Armut

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"Alltagssprachlich ist Armut verknüpft mit Not, Elend und Hunger genauso wie mit Verwahrlosung, Obdachlosigkeit und abweichendem Verhalten" (Groenemeyer 1999, S. 270). Eine Reihe von Kriminalitätstheorien beziehen sich auf Armut und Unterschichten bzw. stellen einen vermeintlich ursächlichen Zusammenhang her zwischen Armut, Unterschicht und Kriminalität oder betrachten Armut zumindest als kriminogenen Faktor.

Allgemeines

Etymologie

Armut ist ein altes Substantiv zu arm. Die Wortherkunft von arm ist unsicher. Es wird je nach Annahme der Wortherkunft gedeutet mit vereinsamt, unglücklich, auflösen, trennen, in Trümmer gehen, zurücklassen, verwaist oder elend (vgl. Kluge 2011, S. 60 f.).

Definitionen

Allgemein bezeichnet Armut einen Zustand des Mangels an lebenswichtigen Gütern und Ressourcen. Dabei wird unterschieden zwischen absoluter und relativer Armut. Absolute Armut ist, zumindest teilweise, gleichzusetzen mit dem Kampf ums Überleben. Relative Armut hingegen variiert mit dem Wohlfahrtsniveau einer Gesellschaft. Hier bezieht sich die relative Armut auf Gruppen in einer Gesellschaft, die an oder unterhalb der Schwelle einer menschenwürdigen Existenz leben. Armut wird demnach über ein soziokulturelles Existenzminimum definiert. Es handelt sich also um einen relationalen Begriff, dessen Inhalt mit der historischen Entwicklung von Gesellschaften verändert wird. Armut bleibt damit keineswegs beschränkt auf Einkommen und materielle Güter, sondern sie ist als ein mehrdimensionales, auch soziales und kulturelles Phänomen zu sehen, das geringe Bildungschancen und den (Selbst-)Ausschluss von politischer Partizipation ebenso umfasst wie den Mangel an reichen sozialen Beziehungen (vgl. Dörre 2011, S. 20 f.).

Die relative Armut kann mit unterschiedlichen Indikatoren gemessen werden. Mit dem vergleichsweise einfachen Ansatz zur Einkommensarmut oder mit erheblich komplexeren Konzepten von Deprivation, Lebenslagen oder Chancenverwirklichung (vgl. Geißler 2011, S. 202).

Mit dem Konzept der Einkommensarmut wird unterschieden zwischen unterschiedlichen Armutsgrenzen. Die Situation von Personen, denen weniger als 40 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung steht, wird als strenge Armut bezeichnet. Daneben wird die 50 Prozent-Grenze bzw. im internationalen Vergleich häufig die 60 Prozent-Grenze verwendet um Personen als arm bzw. als armutsgefährdet zu bezeichnen (vgl. Rössel 2009, S. 252 f.).

Risikogruppen in Deutschland

Besondere Risikogruppen, also Bevölkerungsgruppen mit einem besonders hohen Anteil von Armen, sind heute nicht mehr nur alte Menschen und Frauen, insbesondere ältere Frauen, sondern alleinerziehende Mütter und kinderreiche Familien, damit zusammenhängend Kinder und Jugendliche sowie Menschen mit niedriger Qualifikation. Hinzu kommen die Risikogruppen der Arbeitslosen, der Migranten und der Getrenntlebenden (vgl. Geißler 2011, S. 206 f.).

Entwicklung der Armutsgefährdung in Deutschland

Laut dem Statistischen Bundesamt lag allgemein das Armutsrisiko 2008 für Deutschland bei 15,2 Prozent, 2011 bei 15,8 Prozent und 2014 bei 16,7 Prozent. Insofern ist ein leichter, aber stetiger Anstieg festzustellen. Die Armutsgefährdung vor Sozialtransfers (außer Pensions- und Rentenzahlungen) lag 2008 bei 24,2 Prozent, 2011 bei 25,1 Prozent und 2014 bei 25,0 Prozent. Auch hier ist im Zeitverlauf ein leichter Anstieg zu konstatieren. Insgesamt jedoch verringern staatliche Transferleistungen die Armutsgefährdung erheblich. Bei der Armutsgefährdungsquote handelt es sich hier nach EU-Definition um den Anteil der Personen, der mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der gesamten Bevölkerung auskommen muss.

Zusammenhänge mit anderen Begriffen

Der Begriff Unterklasse wurde vor allem in den Vereinigten Staaten angewandt zur Beschreibung der meist schwarzen Armutsbevölkerung in den innerstädtischen Ghettos. Diese Unterklasse ist daneben auch gekennzeichnet durch eine räumliche und strukturelle Isolation. Der Begriff Exklusion wurde in Europa, ausgehend von Frankreich, breit diskutiert (Kronauer 2000, S. 25, zit. nach Rössel 2009, S. 260). Demnach verweist der Begriff auch auf eine häufige Ausgrenzung aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, geringere gesellschaftliche Partizipationschancen und eine zunehmende soziale Isolation. Das Konzept hat Ähnlichkeiten mit dem Lebenslagen- und dem Deprivationsansatz. Der Begriff Prekariat ist eine neudeutsche Wortschöpfung, die sich auf Personen bezieht, die in geringfügigen, prekären oder befristeten Beschäftigungsverhältnissen erwerbstätig sind (vgl. Rössel 2009, S. 261 f.).

Armut als soziales Problem

Armut wird mitunter als unterste Stufe sozialer Schichtung betrachtet. Sofern Armut als eigenständiges soziales Problem betrachtet wird, ist eine besondere Qualität von Armut in Abgrenzung zu sozialer Ungleichheit zu belegen. Als eigenständiges soziales Problem ist Armut eine soziale Kategorie, die auf gesellschaftlichen Definitionen beruht. Demnach entsteht Armut dann, wenn eine Gesellschaft dazu übergeht, Armut als einen besonderen Status zu sehen und Personen oder Gruppen dieser sozialen Kategorie zuordnet. Der Armutsstatus ist negativ bestimmt danach, was die Armen nicht haben und dass sie keinen eigenen Beitrag zur Gesellschaft leisten können. Armut bedeutet Erniedrigung und weckt Gefühle von Mitleid auf der einen und Angst, Ausgrenzung und Stigmatisierung auf der anderen Seite. In der Gesellschaft existieren Überzeugungen einer potentiellen Gefährlichkeit der Armen für die gesellschaftliche Ordnung. Insofern wird eine Verbindung hergestellt von Armut und abweichendem Verhalten (vgl. Groenemeyer 1999, S. 270 f.).

Unter Stigmatisierung ist in diesem Zusammenhang ein soziales Merkmal, ein Stigma, zu verstehen, durch das eine Person sich von allen übrigen Mitgliedern einer Gesellschaft negativ unterscheidet und sie aufgrund dessen sozial deklassiert, isoliert oder sogar allgemein verachtet wird (vgl. Hillmann 2007, S. 864).

Theoretische Erklärungen

Eine allgemeine Theorie der Armut gibt es nicht. Je nach Zusammenhang und Erkenntnisinteresse kann man, beispielhaft, auf Theorien sozialer Ungleichheit, Subkulturtheorien, Theorien abweichenden Verhaltens oder Theorien räumlicher Segregation und Theorien des Politikversagens zurückgreifen (vgl. Groenemeyer 1999, S. 298). Beispielhaft werden drei theoretische Erklärungen hier kurz skizziert.

Armut als Subkultur

Hier wird ein intergenerationaler Transfer von Armut in der Familienstruktur, der sozialen Beziehungen und Wertorientierungen, welche als kulturelle Muster interpretiert werden, unterstellt. Diese kulturellen Muster wiederum werden über die Sozialisation an die nächste Generation weitergegeben (vgl. Groenemeyer 1999, S. 299).

Armut als Problem selektiver wohlfahrtsstaatlicher Sicherung

Mit der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates wurde ein System des Ressourcentransfers geschaffen. Die Verteilung von Lebenschancen unterliegt damit nicht mehr nur den Mechanismen der Marktteilnahme, sondern auch politischen Entscheidungen. Die Betroffenheit von Armut entwickelt sich demnach über die systematische Nichtberücksichtigung von nichtorganisierten, nicht artikulationsfähigen Interessen im politischen Prozess. Der Wohlfahrtsstaat ist damit als Form asymmetrischer Produktion von Lebenschancen zu sehen (vgl. Groenemeyer 1999, S. 301).

Funktionale Theorie der Armut

Eine anders gelagerte Erklärung von Armut stellt die funktionalistische Theorie der Armut dar. Demnach existiert Armut, weil sie eine Vielzahl positiver Funktionen für die Gesellschaft erfüllt. Neben wirtschaftspolitischen Aspekten tragen die Armen zur Normstabilität bei, sichern die Legitimität sozialer Ungleichheit und stellen ein Aktivitätsfeld der Politik dar. Ferner akzeptieren Arme eher schlechte Arbeitsbedingungen oder nehmen minderwertige Konsumgüter ab (vgl. Groenemeyer 1999, S. 303).

Diese Perspektive fragt also nicht danach, wie man Ungerechtigkeiten in der sozialen Schichtung beseitigen kann, sondern sie fragt danach, wofür soziale Schichtung nützlich sein kann und ob sie für eine Gesellschaft einen Beitrag leistet. In Deutschland wurde hier insbesondere der Ansatz von Davis und Moore zentral, wonach der Rang einer Position in der Gesellschaft von zwei universalen Determinanten bestimmt wird. Zum einen von der funktionalen Bedeutung einer Position in einer Gesellschaft und zum anderen der relativen Knappheit des Personals hierfür. Anders ausgedrückt werden also „die wichtigsten Positionen von den fähigsten Personen gewissenhaft ausgefüllt“ (Davis/Moore 1973 [1945], S. 398, zit. nach Burzan 2011, S. 34). Geeignete Personen müssen demnach motiviert werden, solche wichtigen Positionen einzunehmen. Dies geschieht mit entsprechenden Belohnungen, wie Einkommen oder Ansehen (vgl. Burzan 2011, S. 31 ff.).

Der Ansatz von Davis und Moore deutet auch an, dass für den Rang einer Position in der Gesellschaft die eigene Leistung eine große Rolle spielt. Demnach liegt ein sozialer Auf- oder Abstieg in hohem Maße in der individuellen Eigenverantwortung (vgl. Burzan 2011, S. 170).

Armut und Kriminalität

Historischer Rückblick

Zu allen Zeiten wurde Armut in Verbindung gebracht mit Kriminalität bzw. wurde Armen eine erhöhte Kriminalität unterstellt. Albrecht erinnert daran, dass Armut und die Folgen von Armut die ersten Anknüpfungspunkte für Freiheitsentzug und die Entstehung entsprechender Institutionen waren. Bettler, Prostituierte, Nichtsesshafte und Vagabunden wurden in der Vormoderne entsprechenden Disziplinierungsversuchen in Spinn- und Arbeitshäusern unterzogen. Das Zuchthaus als Vorläufer des modernen Gefängnisses war der Ort für Disziplinierung zur Arbeit und Unterbringung von Armen. Während des Industrialisierungsprozesses und der Entwicklung moderner Gesellschaften wurden Arme als „Lumpenproletariat“ (Marx 1971, S. 536) und „gefährliche Klasse“ eingeordnet (vgl. Albrecht 2011, S. 113).

Sack beschreibt in Prävention – ein alter Gedanke in neuem Gewand diese „dangerous classes“, letztlich diese „armen Klassen“, insbesondere das städtische Industrieproletariat als Zugehörige zu einer „sozialen“ Klasse und Adressat strafrechtlicher Sozialkontrolle. Das Strafrecht wurde demnach eingesetzt als Herrschaftsmittel der besitzenden Klassen gegen das erstarkende Industrieproletariat. Im Zuge der Entstehung des modernen Wohlfahrtsstaates und der Akzeptanz und Anerkennung der gefährlichen, der kriminellen, der arbeitenden Klasse wurde schließlich ein Modus außerstrafrechtlicher sozialer Kontrolle politisch intendiert (vgl. Sack 1995, S. 442 f.).

Kriminalitätstheorien

Eine Reihe von Kriminalitätstheorien beziehen sich auf Armut, Unterschichten oder Unterklassen bzw. stellen einen vermeintlich ursächlichen Zusammenhang her zwischen Armut, Unterschichten und Kriminalität oder betrachten Armut zumindest als kriminogenen Faktor.

Der Zusammenhang von Armut und Kriminalität gewinnt seine Überzeugungskraft aus dem vermuteten Zusammenhang von Armut einer Person und deren kriminellen Handeln, das direkt aus einer Notlage heraus geschieht. Dieser Ansatz hat die klassischen Perspektiven der täterorientierten, ätiologischen Ansätze der Kriminologie geprägt (Lamnek 1979, zit. nach Ohlemacher 2000, S. 207). Hingegen argumentiert die Labeling-Perspektive dahingehend, dass an Stelle der Verknüpfung von Armut und Kriminalität vielmehr eine Verknüpfung von Armut und Kriminalisierung vorliegt. Darüber hinaus gibt es eine räumliche Herangehensweise an das Phänomen (vgl. Ohlemacher 2000, S. 207).

Anomietheorien

Anomietheorien verknüpfen Kriminalität mit der Sozialstruktur einer Gesellschaft. Kriminalität entsteht als Folge eines Drucks, der von der Ungleichverteilung von sozio-ökonomischen Ressourcen ausgeht.

Anomietheorie nach Merton

Hauptvertreter der Anomietheorie ist Robert K. Merton. Er bezeichnet Anomie, was allgemein soviel wie Norm-, Regel- oder Gesetzeslosigkeit bedeutet, als Zusammenbruch der kulturellen Struktur, der besonders dort erfolgt, wo eine scharfe Diskrepanz besteht zwischen kulturellen Normen und Zielen einerseits und den sozial strukturierten Möglichkeiten, in Übereinstimmung hiermit zu handeln, andererseits. Die Sozialstruktur gerät in Spannung zu den kulturellen Werten einer Gesellschaft (vgl. Merton 1974, S. 292). In dieser Gesellschaft wird ein ungewöhnlich starker Nachdruck auf bestimmte Ziele (Wohlstand, Macht) gelegt (vgl. Merton 1974, S. 289).

Der stärkste Druck, die größte Spannung, zu einem abweichenden Verhalten liegt dabei auf den niederen Schichten. Dieser kulturelle Nachdruck also stellt an die Angehörigen der unteren Schichten miteinander unvereinbare Anforderungen, woraus sich schließlich eine höhere Rate abweichenden Verhaltens ergibt (vgl. Merton 1974, S. 296 f.).

Merton schränkt dies aber selbst ein, indem er konstatiert, dass weder Armut allein, noch ihre Verknüpfung mit beschränkten Chancen unterschiedliche Korrelationen (mit Kriminalität) erklären. Erst wenn die gesamte Konstellation, nämlich Armut, Begrenzung der Chancen und die Bedeutung kultureller Ziele, der außergewöhnliche kulturelle Nachdruck, betrachtet wird, kann von einem höherem Korrelieren zwischen Armut und Verbrechen in der jeweiligen Gesellschaft gesprochen werden (vgl. Merton 1974, S. 299).

Theorie der delinquenten Subkultur nach Cohen

In der theoretischen Weiterentwicklung der Anomietheorie sind die Subkulturtheorien, an dieser Stelle insbesondere die Theorie der delinquenten Subkultur nach Cohen, zu nennen. Ausgangspunkt für Cohen waren Jugendliche aus der Unterschicht in den USA, die sich in Banden organisierten. Demnach haben Jugendliche der Unterschicht Werte und Normen der Mittelschicht gelernt, aufgenommen und akzeptieren diese auch mehr oder weniger. Sie können die Ziele der Mittelschicht jedoch nicht erreichen, weil ihnen entsprechende Ressourcen fehlen. Es ergeben sich daraus Status- und Anpassungsprobleme. Die Beteiligung an einer Bande kann demnach diese Status- und Anpassungsprobleme lösen (vgl. Lamnek 2013, S. 165).

Labeling-Ansatz nach Sack

Fritz Sack skizziert in Neue Perspektiven in der Kriminologie einen Ansatz zu einer Soziologie des abweichenden Verhaltens. Das Problem der Armut stellt sich auch im Labeling-Ansatz von Sack insofern er Kriminalität als negatives Gut konzipiert, welches ebenso wie Privilegien ein Produkt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen ist. Kriminalität korreliert nach Sack besonders hoch mit der Schichtzugehörigkeit und der Zerrüttung einer Familie. Sack beschreibt, dass zwar 80-90 Prozent der Mitglieder der Gesellschaft schon etwas getan haben, das ein Gesetz unter Strafe stellt, aber nur ein kleiner Prozentsatz dieser Handlungen tatsächlich in die staatliche Sanktionsmühle gerät. Er beschreibt also einen Prozess des Herausfilterns, einen Selektionsprozess, wonach besonders Individuen aus den unteren Schichten in zerrütteten Familien mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu rechnen haben, in die Mühlen der staatlichen Sanktionsinstanzen zu geraten und letztlich als kriminell definiert zu werden. Insofern sind also besonders die genannten Individuen der Unterschicht von der Zuschreibung „kriminell“ betroffen (vgl. Sack 1968, S. 463 ff.).

Räumlicher Ansatz nach Häussermann und Kronauer

Häussermann und Kronauer stellen einen Bezug her zwischen Armut und Raum bzw. dem Quartier und abweichendem Verhalten. Im Mittelpunkt ihrer Betrachtung steht der Verlust des Arbeitsplatzes aufgrund eines sich veränderten Arbeitsmarktes als Folge des Wandels von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft und damit einhergehend eine Vergrößerung der Diskrepanz in der Einkommensverteilung sowie einer Zunahme von Armut. Betroffene Menschen müssen aufgrund des Verlustes des Arbeitsplatzes und der damit einhergehenden Verschlechterung ihrer monetären Ressourcen ihre bisherige Wohnung aufgeben und in andere, niedere Quartiere ausweichen. Armut hat den Autoren zufolge soziale und kulturelle Folgen, die in Ausgrenzung und Exklusion münden. Um eine solche Situation meistern zu können, spielt es demnach eine Rolle, in welchen räumlichen Zusammenhängen die Menschen leben, die in Armut geraten sind. Die Nachbarschaft, das Quartier, stellt einen Raum dar, der soziale und materielle Ressourcen bereitstellt oder den Zugang dazu erschwert oder verhindert. Das Wohnen in einem Quartier, in dem sich benachteiligte Haushalte konzentrieren kann Armut verstärken und Ausgrenzungstendenzen unterstützen (vgl. Häussermann/Kronauer 2009, S. 113).

Effekte eines Quartiers können demnach in drei Dimensionen gruppiert werden (vgl. Häussermann/Kronauer 2009, S. 121).

Das soziale Milieu wird von Modernisierungsverlierern, sozial Auffälligen und sozial Diskriminierten geprägt. Es entsteht demnach eine Dominanz abweichender Normen, die als Anpassungsdruck wirkt und zu einer dominanten Kultur abweichenden Verhaltens führt. Kinder und Jugendliche erlernen abweichendes Verhalten als normal, da ihnen wirklich normale Rollenmodelle fehlen (Theorie des sozialen Lernens). Erwachsene werden ebenfalls negativ beeinflusst. Ihre Kontakte konzentrieren sich auf das Quartier, welches sie selten verlassen. Kontakte zu Angehörigen integrierter Gruppen werden abgebaut, sodass die Qualität der Kontaktnetze schwindet (Netzwerktheorie) (vgl. Häussermann/Kronauer 2009, S. 122 f.). Materiell wird das Quartier benachteiligt durch eine Reduktion von Investitionen in die Infrastruktur sowie die Reduktion von Angeboten an Waren und Dienstleistungen, sodass insgesamt nur eine geringe Vielfalt von Einrichtungen für Konsum, Unterhaltung und Freizeit im Quartier besteht. Es entsteht schließlich ein Eindruck von Ärmlichkeit, der Vermüllung und Verwahrlosung der öffentlichen Räume. Symbolisch werden die Bewohner dieser Quartiere von außen stigmatisiert, was mit einer inneren Abwertung einhergeht. So wird die Bausubstanz vernachlässigt oder die Bewohner dieser Quartiere werden bei der Suche nach Ausbildungs- oder Arbeitsplätzen benachteiligt. Der Selbstwert der Bewohner sinkt entsprechend im Zeitverlauf (vgl. Häussermann/Kronauer 2009, S. 125 f.).

Armut und Kriminalpolitik

Der „moderne“ Wohlfahrtsstaat der 1960er und frühen 1970er Jahre und seine Kriminalpolitik war geprägt von „zivilisierten“ und „rationalen“ Strafpraktiken. Der Rechtsbrecher hatte einen Anspruch auf Rehabilitation und Reintegration. Er wurde in der Einsperrung human behandelt. Strafen dienten dem Schutz der Gesellschaft und dem Zweck der Besserung des Täters. Reaktive Formen staatlichen Eingreifens waren proaktiven Formen vorzuziehen. Dieses sozial-liberale kriminalpolitische Paradigma wurde seit Mitte der 1970er Jahre mehr und mehr infrage gestellt. Eine „postmoderne“ Zäsur folgte, vom Resozialisierungsmodell wurde zumindest teilweise abgerückt. Besserung wird demnach nicht länger als eine Frage der Fürsorge betrachtet, sondern vielmehr als eine Therapie der Härte. Marktorientierte neoliberale und expressive neokonservative Elemente fanden Berücksichtigung in der Strafpolitik. Insbesondere finden sich in den westeuropäischen Gefängnissen überproportional viele schwer oder nicht in den Arbeitsmarkt integrierbare Bevölkerungsgruppen, was als Folge eines flexibilisierten Arbeitsmarktes und einer faktischen Politik der Bestrafung von Armut lesbar ist. Systematische Formen der Exklusion von „Überflüssigen“ setzten sich fort in Konzepten der räumlichen Segregation (vgl. Krasmann 2003, S. 53 ff.).

Wacquant beschreibt in Bestrafen der Armen einen marktorientierten neoliberalen Staat in dem die zentrale Rolle der Wohlfahrt bei der Regulierung der marginalen Lohnarbeit und der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung in den Niederungen des sozialen Raumes durch den energischen Einsatz von Polizei, Gericht und Gefängnis ersetzt und gebührend ergänzt wird. Der einfachen Beaufsichtigung der Armen durch den Wohlfahrtsstaat folgt demnach die doppelte Regulierung der Armut durch die konzentrierte Aktion der straforientierten „workfare“ und eine beflissene und angriffslustige Strafverfolgungsbürokratie (vgl. Wacquant 2009, S. 294).

Literatur

  • Albrecht, Hans-Jörg (2011): Bestrafung der Armen. Zu Zusammenhängen zwischen Armut, Kriminalität und Strafrechtsstaat, in: Dollinger, Bernd/Schmidt-Semisch, Henning (Hrsg.), Gerechte Ausgrenzung?, Wiesbaden, S. 111-129.
  • Burzan, Nicole (2011): Soziale Ungleichheit. Eine Einführung in die zentralen Theorien, 4. Auflage, Wiesbaden.
  • Davis, Kinsley/Moore, Wilbert E. (1973): Einige Prinzipien der sozialen Schichtung, in: Hartmann, Heinz (Hrsg.): Moderne amerikanische Soziologie, 2. umgearbeitete Auflage, Stuttgart, S. 396-410 (zuerst 1945).
  • Dörre, Klaus (2011): Armut, in: Nohlen, Dieter/Grotz, Florian (Hrsg.). Kleines Lexikon der Politik, 5., überarbeitete und erweiterte Auflage. München.
  • Geißler, Rainer (2011): Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung, 6. Auflage, Wiesbaden.
  • Groenemeyer, Axel (1999): Armut als soziales Problem, in: Albrecht, Günter/Groenemeyer, Axel/Stallberg, Friedrich W. (Hrsg.): Handbuch soziale Probleme, Opladen/Wiesbaden, S. 270-318.
  • Häussermann, Harmut/Kronauer, Martin (2009): Räumliche Segregation und innerstädtisches Ghetto, in: Castel, Robert/Dörre, Klaus (Hrsg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt/Main, S. 113-130.
  • Hillman, Karl-Heinz (2007): Wörterbuch der Soziologie, 5., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart.
  • Kluge, Friedrich (2011): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 25., durchgesehene und erweiterte Auflage von Elmar Seebold, Berlin/Boston.
  • Krasmann, Susanne (2003): Die Kriminalität der Gesellschaft. Zur Gouvernementalität der Gegenwart, Konstanz.
  • Lamnek, Siegfried (1979): Theorien abweichenden Verhaltens, München.
  • Lamnek, Siegfried (2013): Theorien abweichenden Verhaltens. „Klassische“ Ansätze. 9., durchgesehene Auflage, Paderborn.
  • Marx, Karl (1971): Die Frühschriften, hrsg. von Siegfried Landshut, 6. Auflage, Stuttgart.
  • Merton, Robert K. (1974): Sozialstruktur und Anomie, in: Sack Fritz/König René (Hrsg.): Kriminalsoziologie. 2. Auflage, Frankfurt/Main, S. 283-313.
  • Ohlemacher, Thomas (2000): How far can you go? Empirische Sozialforschung, Kriminologie und Kriminalisierung. Das Beispiel Armut und Kriminalität, in: Ludwig-Mayerhofer, Wolfgang (Hrsg.): Soziale Ungleichheit, Kriminalität und Kriminalisierung, Opladen, S. 203-233.
  • Rössel, Jörg (2009): Sozialstrukturanalyse. Eine kompakte Einführung. Hagener Studientexte zur Soziologie, Wiesbaden.
  • Sack, Fritz (1968): Neue Perspektiven in der Kriminologie, in: Sack, Fritz/König, René (Hrsg.): Kriminalsoziologie, Frankfurt/Main, S. 431-476.
  • Sack, Fritz (1995): Prävention – ein alter Gedanke in neuem Gewand, in: Gössner, Rolf (Hrsg.): Mythos Sicherheit. Der hilflose Schrei nach dem starken Staat, Baden-Baden, S. 429 – 456.
  • Statistisches Bundesamt (2016): Lebensbedingungen, Armutsgefährdung

https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/EinkommenKonsumLebensbedingungen/LebensbedingungenArmutsgefaehrdung/Tabellen/EUArmutsschwelleGefaehrdung_SILC.html, abgerufen am 07.02.2016.

  • Wacquant, Loic (2009): Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit, Opladen/Farmington.