Frank Tannenbaum: Unterschied zwischen den Versionen

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Nun organisierte Tannenbaum sog. "sit-downs" von Arbeitslosen und Obdachlosen in Kirchen der Gutsituierten und forderten Unterkunft und Essen. So lange es sich um protestantische Kirchen handelte, verlief alles nach Plan. Mal wurde man abgewiesen, mal aber auch freundlich empfangen. So etwa in der Episcopal Church an der Lower Fifth Avenue. Die Zeitungen berichteten darüber, die Anliegen der Protestierer wurden zum öffentlichen Thema.
Nun organisierte Tannenbaum sog. "sit-downs" von Arbeitslosen und Obdachlosen in Kirchen der Gutsituierten und forderten Unterkunft und Essen. So lange es sich um protestantische Kirchen handelte, verlief alles nach Plan. Mal wurde man abgewiesen, mal aber auch freundlich empfangen. So etwa in der Episcopal Church an der Lower Fifth Avenue. Die Zeitungen berichteten darüber, die Anliegen der Protestierer wurden zum öffentlichen Thema.


Am 4. März 1914 - Frank Tannenbaums 21. Geburtstag - ging es dann für die rund 200 Mitglieder von Tannenbaums "army of the unemployed" nicht mehr so glatt: erstmals hatte man sich mit der [http://en.wikipedia.org/wiki/Church_of_St._Alphonsus_Ligouri_%28New_York_City%29 Sankt-Alphonsus-Kirche] am West Broadway eine katholische Kirche ausgesucht. Die Bitte um Erlaubnis, für eine Nacht dort bleiben zu dürfen, wurde mit einem Ruf nach der Polizei beantwortet, die schließlich 189 Männer und eine Frau (Gussie Miller von der Ferrer School) festnahm. Als Anführer erhielt Tannenbaum von Richter John A.L. Campbell die Höchststrafe von einem Jahr Gefängnis und 500 $ Geldbuße auferlegt. Die Buße wurde von der Ferrer Association, der Fraye Arbeter Shtime und dem Labor Defense Committee bezahlt. Aber die Freiheitsstrafe verbüßte er nahezu vollständig im Gefängnis von [http://www.correctionhistory.org/html/chronicl/nycdoc/html/blakwel1.html Blackwell's (heute: Roosevelt) Island]. Zu seiner Verurteilung erklärte er, dass die Gesellschaft bereit sei, nahezu jedes Delikt zu vergeben, außer das der Verkündung eines neuen Evangeliums: "That's my crime. I was going about telling people that the jobless must be housed and fed, and for that I got locked up." Wochenlange Massendemonstrationen in Manhattan (Union Square) mit Zehntausenden von Teilnehmern demonstrierten die Wirkung von Tannenbaums gewaltfreien Propagandaaktionen. In den Worten von Alexander Berkman hatten die Wobblie-Raids mehr zur Enttarnung religiöser Heuchelei beigetragen als Jahrzehnte der Aufklärungsarbeit durch Freidenker. Ein Gedicht von Adolf Wolff, das von manchen noch nach Jahrzehnten auswendig aufgesagt werden konnte, illustriert diese Wirkung: "Degraded in the convict's stripes/He chafes behind the prison bars/And breathes the dungeon stench./Arrayed in sacerdotal garb/The priest is celebrating mass/Preaching to men the word of God./The potentate upon the bench/Wrapped in judiciary gown, he sits/A judge of fellow men./Yet would I rather be - /The dirt on the feet of a Tannenbaum/Than the soul/Of such a judge - of such a priest" (Avrich 2005: 2006 ff.).
Am 4. März 1914 - Frank Tannenbaums 21. Geburtstag - ging es dann für die rund 200 Mitglieder von Tannenbaums "army of the unemployed" nicht mehr so glatt: erstmals hatte man sich mit der [http://en.wikipedia.org/wiki/Church_of_St._Alphonsus_Ligouri_%28New_York_City%29 Sankt-Alphonsus-Kirche] am West Broadway eine katholische Kirche ausgesucht. Die Bitte um Erlaubnis, für eine Nacht dort bleiben zu dürfen, wurde mit einem Ruf nach der Polizei beantwortet, die schließlich 189 Männer und eine Frau (Gussie Miller von der Ferrer School) festnahm. Als Anführer erhielt Tannenbaum von Richter John A.L. Campbell die Höchststrafe von einem Jahr Gefängnis und 500 $ Geldbuße auferlegt. Die Buße wurde von der Ferrer Association, der Fraye Arbeter Shtime und dem Labor Defense Committee bezahlt. Aber die Freiheitsstrafe verbüßte er nahezu vollständig im Gefängnis von [http://www.correctionhistory.org/html/chronicl/nycdoc/html/blakwel1.html Blackwell's (heute: Roosevelt) Island]. Zu seiner Verurteilung erklärte er, dass die Gesellschaft bereit sei, nahezu jedes Delikt zu vergeben, außer das der Verkündung eines neuen Evangeliums: "That's my crime. I was going about telling people that the jobless must be housed and fed, and for that I got locked up." Wochenlange Massendemonstrationen in Manhattan (Union Square) mit Zehntausenden von Teilnehmern demonstrierten die Wirkung von Tannenbaums gewaltfreien Propagandaaktionen. In den Worten von Alexander Berkman hatten die Wobblie-Raids mehr zur Enttarnung religiöser Heuchelei beigetragen als Jahrzehnte der Aufklärungsarbeit durch Freidenker. Ein Gedicht von [[Adolf Wolff]], das von manchen noch nach Jahrzehnten auswendig aufgesagt werden konnte, illustriert diese Wirkung: "Degraded in the convict's stripes/He chafes behind the prison bars/And breathes the dungeon stench./Arrayed in sacerdotal garb/The priest is celebrating mass/Preaching to men the word of God./The potentate upon the bench/Wrapped in judiciary gown, he sits/A judge of fellow men./Yet would I rather be - /The dirt on the feet of a Tannenbaum/Than the soul/Of such a judge - of such a priest" (Avrich 2005: 2006 ff.).


=== Studium und Beruf ===
=== Studium und Beruf ===

Version vom 14. Oktober 2011, 13:56 Uhr

Der einstige Anarchist und Strafgefangene Frank Tannenbaum (* 04.03.1893 in Brod, Österreich-Ungarn; heute Brody, Ukraine † 01.06.1969 in New York City), dem eine wohlhabende Philanthropin ein Studium ermöglichte und der zuerst Professor für Kriminologie an der Cornell University war, bevor er in Lateinamerika (und mit der Erforschung der Geschichte der Sklaverei) seine Lebensaufgabe fand, war zugleich der erste Kriminologe, der Abweichung und Kriminalität aus der Perspektive des symbolischen Interaktionismus analysierte und die Etikettierung der Außenseiter durch die Instanzen sozialer Kontrolle zum Thema machte. Insofern war er der Begründer der Labeling-Perspektive, auch wenn spätere Generationen glaubten, die von Tannenbaum bereits beschriebenen Etikettierungsvorgänge selbst entdeckt zu haben. Paradoxerweise erschienen Tannenbaums kriminologische Schriften - "Wall Shadows" (1922) und "Crime and the Community" (1938) - zehn Jahre vor, bzw. vier Jahre nach seiner Zeit als Kriminologie-Professor.


Leben

Propaganda der Tat in New York

Der 1905 mit seinen Eltern und zwei jüngeren Geschwistern aus Ostgalizien eingewanderte Frank Tannenbaum zog bereits im Alter von 13 Jahren (nach einer ersten Zeit auf einer kleinen Farm in Massachussetts) zu Verwandten nach New York City, wo er u.a. als Kellner und Liftboy arbeitete, vor allem aber im Ferrer Center (Modern School) zur Abendschule ging. Dort an der West 107th Street wurde er u.a. von Emma Goldman unterrichtet; er half auch bei der Herstellung der anarchistischen Zeitschrift Mother Earth und wurde bald ein führender Aktivist der militanten Gewerkschaft der sog. Wobblies. Er engagierte sich für den Acht-Stunden-Tag und einen Mindestlohn von drei Dollar am Tag.

Im besonders kalten Winter von 1913/14 hatte Tannenbaum eine neue Idee für direkte Aktionen, um das Schicksal der Hungernden und Ausgebeuteten zum öffentlichen Thema zu machen. Anlass war wohl eine Szene in der Cooper Union in Manhattan. Auf die Frage eines Arbeitslosen "If I need a job and there aren't any - what do I do?" hatte er vom damaligen US-Präsidenten Taft zur Antwort erhalten: "God knows - I don't."

Nun organisierte Tannenbaum sog. "sit-downs" von Arbeitslosen und Obdachlosen in Kirchen der Gutsituierten und forderten Unterkunft und Essen. So lange es sich um protestantische Kirchen handelte, verlief alles nach Plan. Mal wurde man abgewiesen, mal aber auch freundlich empfangen. So etwa in der Episcopal Church an der Lower Fifth Avenue. Die Zeitungen berichteten darüber, die Anliegen der Protestierer wurden zum öffentlichen Thema.

Am 4. März 1914 - Frank Tannenbaums 21. Geburtstag - ging es dann für die rund 200 Mitglieder von Tannenbaums "army of the unemployed" nicht mehr so glatt: erstmals hatte man sich mit der Sankt-Alphonsus-Kirche am West Broadway eine katholische Kirche ausgesucht. Die Bitte um Erlaubnis, für eine Nacht dort bleiben zu dürfen, wurde mit einem Ruf nach der Polizei beantwortet, die schließlich 189 Männer und eine Frau (Gussie Miller von der Ferrer School) festnahm. Als Anführer erhielt Tannenbaum von Richter John A.L. Campbell die Höchststrafe von einem Jahr Gefängnis und 500 $ Geldbuße auferlegt. Die Buße wurde von der Ferrer Association, der Fraye Arbeter Shtime und dem Labor Defense Committee bezahlt. Aber die Freiheitsstrafe verbüßte er nahezu vollständig im Gefängnis von Blackwell's (heute: Roosevelt) Island. Zu seiner Verurteilung erklärte er, dass die Gesellschaft bereit sei, nahezu jedes Delikt zu vergeben, außer das der Verkündung eines neuen Evangeliums: "That's my crime. I was going about telling people that the jobless must be housed and fed, and for that I got locked up." Wochenlange Massendemonstrationen in Manhattan (Union Square) mit Zehntausenden von Teilnehmern demonstrierten die Wirkung von Tannenbaums gewaltfreien Propagandaaktionen. In den Worten von Alexander Berkman hatten die Wobblie-Raids mehr zur Enttarnung religiöser Heuchelei beigetragen als Jahrzehnte der Aufklärungsarbeit durch Freidenker. Ein Gedicht von Adolf Wolff, das von manchen noch nach Jahrzehnten auswendig aufgesagt werden konnte, illustriert diese Wirkung: "Degraded in the convict's stripes/He chafes behind the prison bars/And breathes the dungeon stench./Arrayed in sacerdotal garb/The priest is celebrating mass/Preaching to men the word of God./The potentate upon the bench/Wrapped in judiciary gown, he sits/A judge of fellow men./Yet would I rather be - /The dirt on the feet of a Tannenbaum/Than the soul/Of such a judge - of such a priest" (Avrich 2005: 2006 ff.).

Studium und Beruf

Der Bericht in der New York Times über seine Gerichtsverhandlung führte zu einem Wendepunkt in seiner Biographie. Die äußerst wohlhabende New Yorker Philanthropin Grace H. Childs zeigte sich beeindruckt, nahm Kontakt zu ihm auf und trug entscheidend dazu bei, ihm seinen Wunsch nach einem Studium nach der Haftentlassung zu erfüllen. Sie kontaktierte E. Stagg Whitin vom National Committee on Prisons and Prison Labor und den Geschichtsprofessor Carlton Hayes von der Columbia University. Auch der prominente Sing-Sing-Gefängniswärter Thomas Mott Osborne spielte eine Rolle (vgl. Tannenbaum 1933). Nach einem Gespräch mit dem Dekan Frederick P. Keppel erhielt Tannenbaum ein bescheidenes Stipendium von den Childses und erwarb nach seinem Studium an der Columbia University (1921), wo er bei John Dewey studierte, einen PhD in Wirtschaftswissenschaften an der Brookings Institution in Washington, D.C. (1927). Sein erstes berufliches Engagement war die Beratung des mexikanischen Präsidenten Lázaro Cárdenas. Von 1932-1934 war er Professor für Kriminologie an der Cornell University. 1935 kehrte er als Professor für lateinamerikanische Geschichtean die Columbia University zurück.

Werk

Tannenbaum studierte unter anderem bei John Dewey, einem Freund und Kollegen von George Herbert Mead - und vielleicht auch bei Mead selbst; jedenfalls kannte er dessen Werke und vor allem auch "The Psychology of Punitive Justice" - und entwickelte unter anderem auf dieser Basis sein zentrales kriminologisches Werk, "Crime and the Community" von 1938, in dem er seine Konzeption der „Dramatisierung des Bösen“ darstellte und auf der Basis des Symbolischen Interaktionismus zu ersten Formulierungen eines etikettierungstheoretischen Ansatzes gelangte. Unter anderem enthielt dieses Buch die prägnante Formulierung "The young delinquent becomes bad because he is defined as bad" (1938: 17).

Im Gegensatz zu den Theorien seiner Zeit, die von einer Fehlanpassung devianter Individuen an die Normen der Gesellschaft ausgingen, nahm Tannenbaum die Gruppe in den Blick und erklärte: "The issue involved is not whether an individual is maladjusted to society, but the fact that his adjustment to a special group makes him maladjusted to the large society because the group he fits into is at war with society” (1938: 8).

Während Howard S. Becker in seinen "Außenseitern" ausdrücklich auf Tannenbaum und Lemert aufbaut, erklärte Lemert (in: Laub 1979), dass weder Becker noch er selbst sich der Werke Tannenbaums bewußt gewesen seien, als sie ihre Theorien entwickelten. Insgesamt führt der Name Tannenbaum in der Kriminologie heute ein zu seiner theoretischen Bedeutung im Widerspruch stehendes Schattendasein. Praktisch das einzige, was von ihm übrig blieb, sind die Ausdrücke "dramatization of evil" und "the delinquent becomes bad because he is defined as bad".

Zitate

  • "The young delinquent becomes bad because he is defined as bad and because he is not believed if he is good."
  • "The boy, no different from the rest of his gang, suddenly becomes the center of a major drama ..." (wenn er erwischt wird, während seine Kollegen nicht erwischt werden).
  • "The process of making the criminal, therefore, is a process of tagging, defining, identifying, segregating, describing, emphasizing, making conscious and self-conscious; it becomes a way of stimulating, suggesting, emphasizing, and evoking the very traits that are complained of."
  • "The way out is through a refusal to dramatize the evil. The less said about it the better. The more said about something else, still better."
  • "No more self-defeating device could be discovered than the one society has developed in dealing with the criminal."

Publikationen von Frank Tannenbaum

  • Wall shadows: a study in American prisons. New York: G.P. Putnam's sons, 1922. [1]
  • Darker phases of the South. G.P. Putnam's Sons in New York, London 1924.
  • Osborne of Sing Sing. With an introduction by the Honorable Franklin D. Roosevelt. The University of North Carolina press in Chapel Hill 1933.
  • Peace by Revolution: An Interpretation of Mexico. New York: Columbia University Press, 1933.
  • Crime and the Community. Boston u. New York: Ginn & Co. 1938 sowie: Columbia University Press, New York 1938.
  • Slave and citizen. The negro in the Americas. Vintage books in New York 1946.
  • Mexiko, the Struggle for Peace and Bread, New York 1951 (dt. 1967).
  • A Philosophy of Labor. New York: Knopf 1951 (1964 eng. Ausg. u.d.T.: The true society. A philosophy of labor).
  • Eine Philosophie der Arbeit, Nürnberg 1954 (zuerst engl. 1951).
  • Ten Keys to Latin America, New York 1963.
  • Hg.: A Community of Scholars. New York: Frederick A. Praeger, 1965.


Über Frank Tannenbaum

  • Avrich, Paul (2005) The Modern School Movement, AK Press (204 f.).

Weblinks

  • Literatur von und über Frank Tannenbaum im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
  • Delpar, Helen (1988) Frank Tannenbaum: The Making of a Mexicanist, 1914-1933. The Americas. Vol. 45, No. 2 (October), pp. 153-171.[[2]]
  • Frank Tannenbaum in: Cambridge Encyclopedia <a href="http://encyclopedia.stateuniversity.com/pages/7849/Frank-Tannenbaum.html">
  • Hale, Charles A. (1995) Frank Tannenbaum and the Mexican Revolution. The Hispanic American Historical Review Vol. 75, No. 2 (May, 1995), pp. 215-246
  • Hirschhorn, Bernard (1997) Democracy Reformed: Richard Spencer Childs and his fight for better government. [[3]]
  • Horsley, Carter B. (1969) Dr. Frank Tannenbaum, 76, Dies ..[[4]]
  • Tannenbaum, Frank Encyclopedia of the Harlem Renaissance
  • Laub, John (1979) Criminology in the Making. Edwin M. Lemert Interview ... [[5]]
  • Phillips, Michael Frank Tannenbaum (1893-1969) in: The Historical Encyclopedia of World Slavery [[6]]
  • Ross, Stanley R. (1969) Frank Tannenbaum (1893-1969) The Hispanic American Historical Review Vol. 50, No. 2 (May, 1970), pp. 345-348 [[7]]
  • Thompson, Charles Willis (1914) So-Called I.W.W. Raids ... [[8]]
  • Winn, Peter (2010) Frank Tannenbaum Reconsidered. International Labor and Working-Class History (2010), 77: 109-114 Cambridge University Press doi: 10.1017/S0147547909990275 [[9]]