Walter Benjamin

Aus Krimpedia – das Kriminologie-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Der deutsche Philosoph Walter Bendix Schönflies Benjamin (* 15.07.1892 in Berlin; † 26.09.1940 in Portbou) schrieb u.a. über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Über den Begriff der Geschichte, "Über Haschisch" und Zur Kritik der Gewalt.

Walter Benjamin hatte einen Bruder (Georg Benjamin) und eine Schwester (Dora Benjamin, 1901-1946). Die DDR-Justizministerin Hilde Benjamin war Ehefrau seines Bruders Georg. Walter Benjamins Ehefrau, ebenfalls Dora, wurde durch ihren Briefwechsel mit Gershom Scholem bekannt.

Leben

Der Sohn eines Charlottenburger Kunst- und Antiquitätenhändlers verbrachte Schulzeit und Studium (Philosophie, Germanistik, Kunstgeschichte) zu einem Großteil in Berlin. Promoviert wurde er in Bern, wohin er sich - frisch verheiratet - 1917 nicht zuletzt zwecks Vermeidung des Krieges begeben hatte.

Zurück in Berlin scheiterte er mit dem Versuch, eine Zeitschrift namens "Angelus Novus" zu gründen. Er ging nach Frankfurt am Main, wo er sich habilitieren wollte - seine Arbeit aber zur Vermeidung einer förmlichen Ablehnung zurückziehen musste. 1926 finden wir Benjamin an einer Proust-Übersetzung arbeitend in Paris, danach dann - seinem zunehmenden Interesse am Kommunismus folgend - in Moskau. In den 1930er Jahren lernte er Brecht kennen, arbeitete für das Radio und schrieb für die Frankfurter Zeitung erste Teile seiner autobiographischen Skizze über seine "Berliner Kindheit um neunzehnhundert". 1932 und 1933 verbrachte er jeweils den Sommer auf Ibiza. Beim ersten Aufenthalt tauschte er mit Jean Selz Drogenerfahrungen aus. Beim zweiten lernte er die niederländische Malerin Anna Maria Blaupot ten Cate kennen. Seit dem Herbst 1933 befand sich Benjamin angesichts der Verhältnisse in Deutschland im Pariser Exil. Dort traf er auf Hannah Arendt, die ihn - der von einem schmalen Mitarbeitergehalt des Frankfurter Instituts für Sozialforschung (z.Zt. New York) lebte - auch finanziell unterstützte. Er arbeitete an seinem Passagenwerk und verfasste den Aufsatz über "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (1936). Von 1937 bis 1939 war Benjamin Mitglied des von Georges Bataille, Michel Leiris und Roger Caillois gegründeten Collège de Sociologie sowie Batailles Geheimgesellschaft Acéphale. Nach Kriegsausbruch wurde Benjamin für drei Monate mit anderen deutschen Flüchtlingen in einem Sammellager bei Nevers interniert. Seinen letzten Text schrieb Benjamin nach der Haftentlassung im November 1939, die "Thesen Über den Begriff der Geschichte". Benjamin flüchtete nach Lourdes, von wo er zunächst weiter nach Marseille reiste, bevor er im September 1940 mit Hilfe von Lisa Fittko den vergeblichen Versuch unternahm, über die Grenze nach Spanien zu gelangen.

Im Grenzort Portbou, wo er die Auslieferung an die Deutschen unmittelbar bevorstehen sah, starb er in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940. Als wahrscheinlich gilt ein Suizid mit Morphin, es kursieren aber auch Spekulationen über einen erzwungenen Suizid (also einen Mord) oder eine Tötung durch Agenten Stalins.

Die wichtigste Freundschaft Benjamins bestand mit Gershom Scholem, den er 1915 kennen gelernt hatte, und mit Theodor Adorno, den er in seiner Frankfurter Zeit in den frühen 1920er Jahren kennen lernte. Die Freundschaft mit dem Reformpädagogen Gustav Wyneken zerbrach 1915 an dessen Kriegsbegeisterung.

Werk

"Walter Benjamins intellektuelle Laufbahn ist ganz gewiss eine der erstaunlichsten des 20. Jahrhunderts. Zu Lebzeiten publizierte er drei Bücher: 1920 seine Dissertation zur romantischen Kunstkritik, 1928 die surrealistisch anmutende Aphorismen-Sammlung 'Einbahnstraße' und seine gescheiterte Habilitationsschrift zum Trauerspiel des deutschen Barock. 1936 stellte er unter Pseudonym eine Briefanthologie aus der deutschen Geistesgeschichte zusammen. Ansonsten: vier Übersetzungen von Büchern Baudelaires, Balzacs und Prousts, vor allem aber eine Unzahl von Essays und Rezensionen, viele davon zum bloßen Broterwerb" (Matz 2010). Erst in den 1960er Jahren begann die große postume Entdeckung: "Der Essayist, Kritiker, Übersetzer, gescheiterte Akademiker, Kunsttheoretiker, Geschichtsphilosoph Walter Benjamin wurde plötzlich zu einem der am meisten diskutierten Schriftsteller dieses Jahrhunderts; es entstand eine wahre Scholastik, die den 'marxistischen' gegen den 'bürgerlichen' oder 'jüdischen' Benjamin ins Feld führte (...)." (Matz 2010).

Benjamins geistige Herkunft lässt sich mit den Bezügen Stefan George, Goethe und Hölderin, Hofmannsthal, Rilke und Borchardt benennen. Er befasste sich - jeder philosophischen Systematik abhold und regelmäßig bestrebt, "präzisen Denkbewegungen auszuweichen" (Matz 2010) - immer mit konkreten Gegenständen, aus deren Analyse und Kontextualisierung er zu allgemeinerer Erkenntnis vorzustoßen trachtete. Immer versuchte er, sich von der Hegemonie des Allgemeinbegriffs zu lösen und der Vergötterung des Wesens gegenüber dem Unwesentlichen, des Bleibenden gegenüber dem Vergänglichen und Nichtigen Widerstand zu leisten. Er wollte dem von der Philosophie immer Vergessenen, dem Unwiederholbaren, intentionslosen Konkreten gerecht werden, es, wo möglich, „retten“. Er verstand sich selbst - jedenfalls in den 1930er Jahren - als dialektischen Materialisten, war aber ein durchaus unkonventioneller. Seine Konzeption einer „Dialektik im Stillstand“ war darauf aus, das im Fluss Befindliche so anzuschauen, dass aus den isolierten Details gleichsam physiognomisch die Wahrheit sich entziffern lasse - unverkennbar waren in seinem Materialismus auch theologische und messianische Motive enthalten.

Zur Kritik der Gewalt

Der Text untersucht (jenseits von Naturrecht und positivem Recht), ob Gewalt überhaupt als Mittel zu gerechten Zwecken sittlich sein kann - und ob eine gewaltfreie Zukunft moeglich ist.

  • Kritik der staatlichen Gewalt: Nur das Recht selbst hat die berechtigten Mittel der Gewalt (Freiheitsentzug, Geldstrafe, Todesstrafe) und unterscheidet somit zwischen der sanktionierten (legalen) Gewalt und der nicht-sanktionierten (illegalen) Gewalt. Rechtmäßig, aber nicht unbedingt gerecht, ist Gewalt im positiven Recht immer dann, wenn ihrem Zweck eine historische Anerkennung zugrunde liegt. Die historische Anerkennung gründet sich auf dem Sieg: er setzt das neue Recht. Erlaubt ist, was dem Sieger nützt, verboten, was ihn gefährdet. Ob Mittel und Zwecke des bestehenden Rechts gerecht sind, ist völlig unentscheidbar. Das bestehende Recht ist Erhaltung des Bestehenden und kritisiert werdendes Recht, verurteilt die Handlungen, die das Bestehende gefährden. Die Tendenz des Rechts ist es, die Gewalt den Rechtszwecken dienstbar zu machen und die Gewalt außerhalb des Rechts so weit als möglich zu reduzieren. Eine Struktur, die notwendig alle außerhalb des Rechts liegende Gewalt (z.B. erzieherische Gewalt, Notwehr) zum Feind des bestehenden Rechts macht. Durch ihr bloßes Dasein, nicht durch ihre Zwecke, außerhalb des Rechts wird die Gewalt schon zur Gefahr für das Recht.
  • Das Recht des Staates kann als rechtserhaltende Gewalt bezeichnet werden. Sie besteht in einer Anwendung von Gewalt als Mittel zu Rechtszwecken. Die Unterordnung der Bürger unter die Gesetze ist ein Rechtszweck. Die Kritik der Pazifisten und Aktivisten an solchen Rechtsvorschriften wie etwa der Wehrpflicht ist allerdings als solche parikulare Kritik unzulänglich. Hier ist vielmehr eine Kritik aller Rechtsgewalt, das heißt eine Kritik der legalen oder exekutiven Gewalt, vonnöten und ist bei einem geringeren Anspruch auch gar nicht zu leisten.
  • Alle Gewalt ist als Mittel entweder rechtsetzend oder rechtserhaltend. Um den Kreis von Mittel und Zweck, welcher zum Recht und dem ihm innewohnenden Widerspruch führt, zu durchbrechen, ist es erforderlich, in der Betrachtung der Gewalt selbst diese nicht als Zweck aber auch nicht als Mittel zu rechtmäßigen oder gerechten Zwecken zu sehen. Zwei Fragen erheben sich: 1. Wie ist eine Aufhebung der Gewalt schlechthin denkbar? 2. Welches ist die reine unmittelbare Gewalt, also die nicht als Zweck und nicht als Mittel verstandene?
  • Die erste Frage ist die nach den gewaltlosen Formen zur Regelung widerstreitender Interessen. Vor allem ist es nötig festzustellen, daß eine gewaltlose Beilegung der Konflikte niemals auf einen Rechtsvertrag hinauslaufen kann, denn dieser verpflichtet und führt bei Nichteinhaltung zur Gewalt. Auch ein parlamentarisch festgeschiebener Kompromiss ist nicht gewaltfrei, weil sein Bruch zwangsweise Durchsetzung zur Folge haben muesste. Die gewaltlose Beilegung von Konflikten findet sich gerade im zwischenmenschlichen Bereich zur Genüge. Gewaltlose Einigung findet sich überall, wo die Kultur des Herzens den Menschen reine Mittel der Übereinkunft an die Hand gegeben hat. Grundlegende Voraussetzungen für den Menschen sind Vertrauen, Rücksichtnahme, Herzenshöflichkeit, Neigung, Friedensliebe und vieles mehr. Dies sind reine Mittel und ergeben als Mittel noch nicht unmittelbare Lösungen menschlicher Konflikte, doch aber mittelbare. Mittelbar heißt über ein Drittes. Das Dritte führt uns in den Bereich der Sachen, der objektiv handhabbaren Erscheinungen. Die erste ist die Technik der zivilen Unterredung, deren prinzipielle Ausschaltung der Gewalt nicht nur dadurch angezeigt ist, daß die sprachliche Verständigung der Gewalt unzugänglich ist, sondern – und das ist bedeutend – durch die Straflosigkeit der Lüge. Denn die Lüge kann hilfreich sein, sobald der eine dem anderen verzeiht oder vergibt, d.h. das ihm Angetane vergißt. Ehrlichkeit hat hier ihre zwiespältige Bedeutung, ist die Verzeihung nämlich angestrebt, so wird sie verhindert durch die zwanghafte Berufung auf das ehrlich Angetane. Es gibt vielleicht keine Gesetzgebung auf der Erde, welche die Lüge ursprünglich bestraft. Darin spricht sich aus, daß es eine in dem Grade gewaltlose Sphäre menschlicher Übereinkunft gibt, daß sie der Gewalt vollständig unzugänglich ist: die eigentliche Sphäre der »Verständigung«, der Sprache. Erst nachträglich hat das Recht, indem es den Betrug unter Strafe stellte, die Sphäre der zivilen Unterredung gestört.
  • In nationalen Konflikten findet sich in der Form der Diplomatie ein gewaltfreies Mittel. In der jahrtausendealten Geschichte von Staaten hat sich die Diplomatie als ein Mittel gewaltloser Übereinkunft herausgebildet. Nur gelegentlich besteht die Aufgabe der Diplomaten in der Modifikation von Rechtsordnungen. Im Wesentlichen haben sie analog zur Übereinkunft zwischen Privatpersonen im Namen ihrer Staaten friedlich und ohne Verträge von Fall zu Fall deren Konflikte beizulegen. Diese Methode der Lösung steht grundsätzlich höher als die der Schiedsgerichte, denn sie befindet sich jenseits aller Rechtsordnung und also aller Gewalt. Im ganzen Bereich der Gewalten, der von Naturrecht und positivem Recht umrissen wird, findet sich keine, welche von der angedeuteten Problematik jeder Rechtsgewalt frei wäre. Nicht immer korrespondieren die berechtigten Mittel mit den gerechten Zwecken. Vielmehr können sie auch im Widerspruch liegen. Geht doch die Entscheidung über die Berechtigung der Mittel aus schicksalhafter Gewalt hervor (aus dem historischen Sieg), während andererseits die Zwecke situationsgebunden gesehen werden müssen, denn Zwecke, welche für eine Situation gerecht und allgemeingültig sind, sind dies für keine andere, wenn auch in ihren Beziehungen noch so ähnlichen Lage. Die Überwindung des Bannkreises aller bisherigen durchs Recht verordneten weltgeschichtlichen Daseinslagen ist zunächst unter völligem und prinzipiellem Verzicht auf jede Gewalt unvollziehbar, es ergibt sich also die Frage nach anderen Arten von Gewalt, wie alle Rechtstheorie sie ins Auge faßt. Ein naheliegendes Beispiel zeigt die alltägliche Lebenserfahrung. Der Zorn ist ein sehr sichtbarer Ausbruch der Gewalt, welche aber hier nicht Mittel ist für einen vorbestimmten Zweck, sondern Manifestation. Die Gewalt bricht aus und beruhigt sich auch sehr schnell wieder. Der Zornige manifestiert sich selbst, er behauptet sein Leben. Der Ursprung des Rechts selbst im Verlauf der Manifestationen von Gewalt ist der Mythos. Die frühgeschichtliche Herausforderung des 'Schicksals' durch den Menschen, der Anspruch auf Macht über dieses, zeigt den Zusammenhang von Macht und Rechtsetzung, denn Recht bedeutet Absicherung des Gewonnenen und so wird das Recht, solange es besteht, Vorrecht der Könige, der Mächtigen sein. Der Zweck der Rechtsetzung bleibt somit eine pervertierte Ausnutzung der Gewalt als Recht im Namen der Macht. Folgenschwerste Auswirkung der mythischen Rechtsetzung ist die Setzung der Grenze, so wie der Friede die immer wieder neue Grenze setzt zu den Kriegen im mythischen Zeitalter. Gesetze und umschriebene Grenzen bilden das Übertretbare, den Ort, an dem der Ahnungslose der Strafe verfällt. Daß dies Zufall ist und nicht Notwendigkeit, wird von den Rechthabern nicht erkannt, bei ihnen heißt das Schicksal, was noch der Satz belegt, Unkenntnis der Gesetze schützt vor Strafe nicht.
  • Weit entfernt, eine reinere Sphäre zu eröffnen, zeigt die mythische Manifestation der unmittelbaren Gewalt sich im tiefsten mit aller Rechtsgewalt identisch und macht die Ahnung von deren Problematik zur Gewißheit von der Verderblichkeit ihrer geschichtlichen Funktion, deren Vernichtung damit zur Aufgabe wird. Die reine unmittelbare Gewalt aber, die der mythischen Gewalt Einhalt zu gebieten vermöchte, ist die göttliche. Ist die mythische Gewalt rechtsetzend, so die göttliche rechtsvernichtend, setzt jene Grenzen, so vernichtet diese grenzenlos, ist die mythische verschuldend und strafend zugleich, so die göttliche entstrafend, ist jene drohend, so diese einfach schlagend, jene blutig, so diese auf unblutige Weise letal. Wie das Recht sich selbst erhält, ist seine Gewalt, als mythische, Gewalt über das bloße Leben um ihrer selbst willen, die göttliche reine dagegen Gewalt über alles Leben um des Lebendigen willen (das beste wesentliche Leben ist hier Grund der Gewalt). Die erste fordert Opfer, die zweite nimmt sie an.
  • Wenn der göttliche, momentane Vollzug der Gewalt also für jeden einzelnen auch die tödliche Gewalt freizugeben scheint, so sei auf dieses Gebot verwiesen: »Du sollst nicht töten!« Dieses Gebot steht vor der Tat und ist Richtschnur für den, der handeln will. Die Gemeinschaft oder ein einzelner kann in ungeheuren Fällen diese Verantwortung auf sich nehmen, wie es schon die Tötung in Notwehr zugibt. Entscheidend ist hier, das Gebot und Entschluß aus dem Wunsch nach Gerechtigkeit hervorgehen. Das Leben ist nämlich nicht das minimale der bloßen Kreatur, sondern das optimale in Glück und Gerechtigkeit, die Seele des Lebendigen. Und so läßt sich zum Unterdrücker sagen: »Töte ich nicht, so errichte ich nimmermehr das Weltreich der Gerechtigkeit.« So heilig und ehrwürdig die Seele des Menschen ist, so wenig ist es sein leibliches, durch Mitmenschen verletztliches Dasein. Die Frage ist also nicht, was das Gebot und die Gewalt am Opfer bewirken, wie es die Verurteilung der vollbrachten Tat durch das Recht glauben machen will, sondern was sie an Gott und am Täter selbst bewirken.
  • Die Kritik der Gewalt ist die Philosophie ihrer Geschichte, d.h. die Idee des Endes aller Gewalt. In der Durchbrechung des Kreislaufs von rechtserhaltender und rechtsetzender Gewalt, der Abschaffung des Rechts samt der Gewalten, auf die es angewiesen ist wie sie auf jenes, zuletzt also der Staatsgewalt, begründet sich ein neues geschichtliches Zeitalter.
  • Revolutionaere Gewalt ist die höchste Manifestation reiner Gewalt durch den Menschen. Dies ist die Gewalt, die der Rechtsgewalt Einhalt zu gebieten vermag, ohne neue Rechtsverhältnisse zu erzeugen. So, wie das Recht die festschreibende Verewigung der Gewalt bewirkt, ist die reine unmittelbare Gewalt, die entstrafende und entsühnende, die göttliche, diejenige, die das Ende aller Gewalt zu markieren vermag.
  • Nicht gleich möglich noch auch gleich dringend ist aber für Menschen die Entscheidung, wann reine Gewalt in einem bestimmten Falle wirklich war. Denn nur die mythische, nicht die göttliche, wird sich als solche mit Gewißheit erkennen lassen, es sei denn in unvergleichlichen Wirkungen, weil die entstrafende Kraft der Gewalt für Menschen nicht zutage liegt. Von neuem stehen der reinen göttlichen Gewalt alle ewigen Formen frei, die der Mythos mit dem Recht bastardierte. Sie vermag im wahren Kriege genauso zu erscheinen wie im Gottesgericht der Menge am Verbrecher. Verwerflich aber ist alle mythische Gewalt, die rechtsetzende, welche die schaltende genannt werden darf. Verwerflich auch die rechtserhaltende, die verwaltete Gewalt, die ihr dient. Die göttliche Gewalt, welche Insignium und Siegel, niemals Mittel heiliger Vollstreckung ist, mag die waltende heißen. Das Soziale ist in seinem jetzigen Stande Manifestation gespenstischer und dämonischer Mächte, allerdings oft in ihrer höchsten Spannung zu Gott, ihrem aus sich selbst Herausstreben. Göttliches manifestiert sich in ihnen nur in der revolutionären Gewalt. Nur in der Gemeinschaft, nirgends in den »sozialen Einrichtungen« manifestiert sich Göttliches gewaltlos oder gewaltig. (In dieser Welt ist höher: göttliche Gewalt als göttliche Gewaltlosigkeit. In der kommenden göttliche Gewaltlosigkeit höher als göttliche Gewalt.) Dergleichen Manifestation ist nicht in der Sphäre des Sozialen, sondern der offenbarenden Wahrnehmung und zuletzt und vor allem der Sprache, zuallererst der heiligen zu suchen. Die heilige Sprache ist die Manifestation reiner göttlicher Gewaltlosigkeit. Die Suche nach der offenbarenden Wahrnehmung wird somit zur Aufgabe.

Über Haschisch

Benjamins bekanntester Text über Drogen ist »Haschisch in Marseille«. Benjamin hatte bei experimentellem Konsum (unter der Aufsicht befreundeter Ärzte) seine Reaktionen protokollieren lassen und sich in anderen Sitzungen mit Meskalin befasst. Seine Ergebnisse fasste er in der Novelle „Mylowitz - Braunschweig - Marseille" zusammen, die er 1930 in der Zeitschrift „Uhu" und 1932 in einer anderen Version in der „Frankfurter Zeitung" veröffentlichte. Die Haschisch-Wirkungen werden realitätsnah und für den Laien zugänglich beschrieben. Diese und andere Texte aus den Jahren 1927-1934, aus denen Benjamin ursprünglich ein Buch machen wollte, wurden 1972 von Tillman Rexroth unter dem Titel "Über Haschisch" herausgegeben.

"Es ist das Jahr 1927 in Berlin. Während einige nationalsozialistische und marxistische Gruppen bereits in gewaltsame Straßenkämpfe geraten, beginnt der heute legendäre deutsch-jüdischen Philosoph und Essayist Walter Benjamin mit seinen Freunden Ernst Joël und Fritz Fränkel mit sehr ernsthaften Intentionen mit Haschisch zu experimentieren. Während einer seiner ersten Experimente notiert er als letzte Beobachtung in sein Erfahrungsprotokoll: "Man geht die gleichen Wege des Denkens wie vorher. Nur sie scheinen mit Rosen bestreut"."

Über den Begriff der Geschichte

Seine letzte Arbeit, die Thesen Über den Begriff der Geschichte, ist ein Zeugnis seines „Erwachens aus dem Schock des Hitler-Stalin-Paktes“ (Scholem). Besonders bekannt geworden ist die erste These: Die Theologie sei heute klein und hässlich und habe sich deshalb unter dem Schutzmantel des historischen Materialismus zu verbergen. Wenn der historische Materialismus die Theologie in seinen Dienst nehme, könne er es ohne weiteres mit jedem aufnehmen. Gegenüber der Geschichtsphilosophie des Idealismus mit ihrer vom Marxismus geteilten Fetischisierung des Fortschrittsbegriffs fordert Benjamin eine Kopernikanische Wendung, die der jüdischen Lehre des „Eingedenkens“ zu ihrem Recht verhelfen würde. Philosophie habe den Blick auf die „Trümmer der Geschichte“ und die geschichtlichen Katastrophen zu lenken, auf all das, „was verraten, unterdrückt und vergessen“ wurde. Während die traditionelle Geschichtsphilosophie, zumal in der Hegelschen Gestalt, ihr movens in der Verklärung des Untergangs hat, im Tode des Endlichen das Unendliche, Absolute feiert, ist Benjamins Gegenstand gerade das „Unzeitige, Leidvolle, Verfehlte“, dass Geschichte immer noch in bloßer Naturgeschichte verhalte.


Zitate

  • "Es führt zu nichts Gutem, wenn Institute, wo Titel, Berechtigungen, Lebens- und Berufsmöglichkeiten erworben werden dürfen, sich Stätten der Wissenschaft nennen."

Rezeption

Nachdem Adorno und Scholem nach dem Zweiten Weltkrieg viele von Benjamins Schriften erstmalig herausgaben, nachdem in den USA ein von Hannah Arendt herausgegebener Band Benjamin ab 1969 auch dort bekannt machte, und vor allem, seit 1970 bis 1989 eine umfangreiche, praktisch vollständige Ausgabe seiner Gesammelten Schriften erschienen war, verkehrte sich Benjamins Wirkung in das Gegenteil der Erfolglosigkeit, die sein Schaffen zu Lebzeiten erfahren hatte. Seine Dissertation im Jahr 1920 war von der Fachöffentlichkeit kaum wahrgenommen, seine Habilitationsschrift von der Frankfurter Universität sogar abgelehnt worden. Nach seinem Tod wurde Benjamin zum Anreger verschiedener geistes- und sozialwissenschaftlicher Fächer, die seinen gesellschaftskritischen Impetus wiederaufnahmen: "Die biographische Moritat vom ewig Scheiternden - in der Liebe wie an der Universität, in der Politik wie auf der letzten, mit dem Selbstmord endenden Flucht - tat ein Übriges, aus Benjamins Leben und Denken eine der großen Heiligenlegenden des 20. Jahrhunderts zu formen, mit dem unvergleichlichen Finale der rätselhaften, verlorenen Aktentasche, die der Flüchtling über die Pyrenäen schleppte und deren Inhalt ihm wichtiger gewesen sein soll als das Leben. Nichts kann sprechender sein für diese zum Mythos gemachte Gestalt als der Gedanke an ein großes, definitives Manuskript, das die Deutung dieses katastrophalen Jahrhunderts enthalten hätte und das von ebendiesem Jahrhundert auf dem letzten Weg verschluckt wurde" (Matz 2010).

Die Benjamin-Rezeption wird nach Wolfgang Matz (2010) nicht zuletzt von Stereotypen beherrscht: "Da ist der bedeutende marxistische Theoretiker - obwohl er nur sehr wenig von Marx gelesen hatte; der jüdische Gelehrte - dem der wirkliche jüdische Gelehrte Scholem die Unkenntnis des Judentums attestierte; der bedeutende Literaturkritiker - an dessen Bedeutung bereits Kracauer seine Zweifel hatte. Benjamin soll der tiefste Interpret Baudelaires, Prousts, Kafkas, Brechts gewesen sein und der bedeutendste Übersetzer der beiden ersten - die eine Behauptung gehört halb, die zweite ganz und gar ins Reich der Legende."

Der Titel von Benjamins Arbeit über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1935) wurde zu einer Art geflügeltem Wort. Während man sich früher in ein Konzert begeben musste, um ein Orchester zu hören (oder in ein Museum, um ein Gemälde zu sehen), führt die Reproduzierbarkeit der Kunstwerke auf Tonträgern, Farbdrucken usw. und deren massenhafte Verbreitung zu einer "Entwertung des Originals", d.h. einer allgemeinen Verfügbarkeit und einem Verlust der Aura. Diese von Benjamin positiv gewertete Entwicklung wurde von Adorno vor allem unter dem negativen Gesichtspunkt der Regression und des Fetischcharakters der Massenkunst gesehen. Benjamin selbst näherte sich den Massenmedien auch praktisch durch experimentierfreudige Hörfunksendungen (Kinderfunk, Bücherstunde, Erzählungen, Hörspiele).


Am Berliner Wohnhaus Benjamins in den Jahren von 1930 bis 1933 (Prinzregentenstraße 66, Berlin-Wilmersdorf) befindet sich eine Gedenktafel. Der Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf hat vor wenigen Jahren einem von Hans Kollhoff neugeschaffenen Stadtplatz (Leibnizkolonnaden) in der Nähe des Kurfürstendamms den Namen „Walter-Benjamin-Platz“ gegeben.

Schriften

  • Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bde. I–VII, Suppl. I–III (in 17 Bänden gebunden). 1. Auflage, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1972–1999. Revidierte Taschenbuch-Ausgabe: Bde. I–VII (in 14 Bänden gebunden), Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991. Bd. I/1: Abhandlungen, S. 1–430: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik; Goethes Wahlverwandtschaften; Ursprung des deutschen Trauerspiels; Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Erste und Zweite Fassung. Bd. I/2: Abhandlungen, S. 435–796: "Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus", 3 Teile: "Das Paris des Second Empire bei Baudelaire", "Über einige Motive bei Baudelaire", "Zentralpark"; "Über den Begriff der Geschichte"; Selbstanzeige der Dissertation; "L'œuvre d'art à l'époque de sa reproduction mécanisée"; "Notes sur les Tableaux parisiens de Baudelaire".
  • Zur Kritik der Gewalt, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, 1921 (pdf)
  • Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Zeitschrift für Sozialforschung, 1936 [franz. Übers.]
  • Über den Begriff der Geschichte, in: Walter Benjamin zum Gedächtnis, 1942; Die Neue Rundschau, 1950
  • Das Passagen-Werk, hrsg. von Rolf Tiedemann, 2 Bände, Suhrkamp Frankfurt am Main 1983 [Taschenbuchausgabe]
  • Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. Gießener Fassung, hrsg. und mit einem Nachwort von Rolf Tiedemann. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000

Literatur

  • Brodersen, Momme : Walter Benjamin. Leben, Werk, Wirkung. (= Suhrkamp BasisBiographie 4). Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-518-18204-8.
  • Kramer, Sven : Walter Benjamin zur Einführung. Junius, Hamburg 2003, ISBN 3-88506-373-5
  • Lindner, Burkhardt (Hrsg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Metzler, Stuttgart und Weimar 2006, ISBN 3-476-01985-3
  • Scholem, Gershom : Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1975 ISBN 3-518-01467-6
  • ders.: Walter Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsätze und kleine Beiträge Suhrkamp, Frankfurt 1983 ISBN 3-518-57634-8
  • Bulthaup, Peter (Hrsg.): Materialien zu Benjamins Thesen „Über den Begriff der Geschichte“, Beiträge und Interpretationen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975, ISBN 3-518-07721-X
  • Derrida, Jacques : Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-518-13331-4
  • Haverkamp, Anselm (Hrsg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida–Benjamin. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-518-11706-8
  • Heye, Uwe-Karsten (2014) Die Benjamins. Eine deutsche Familie. Berlin: Aufbau. Rezension in: taz
  • Matz, Wolfgang (2010) Halbe Arbeit an einer Entmythologisierung. FAZ 03.02.2010: 28.
  • Konersmann, Ralf : Erstarrte Unruhe. Walter Benjamins Begriff der Geschichte., Fischer, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-596-10962-0
  • Stéphane Mosès: Der Engel der Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Gershom Scholem. Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-633-54088-1
  • Marian Nebelin: Walter Benjamin und die Besiegten. Theologie – Verlust – Geschichte. (= Poetica. Schriften zur Literaturwissenschaft, Bd. 96). Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2007, ISBN 978-3-8300-3035-5
  • Michael Opitz, Erdmut Wizisla (Hrsg.): Benjamins Begriffe. 2 Bände. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000, ISBN 3-518-12048-4
  • Jean-Michel Palmier: Walter Benjamin - Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein. Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin, Herausgegeben und mit einem Vorwort von Florent Perrier. Aus dem Französischen von Horst Brühmann, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009 ISBN 978-3-518-58536-8
  • Rudel, Tilla (2006) : Walter Benjamin L’Ange assassiné, éd. Menges - Place Des Victoires, 2006
  • Rolf Tiedemann: Dialektik im Stillstand. Versuche zum Spätwerk Walter Benjamins. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-518-28045-7

Weblinks

  • Walter Benjamin, in: de.wikipedia
  • Engert, Roland: Zur Kritik der Gewalt. Ein Porträt des Aufsatzes von Walter Benjamin. [[1]]
  • Hesse, Christoph (2007) Walter Benjamin und die Frankfurter Schule. Vortrag Goethe Institut Tiflis. Rote Ruhr Uni. [[2]]

Verwandte Artikel