Abolitionismus: Unterschied zwischen den Versionen

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*Siehe: [http://www.interlog.com/~ritten/icopa.html International Conference on Penal Abolition]
*Siehe: [http://www.interlog.com/~ritten/icopa.html International Conference on Penal Abolition]


*Abolitionismus (Gefängnisse) http://prisonportal.informatik.uni-bremen.de/knowledge/index.php/Die_Wissensplattform_f%C3%BCr_den_Strafvollzug
*[http://prisonportal.informatik.uni-bremen.de/knowledge/index.php/Die_Wissensplattform_f%C3%BCr_den_Strafvollzug Prison Portal: Abolitionismus (Gefängnisse)]
*Amnesty International: Abolish the Death Penalty: http://www.amnesty.org/en/death-penalty (05.03.09).
*Amnesty International: Abolish the Death Penalty: http://www.amnesty.org/en/death-penalty (05.03.09).
*National Coalition to Abolish the Death Penalty: http://www.ncadp.org/ (05.03.09).
*National Coalition to Abolish the Death Penalty: http://www.ncadp.org/ (05.03.09).

Version vom 1. Mai 2011, 16:30 Uhr

Das Wort Abolitionismus bezeichnet erstens bestimmte (historische) Bestrebungen zur Aufhebung rechtlich institutionalisierter Zwänge wie z.B. der Sklaverei oder der Todesstrafe, zweitens eine kriminalpolitische Bestrebung zur Abschaffung der Gefängnisse, bzw. des gesamten Strafrechtssystems, und drittens eine theoretische Perspektive der Delegitimierung von Strafbegründungen, Strafpraktiken und Strafrechtssystemen. Im kriminalsoziologischen Sinne versteht man unter Abolitionismus einen theoretischen Ansatz, der den Verzicht auf die totale Institution des Gefängnisses bzw. in einem noch umfassenderen Sinne die Abschaffung des Strafrechts fordert.

Die kriminalsoziologischen Abolitionisten sind grundsätzlich der Meinung, dass der Staat nicht das richtige Organ sein kann, um die Art und Weise der Bestrafung festzusetzen. Ihrer Ansicht nach sollten das nähere Umfeld eines Täters oder eines Opfers die Möglichkeit haben, eine geeignete Reaktion festzusetzen.

Bedeutende Vertreter des kriminologischen Abolitionismus sind Nils Christie, Thomas Mathiesen, Herman Bianchi und Louk Hulsman. Abolitionistische Organisationen sind etwa das Anarchist Black Cross.

Als Abolitionisten bezeichneten sich im 19. Jahrhundert die Befürworter einer Abschaffung der Sklaverei und des Sklavenhandels (USA, Großbritannien), aber auch die KämpferInnen gegen die rechtliche Repression gegenüber Prostituierten (Großbritannien, Deutschland). Schließlich bezeichnen sich die Befürworter der Abschaffung der Todesstrafe als Abolitionisten. In der Gegenwart kommen diejenigen AbolitionistInnen hinzu, die sich für die Abschaffung der Gefängnisse und der Freiheitsstrafe, bzw. in ihrer radikaleren Ausformung für die Abschaffung des gesamten Systems von Strafrecht, Strafjustiz und Strafvollzug engagieren. Deshalb bezeichnet der Begriff heute auch eine im engeren Sinne kriminalpolitische Strömung, die auf eine Neudefinition von "Kriminalität" und auf alternative Formen der Konfliktregelung etwa im Sinne von restorative justice abzielt. Dieser straftheoretische und kriminalpolitische Abolitionismus denkt nicht in den Kategorien des Strafrechts, also von Täter und Opfer, von Schuld und Strafe usw., sondern denkt kritisch-analysierend über diese Kategorien und über die Folgen von deren Anwendung in der Strafrechtspraxis nach.


Begriffsgeschichte

Der Begriff geht auf das lateinische Verb abolere (-evi, -itum) zurück, das soviel heißt wie "vollständig abschaffen, beseitigen". Das Substantiv "abolitio" tauchte im Römischen Recht in mehreren Varianten auf. Ursprünglich war mit der abolitio die Streichung eines Namens aus der Liste der Angeklagten gemeint (etwa beim Tod eines Richters; die Fälle, für die er zuständig war, wurden dann eingestellt). Neben den nur rechtstechnischen Begriffen der abolitio ex lege und der abolitio privata gab es dann Ende des 1. Jahrhunderts n.Chr. die abolitio publica, d.h. eine Anweisung des Senats oder Kaisers an die Strafgerichte, alle anhängigen Verfahren mit Ausnahme der Verfahren gegen Sklaven und wegen Kapitalverbrechen als gegenstandslos zu betrachten. Solche abolitiones publicae wurden meist anlässlich besonderer Ereignisse erlassen, die mit Geburtstagen des Herrschers oder später dann - im christlichen Rom des 4. Jahrhunderts - mit christlichen Feiertagen wie z.B. dem Osterfest zu tun hatten.

Die abolitio publica setzt das Recht des Herrschers voraus, schwebende Verfahren einstellen zu lassen (= Abolitionsrecht). Das Abolitionsrecht gehörte in vordemokratischer Zeit zum selbstverständlichen Teil des herrschaftlichen Gnadenrechts. Im Ancien Régime konnte der König mit den lettres d'abolition zum Beispiel seine Günstlinge vor dem Zugriff der Strafjustiz bewahren oder auch jederzeit aus den Mühlen der Strafjustiz befreien. Nachdem das Abolitionsrecht des Königs von den Aufklärern schon als Ausdruck absolutistischer Willkür kritisiert worden war, wurde es gleich zu Beginn der Französischen Revolution restlos abgeschafft. In Preußen, wo das Abolitionsrecht dem "Oberhaupte des Staates unmittelbar" schon 1717 ausdrücklich zugesprochen worden war, hielt sich das Abolitionsrecht bis in das 19. Jahrhundert und überdauerte sogar die Reichsgründung von 1871, obwohl zum Beispiel die bayerische Verfassung dem König schon 1808 ausdrücklich untersagt hatte, anhängige Verfahren zu behindern oder zu beenden oder gar eine Partei ihrem gesetzlichen Richter zu entziehen. Da sich der Machthaber im NS-Staat ebenfalls wieder jede Intervention in laufende Verfahren vorbehielt, fand das exekutive Abolitionsrecht in Deutschland erst in der Bundesrepublik sein Ende. Für die Niederschlagung schwebender Verfahren bedarf es seither wie für Amnestien jeweils eines förmlichen Gesetzes.

Der Übergang vom meist willkürlich einzelfallbezogenen exekutiven Abolitionsrecht zum abstrakt-generellen Gesetz, das von einem demokratisch legitimierten Parlament verabschiedet wird, bedeutet in gewisser Weise zugleich den Übergang vom Abolitionsrecht zur Abolitionsgesetzgebung. Wo die Lehren und Bestrebungen des Abolitionismus Erfolge zeitigen, tun sie dies deshalb auf dem Wege über die Gesetzgebung: wo es gelang, bestimmte Sanktionsformen wie z.B. die Todesstrafe, das Zuchthaus oder das Arbeitshaus abzuschaffen, erfolgte das jeweils auf der Grundlage eines entpsrechenden Gesetzes.


Abolitionsbewegungen

Die Abolitionsbewegungen der Neuzeit entstammten meist dem anglo-amerikanischen politischen Protestantismus (Quäker, Mennoniten) und verfügen dort auch über eine ungebrochene Traditionslinie, während ihre kontinentaleuropäischen Gegenstücke und Ableger sich stärker aus den Quellen des Liberalismus und Sozialismus speisten, ohne allerdings in der Regel einen vergleichbaren Einfluss gewinnen zu können.

Sklaverei

In der ersten Etappe (1787-1807) konzentrierte sich der Kampf gegen die Sklaverei auf den transatlantischen Menschenhandel. Von entscheidender Bedeutung war die in England von Thomas Clarkson, Granville Sharp u.a. gegründete Society for Effecting the Abolition of Slavery (Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei; vgl. Hochschild 2005)). Der Slave Trade Act vom 25.03.1807 untersagte britischen Bürgern und Schiffen jeden Handel mit Sklaven und motivierte die britische Regierung zu einer heftigen Kampagne gegen jene Staaten, die weiterhin vom Transatlantik-Handel mit Afrikanern profitierten. Über den Verzicht aller anderen Staaten auf den Sklavenhandel hinaus verlangte Großbritannien das Recht, alle verdächtigen Schiffe zu untersuchen und die entdeckten Sklaventransporter zu beschlagnahmen. Während sich die USA, Dänemark, Schweden und Holland der Lage anpassten, wehrten sich Spanien, Portugal, Brasilien und Frankreich noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Durch Geld wurden bis 1853 Portugal (über 3 Mio. Pfund) und Spanien (über 1 Mio. Pfund), durch robuste Drohungen (1852) die brasilianischen Sklavenhändler auf Linie gebracht. Frankreich hingegen, das sich 1815 pro forma zum Verbot der Sklavenschiffe bekannt hatte, führte selbst kaum Kontrollen durch und verweigerte vor allem auch aus Nationalstolz jede britische Kontrolle und profitierte auf diese Weise bis 1848 von einem ausgedehnten illegalen transatlantischen Sklavenhandel. - In der zweiten Etappe ging es um die Abschaffung der Sklavenhaltung und die Befreiung aller Sklaven selbst. Meilensteine des lange Zeit als utopisch verschrieenen Kampfes der Abolitionisten waren die Revolte von Nat Turner (1831), der Lynchmord am Sklavereigegner Elijah P. Lovejoy (1837), der Fugitive Slave Act (1850) und dessen literarische Skandalisierung durch den Roman "Onkel Toms Hütte" (1852), gefolgt von der Hinrichtung John Browns nach dem Überall auf Harper's Ferry (1859) und der Wahl Abraham Lincolns zum US-Präsidenten (1860). Die förmliche Aufhebung der Sklaverei erfolgte in England 1838, in den USA 1865 und in Brasilien 1888.

Prostitution

Als die Engländerin Josephine Butler (1828-1906) im Jahre 1875 die International Abolitionist Federation (I.A.F.) gründete, um die rechtliche Diskriminierung und Kriminalisierung der Prostituierten, wie sie nicht zuletzt in den berüchtigten Contagious Diseases Acts (1869 ff.) Ausdruck gefunden hatten, zu beenden, war der Anklang an den Kampf gegen die Sklaverei durchaus gewollt, sah man doch im Schicksal der Prostituierten so etwas wie eine "white slavery". Die deutsche Sektion der I.A.F. wurde 1898 gegründet und artikulierte sich ab 1902 in den Abolitionistischen Flugschriften sowie in der Zeitschrift Der Abolitionist. Während die sonstige I.A.F. sich auf das rein negative Ziel einer Befreiung der Prostituierten von Schikanierung und Kriminalisierung beschränkte, wollte die deutsche I.A.F. unter Anna Pappritz weniger die Repression als die Prostitution selbst bekämpfen und nur die brutalen Mittel des damaligen Rechts durch weichere und effektivere ersetzen. Grundsätzlich wurde die Prostitution mit dem Geschlechtskrankheitengesetz vom 17.02.1927 dann auch straflos gestellt, obwohl das Gesetz der Polizei noch eine ganze Reihe von Möglichkeiten zur Kriminalisierung beließ.

Todesstrafe

Für die Abschaffung der Todesstrafe hatte sich schon Cesare Beccaria (1764) ausgesprochen, dessen Lehren in Europa wie auch bei den Freiheitskämpfern in den späteren USA großer Beliebtheit erfreuten. Während die Bewegung gegen die Todesstrafe nach dem Zweiten Weltkrieg Erfolge in den meisten Ländern der Erde zeitigte, hat diese abolitionistische Bewegung ihr Ziel in den USA, China, Japan sowie vielen anderen asiatischen und in so gut wie allen islamischen Staaten nicht erreicht. Andererseits sind die entsprechenden Bewegungen durchaus aktiv (vgl. NCADP; Amnesty International).

Gefängnisse

Für die - bislang noch nirgendwo erfolgte - Abschaffung der Gefängnisse setzen sich mehrere (häufig religiös inspirierte) abolitionistische Gruppen ein. So etwa die britische Gruppe Radical Alternatives to Prison (RAP; Zeitschrift: The Abolitionist). 1983 wurde die International Conference on Prison Abolition (ICOPA) gegründet, die 1987 das Wort Prison durch Penal ersetzte. Vor allem in Skandinavien entstanden in den 1970er Jahren Vereinigungen, die sich die Abschaffung des Gefängnisses zur Aufgabe stellten. So der dänische Verein für humane Kriminalpolitik (KRIM), die schwedische Vereinigung für Strafvollzugsreform (KRUM) und der norwegische Verein für Kriminalreform (KROM). Letzterer hatte nicht zuletzt aufgrund des Engagements von Thomas Mathiesen (1974) und Nils Christie auch Einfluss auf Deutschland wie z.B. auf die Gründung des Vereins für eine bessere Kriminalpolitik (IbK) und des kriminalpolitischen Arbeitskreises in der Arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer Arbeitskreise (KRAK in der AG SPAK). Michel Foucault wiederum engagierte sich zu der Zeit in der Gruppe Gefängnisinformation (GIP; Groupe d'Information sur les Prisons). Während diese Initiativen wenig greifbare Erfolge vorweisen konnten, hat sich an der Peripherie der westlichen Welt, speziell in Neuseeland und Australien, aber auch in Kanada, eine Bewegung der Restorative Justice etabliert, die nicht mehr auf Einschließungsmilieus setzt. Erfolge dieser Art belegen u.U. die Ansicht von Theoretikern wie Klaus Lüderssen (1984) und Gilles Deleuze (1990), dass sich die westlichen Gesellschaften bereits dem Ende der Epoche der Freiheitsstrafe nähern.

Strafrecht

Die abolitionistische Bewegung setzt nicht nur auf die Abschaffung der Freiheitsstrafe, sondern in manchen ihrer Facetten auch auf die Abschaffung aller Institution der Strafrechtspflege von der spezfisch strafrechtlichen Sprache über die Institution der Strafe bis hin zu den Straf- und Strafzwecktheorien. Nicht die Verletzung eines Strafgesetzes, sondern die Situation, in der zwischenmenschliche Verletzungen entstanden, sollen im Vordergrund stehen. Auch geht es nicht um die Identifikation eines schuldigen Täters und um dessen gerechte Bestrafung, sondern um die Frage der Verantwortlichkeit und der Möglichkeit einer Wiederherstellung verträglicher Lebensbedingungen für die Zukunft. Louk Hulsmans (1986) Kritik des Strafrechts umfasste u.a. folgende Punkte:

  • Das sog. Strafrechtssystem ist gar kein System im Sinne zweckgerichteter Kooperation zur Erreichung der postulierten Ziele. Es erreicht de facto seine postulierten Ziele nicht. Dominant sind Eigendynamiken und unintendierte Nebenfolgen. Beweis: die unmittelbaren Erfahrungen der unmittelbar Beteiligten. Wissenschaftliche Untersuchungen.
  • Die sog. Straftaten, also "kriminelle Ereignisse", unterscheiden sich nicht wesentlich von anderen "problematischen Ereignissen" im Leben der Menschen und verdienen deshalb auch keine spezielle Bezeichnung oder Reaktion - und schon gar keine staatlich monopolisierte Reaktion in Form der Kriminalstrafe. Weder die Eigenschaften der Personen ("Kriminelle") noch die Eigenschaften der Ereignisse oder Handlungen ("Straftaten") rechtfertigen eine spezialisierte Behandlung ("Bestrafung").

Kritik und Gegenkritk

Der häufigste Vorwurf an die Adresse von Abolitionisten ist der Utopie-Vorwurf. Der Gegenvorwurf an die Adresse der Kritiker wurde von Gerhard Mauz (1975: 7) formuliert: "Es muss nicht bis zum Ende aller Tage angeklagt und verurteilt werden. Über die Verstöße gegen unsere Vereinbarungen, die wir Gesetze nennen, als hätten wir sie wie Moses vom Berge herabgebracht, kann auch solidarisch verhandelt, sie können auch leidenschaftslos ausgetragen werden (so jedenfalls, dass nicht noch mehr Leid entsteht, so schon gelitten wird). - Es setzt dies nur voraus, dass wir darauf verzichten, über Menschen zu befinden; dass wir uns dazu entschließen, mit ihnen, für sie und damit auch für uns nach Lösungen zu trachten. - Eine Utopie? Eine Utopie ist wohl eher die Vorstellung, es könne unsere Mühe um den kAustrag der Konflikte, die im Zusammenhang mit unseren Vereinbarungen entstehen, für alle Zeit im Anklagen und Verurteilen am Ziel sein - in einem Richt, das über uns richtet. Eine Utopie ist doch wohl eher die Vorstellung, wir könnten für alle Zeit damit am Ziel sein, dass wir strafen."

Siehe auch

Welt ohne Gefängnisse

Literatur

  • Deleuze, Gilles (1990) Das elektronische Halsband (orig.: L'Autre Journal, 1, Mai 1990) http://www.nadir.org/nadir/archiv/netzkritik/postskriptum.html (06.03.09).
  • Hochschild, Adam (2005) Bury the Chains. The British Struggle to Abolish Slavery. New York: Houghton Mifflin 2005.
  • Hulsman, Louk H.C. (1986) Critical criminology and the concept of crime. Contemporary Crises 10: 63-79.
  • Mathiesen, Thomas (1974) The Politics of Abolition. London.
  • Mauz, Gerhard (1975) Das Spiel von Schuld und Sühne. Die Zukunft der Strafjustiz. Düsseldorf, Köln.
  • Sebastian Scheerer, "Abolitionismus". In: R. Sieverts, H.J. Schneider, Hg., Handwörterbuch der Kriminologie. In völlig neu bearb. zweiter Auflage, Band 5, Berlin: de Gruyter: 1991: 289-301 (S. 289).

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