Armut: Unterschied zwischen den Versionen

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Alltagssprachlich ist Armut verknüpft mit Not, Elend und Hunger genauso wie mit Verwahrlosung, Obdachlosigkeit und abweichendem Verhalten (Groenemeyer 1999, S. 270).
 
"Alltagssprachlich ist Armut verknüpft mit Not, Elend und Hunger genauso wie mit Verwahrlosung, Obdachlosigkeit und abweichendem Verhalten" (Groenemeyer 1999, S. 270).
Eine Reihe von Kriminalitätstheorien beziehen sich auf Armut und Unterschichten bzw. stellen einen vermeintlich ursächlichen Zusammenhang her zwischen Armut, Unterschicht und Kriminalität oder betrachten Armut zumindest als kriminogenen Faktor.
Eine Reihe von Kriminalitätstheorien beziehen sich auf Armut und Unterschichten bzw. stellen einen vermeintlich ursächlichen Zusammenhang her zwischen Armut, Unterschicht und Kriminalität oder betrachten Armut zumindest als kriminogenen Faktor.


==Allgemeines==
==Allgemeines==
===Etymologie===
===Etymologie===
Armut ist ein altes Substantiv zu ''arm''. Die Wortherkunft von arm ist unsicher. Es wird je nach Annahme der Wortherkunft gedeutet mit vereinsamt, unglücklich, auflösen, trennen, in Trümmer gehen, zurücklassen, verwaist oder elend (Kluge 2011, S. 60 f.).
Armut ist ein altes Substantiv zu ''arm''. Die Wortherkunft von arm ist unsicher. Es wird je nach Annahme der Wortherkunft gedeutet mit vereinsamt, unglücklich, auflösen, trennen, in Trümmer gehen, zurücklassen, verwaist oder elend (vgl. Kluge 2011, S. 60 f.).


===Definitionen===
===Definitionen===
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Zu allen Zeiten wurde Armut in Verbindung gebracht mit Kriminalität bzw. wurde Armen eine erhöhte Kriminalität unterstellt. Albrecht erinnert daran, dass Armut und die Folgen von Armut die ersten Anknüpfungspunkte für Freiheitsentzug und die Entstehung entsprechender Institutionen waren. Bettler, Prostituierte, Nichtsesshafte und Vagabunden wurden in der Vormoderne entsprechenden Disziplinierungsversuchen in Spinn- und Arbeitshäusern unterzogen. Das Zuchthaus als Vorläufer des modernen Gefängnisses war der Ort für Disziplinierung zur Arbeit und Unterbringung von Armen. Während des Industrialisierungsprozesses und der Entwicklung moderner Gesellschaften wurden Arme als „Lumpenproletariat“  (Marx 1971, S. 536) und „gefährliche Klasse“ eingeordnet (vgl. Albrecht 2011, S. 113).
Zu allen Zeiten wurde Armut in Verbindung gebracht mit Kriminalität bzw. wurde Armen eine erhöhte Kriminalität unterstellt. Albrecht erinnert daran, dass Armut und die Folgen von Armut die ersten Anknüpfungspunkte für Freiheitsentzug und die Entstehung entsprechender Institutionen waren. Bettler, Prostituierte, Nichtsesshafte und Vagabunden wurden in der Vormoderne entsprechenden Disziplinierungsversuchen in Spinn- und Arbeitshäusern unterzogen. Das Zuchthaus als Vorläufer des modernen Gefängnisses war der Ort für Disziplinierung zur Arbeit und Unterbringung von Armen. Während des Industrialisierungsprozesses und der Entwicklung moderner Gesellschaften wurden Arme als „Lumpenproletariat“  (Marx 1971, S. 536) und „gefährliche Klasse“ eingeordnet (vgl. Albrecht 2011, S. 113).


Fritz Sack beschreibt in ''Prävention – ein alter Gedanke in neuem Gewand'' diese „dangerous classes“, letztlich diese „armen Klassen“, insbesondere das städtische Industrieproletariat als Zugehörige zu einer „sozialen“ Klasse und Adressat strafrechtlicher Sozialkontrolle. Das Strafrecht wurde demnach eingesetzt als Herrschaftsmittel der besitzenden Klassen gegen das erstarkende Industrieproletariat. Im Zuge der Entstehung des modernen Wohlfahrtsstaates und der Akzeptanz und Anerkennung der gefährlichen, der kriminellen, der arbeitenden Klasse wurde schließlich ein Modus außerstrafrechtlicher sozialer Kontrolle politisch intendiert (vgl. Sack 1995, S. 442 f.).
Sack beschreibt in ''Prävention – ein alter Gedanke in neuem Gewand'' diese „dangerous classes“, letztlich diese „armen Klassen“, insbesondere das städtische Industrieproletariat als Zugehörige zu einer „sozialen“ Klasse und Adressat strafrechtlicher Sozialkontrolle. Das Strafrecht wurde demnach eingesetzt als Herrschaftsmittel der besitzenden Klassen gegen das erstarkende Industrieproletariat. Im Zuge der Entstehung des modernen Wohlfahrtsstaates und der Akzeptanz und Anerkennung der gefährlichen, der kriminellen, der arbeitenden Klasse wurde schließlich ein Modus außerstrafrechtlicher sozialer Kontrolle politisch intendiert (vgl. Sack 1995, S. 442 f.).


===Kriminalitätstheorien===
===Kriminalitätstheorien===
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=====Anomietheorie nach Merton=====
=====Anomietheorie nach Merton=====
Hauptvertreter der Anomietheorie ist Robert K. Merton. Er bezeichnet Anomie, was allgemein soviel wie Norm-, Regel- oder Gesetzeslosigkeit bedeutet,  als Zusammenbruch der kulturellen Struktur, der besonders dort erfolgt, wo eine scharfe Diskrepanz besteht zwischen kulturellen Normen und Zielen einerseits und den sozial strukturierten Möglichkeiten, in Übereinstimmung hiermit zu handeln, andererseits. Die Sozialstruktur gerät in Spannung zu den kulturellen Werten einer Gesellschaft (vgl. Merton 1974, S. 292). In dieser Gesellschaft wird ein ungewöhnlich starker Nachdruck auf bestimmte Ziele (Wohlstand, Macht) gelegt (ebd. 1974, S. 289).
Hauptvertreter der Anomietheorie ist Robert K. Merton. Er bezeichnet Anomie, was allgemein soviel wie Norm-, Regel- oder Gesetzeslosigkeit bedeutet,  als Zusammenbruch der kulturellen Struktur, der besonders dort erfolgt, wo eine scharfe Diskrepanz besteht zwischen kulturellen Normen und Zielen einerseits und den sozial strukturierten Möglichkeiten, in Übereinstimmung hiermit zu handeln, andererseits. Die Sozialstruktur gerät in Spannung zu den kulturellen Werten einer Gesellschaft (vgl. Merton 1974, S. 292). In dieser Gesellschaft wird ein ungewöhnlich starker Nachdruck auf bestimmte Ziele (Wohlstand, Macht) gelegt (vgl. Merton 1974, S. 289).
Der stärkste Druck, die größte Spannung, zu einem abweichenden Verhalten liegt dabei auf den niederen Schichten (ebd. 1974, S. 296).
 
Dieser kulturelle Nachdruck also stellt an die Angehörigen der unteren Schichten miteinander unvereinbare Anforderungen, woraus sich schließlich eine höhere Rate abweichenden Verhaltens ergibt (ebd. 1974, S. 297).
Der stärkste Druck, die größte Spannung, zu einem abweichenden Verhalten liegt dabei auf den niederen Schichten.
Dieser kulturelle Nachdruck also stellt an die Angehörigen der unteren Schichten miteinander unvereinbare Anforderungen, woraus sich schließlich eine höhere Rate abweichenden Verhaltens ergibt (vgl. Merton 1974, S. 296 f.).


Merton schränkt dies aber selbst ein, indem er konstatiert, dass weder Armut allein, noch ihre Verknüpfung mit beschränkten Chancen unterschiedliche Korrelationen (mit Kriminalität) erklären. Erst wenn die gesamte Konstellation, nämlich Armut, Begrenzung der Chancen und die Bedeutung kultureller Ziele, der außergewöhnliche kulturelle Nachdruck, betrachtet wird, kann von einem höherem korrelieren zwischen Armut und Verbrechen in der jeweiligen Gesellschaft gesprochen werden (ebd. 1974, S. 299).
Merton schränkt dies aber selbst ein, indem er konstatiert, dass weder Armut allein, noch ihre Verknüpfung mit beschränkten Chancen unterschiedliche Korrelationen (mit Kriminalität) erklären. Erst wenn die gesamte Konstellation, nämlich Armut, Begrenzung der Chancen und die Bedeutung kultureller Ziele, der außergewöhnliche kulturelle Nachdruck, betrachtet wird, kann von einem höherem Korrelieren zwischen Armut und Verbrechen in der jeweiligen Gesellschaft gesprochen werden (vgl. Merton 1974, S. 299).


=====Theorie der delinquenten Subkultur nach Cohen=====
=====Theorie der delinquenten Subkultur nach Cohen=====
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====Labeling-Ansatz nach Sack====
====Labeling-Ansatz nach Sack====
Fritz Sack skizziert in ''Neue Perspektiven in der Kriminologie'' einen Ansatz zu einer Soziologie des abweichenden Verhaltens. Das Problem der Armut stellt sich auch im Labeling-Ansatz von Fritz Sack insofern er Kriminalität als negatives Gut konzipiert, welches ebenso wie Privilegien ein Produkt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen ist. Kriminalität korreliert nach Sack besonders hoch mit der Schichtzugehörigkeit und der Zerrüttung einer Familie. Sack beschreibt, dass zwar 80-90 Prozent der Mitglieder der Gesellschaft schon etwas getan haben, das ein Gesetz unter Strafe stellt, aber nur ein kleiner Prozentsatz dieser Handlungen tatsächlich in die staatliche Sanktionsmühle gerät. Er beschreibt also einen Prozess des Herausfilterns, einen Selektionsprozess, wonach besonders Individuen aus den unteren Schichten in zerrütteten Familien mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu rechnen haben, in die Mühlen der staatlichen Sanktionsinstanzen zu geraten und letztlich als kriminell definiert zu werden. Insofern sind also besonders die genannten Individuen der Unterschicht von der Zuschreibung „kriminell“ betroffen (vgl. Sack, 1968, S. 463 ff.).
Fritz Sack skizziert in ''Neue Perspektiven in der Kriminologie'' einen Ansatz zu einer Soziologie des abweichenden Verhaltens. Das Problem der Armut stellt sich auch im Labeling-Ansatz von Sack insofern er Kriminalität als negatives Gut konzipiert, welches ebenso wie Privilegien ein Produkt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen ist. Kriminalität korreliert nach Sack besonders hoch mit der Schichtzugehörigkeit und der Zerrüttung einer Familie. Sack beschreibt, dass zwar 80-90 Prozent der Mitglieder der Gesellschaft schon etwas getan haben, das ein Gesetz unter Strafe stellt, aber nur ein kleiner Prozentsatz dieser Handlungen tatsächlich in die staatliche Sanktionsmühle gerät. Er beschreibt also einen Prozess des Herausfilterns, einen Selektionsprozess, wonach besonders Individuen aus den unteren Schichten in zerrütteten Familien mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu rechnen haben, in die Mühlen der staatlichen Sanktionsinstanzen zu geraten und letztlich als kriminell definiert zu werden. Insofern sind also besonders die genannten Individuen der Unterschicht von der Zuschreibung „kriminell“ betroffen (vgl. Sack 1968, S. 463 ff.).


====Räumlicher Ansatz nach Häussermann und Kronauer====
====Räumlicher Ansatz nach Häussermann und Kronauer====
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==Literatur==
==Literatur==
* Albrecht, Hans-Jörg (2011): Bestrafung der Armen. Zu Zusammenhängen zwischen Armut, Kriminalität und Strafrechtsstaat, in: Dollinger, B./Schmidt-Semisch, H. (Hrsg.), Gerechte Ausgrenzung?, Wiesbaden, S. 111-129.
* Albrecht, Hans-Jörg (2011): Bestrafung der Armen. Zu Zusammenhängen zwischen Armut, Kriminalität und Strafrechtsstaat, in: Dollinger, Bernd/Schmidt-Semisch, Henning (Hrsg.), Gerechte Ausgrenzung?, Wiesbaden, S. 111-129.


* Burzan, Nicole (2011): Soziale Ungleichheit. Eine Einführung in die zentralen Theorien, 4. Auflage, Wiesbaden.
* Burzan, Nicole (2011): Soziale Ungleichheit. Eine Einführung in die zentralen Theorien, 4. Auflage, Wiesbaden.