem, but it will be a good beginning" (Wall Shadows, S. 141).

In seiner Titelgeschichte über das "Olympia-Land Mexiko" zitierte DER SPIEGEL in Heft 2/1968 Frank Tannenbaum mit einem Psychogramm des Mexikaners:

"Psychologisch gesehen", so analysiert der amerikanische Mexikanologe Frank Tannenbaum, "liegt der Einstellung der Mexikaner zum Leben etwas Krankhaftes zugrunde, Das ganze Leben ist durch die Erwartung einer unvorhergesehenen Rechtsverletzung, Gewaltanwendung oder eines plötzlichen Todes belastet. Jede Existenz treibt am Rande der Katastrophe. Die Drohung des Todes ist so gegenwärtig, daß sein tatsächliches gewaltsames Eintreten als etwas Selbstverständliches hingenommen wird; es hinterläßt daher auch viel weniger Entsetzen als In anderen zivilisierten Gesellschaften. Die Mexikaner leben in einer Welt, In der der Glaube an Ihre Mitmenschen nahezu zerbrochen ist. Sie wissen, daß Tragödien und Tod an jeder Ecke lauern. Es Ist kein Zufall, daß die Bewohner von Gebirgsgegenden dem scheidenden Fremden mit den Worten Glück wünschen: 'Möge Gott mit dir sein, und möge dir nichts Neues widerfahren'."

Weblinks