Zur Kritik der Gewalt

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Walter Benjamins Aufsatz aus dem Jahre 1921 Zur Kritik der Gewalt untersucht die Bedeutung der Gewalt für den einzelnen und die Gesellschaft, ihr Verhältnis zum Recht und zur mythischen Macht. Er behandelt auch die gewaltfreie Konfliktlösung.

Begriff

  • Gewalt im allgemeinsten bedeutet: Eingriff in den sittlichen Bereich des Menschen, den Bereich körperlicher und seelischer Unversehrtheit.

Im ersten Teil des Aufsatzes werden politische und gesellschaftliche Formen der Gewalt betrachtet (die erlaubten Formen). Gegenstück zur göttlichen Gewalt ist die mythische, d.h. die "drohende" ("wenn-dann"), die bei Nichteinhaltung von Verboten mit Strafe droht.

  • Da Mittel nie Zweck, sondern immer nur Mittel ist, ist eine Kritik der Gewalt in erster Linie eine Kritik der Mittel. Gegenstand der Untersuchung ist nicht die Berechtigung der Zwecke, sondern sondern wie sich die Regelung widerstreitender Interessen (im persönlichen Bereich und in der Politik) gewaltsam oder gewaltfrei manifestiert und wie die Rechtsgewalten in ihrer Beziehung zur reinen unmittelbaren Gewalt zu definieren sind.
  • Für das Naturrecht, das Faustrecht, den wilden Radikalismus ist Gewalt ein Naturprodukt, das niemandem verboten werden darf, es sei denn, sie wird zu ungerechten Zwecken mißbraucht. Diese Einstellung besagt, daß Gewalt überall ist und somit auch angewendet werden darf, ist aber auch nur auf das zur Zeit Bestehende bezogen und sagt nichts darüber aus, ob es eine Gesellschaft ohne Gewalt in Zukunft geben kann. Außerdem bleibt die Gewalt damit dem subjektiven Urteil unterworfen, womit eine objektive Betrachtung aus dieser Sicht unmöglich wird.
  • Eine andere Auffassung vertritt das positive Recht. Der naturrechtlichen These von der Gewalt als natürlicher Gegebenheit tritt die positiv-rechtliche von der Gewalt als historischer Gewordenheit diametral entgegen. Kann das Naturrecht jedes bestehende Recht nur beurteilen in der Kritik seiner Zwecke, so das positive jedes werdende nur in der Kritik seiner Mittel.
  • Das wesentliche Merkmal des positiven Rechts ist das Gewaltmonopol. Nur das Recht selbst hat die berechtigten Mittel der Gewalt (Freiheitsentzug, Geldstrafe, Todesstrafe) und unterscheidet somit zwischen der sanktionierten (legalen) Gewalt und der nicht-sanktionierten (illegalen) Gewalt. Rechtmäßig, aber nicht unbedingt gerecht, ist Gewalt im positiven Recht immer dann, wenn ihrem Zweck eine historische Anerkennung zugrunde liegt. Die historische Anerkennung in unserer rechtlichen Gesellschaft gründet sich auf dem Sieg: er setzt das neue Recht. Erlaubt ist, was dem Sieger nützt, verboten, was ihn gefährdet. Ob Mittel und Zwecke des bestehenden Rechts gerecht sind, ist völlig unentscheidbar. Das bestehende Recht ist Erhaltung des Bestehenden und kritisiert werdendes Recht, verurteilt die Handlungen, die das Bestehende gefährden. Die Tendenz des Rechts ist es, die Gewalt den Rechtszwecken dienstbar zu machen und die Gewalt außerhalb des Rechts so weit als möglich zu reduzieren. Eine Struktur, die notwendig alle außerhalb des Rechts liegende Gewalt (z.B. erzieherische Gewalt, Notwehr) zum Feind des bestehenden Rechts macht. Durch ihr bloßes Dasein, nicht durch ihre Zwecke, außerhalb des Rechts wird die Gewalt schon zur Gefahr für das Recht.
  • Vergleichbare rechtssetzende Gewalt findet sich im Kriegsrecht, wonach es nach Entscheidung des Krieges dem Sieger zusteht, das Recht zu bestimmen. Der Begriff des Friedens hat hier seine Funktion, als Feststellung des von nun an Gültigen. Der Staat aber fürchtet diese Gewalt schlechterdings als rechtsetzend.
  • Das Recht des Staates hingegen kann als rechtserhaltende Gewalt bezeichnet werden. Sie besteht in einer Anwendung von Gewalt als Mittel zu Rechtszwecken. Die Unterordnung der Bürger unter die Gesetze ist ein Rechtszweck. Die Kritik der Pazifisten und Aktivisten an solchen Rechtsvorschriften wie etwa der Wehrpflicht ist allerdings als solche parikulare Kritik unzulänglich. Hier ist vielmehr eine Kritik aller Rechtsgewalt, das heißt eine Kritik der legalen oder exekutiven Gewalt, vonnöten und ist bei einem geringeren Anspruch auch gar nicht zu leisten.
  • Alle Gewalt ist als Mittel entweder rechtsetzend oder rechtserhaltend. Um den Kreis von Mittel und Zweck, welcher zum Recht und dem ihm innewohnenden Widerspruch führt, zu durchbrechen, ist es erforderlich, in der Betrachtung der Gewalt selbst diese nicht als Zweck aber auch nicht als Mittel zu rechtmäßigen oder gerechten Zwecken zu sehen.
  • Zwei Fragen erheben sich: 1. Wie ist eine Aufhebung der Gewalt schlechthin denkbar? 2. Welches ist die reine unmittelbare Gewalt, also die nicht als Zweck und nicht als Mittel verstandene?
  • Die erste Frage ist die nach den gewaltlosen Formen zur Regelung widerstreitender Interessen. Vor allem ist es nötig festzustellen, daß eine gewaltlose Beilegung der Konflikte niemals auf einen Rechtsvertrag hinauslaufen kann, denn dieser verpflichtet und führt bei Nichteinhaltung zur Gewalt. Nicht Ort zur Klärung der Frage nach gewaltlosen Mitteln ist der Parlamentarismus. So wie jeder Vertrag durch rechtsetzende Gewalt eingesetzt ist, ist auch der Sieg des Parlamentarismus aus der revolutionären Gewalt hervorgegangen. So ist die so oft durch die Parlamentarier erfolgende Verschmähung der Gewalt Zeichen des Verfalls des Parlamentarismus im Sinne einer Abstumpfung gegenüber dem eigenen historischen Ursprung. Die Entgegensetzung von gewaltsamer Aktion einerseits und parlamentarischer Verhandlungsstrategie als gewaltfrei andererseits ist somit falsch.
  • Die gewaltlose Beilegung von Konflikten findet sich gerade im zwischenmenschlichen Bereich zur Genüge. Gewaltlose Einigung findet sich überall, wo die Kultur des Herzens den Menschen reine Mittel der Übereinkunft an die Hand gegeben hat. Grundlegende Voraussetzungen für den Menschen sind Vertrauen, Rücksichtnahme, Herzenshöflichkeit, Neigung, Friedensliebe und vieles mehr. Dies sind reine Mittel und ergeben als Mittel noch nicht unmittelbare Lösungen menschlicher Konflikte, doch aber mittelbare. Mittelbar heißt über ein Drittes. Das Dritte führt uns in den Bereich der Sachen, der objektiv handhabbaren Erscheinungen. Die erste ist die Technik der zivilen Unterredung, deren prinzipielle Ausschaltung der Gewalt nicht nur dadurch angezeigt ist, daß die sprachliche Verständigung der Gewalt unzugänglich ist, sondern – und das ist bedeutend – durch die Straflosigkeit der Lüge. Denn die Lüge kann hilfreich sein, sobald der eine dem anderen verzeiht oder vergibt, d.h. das ihm Angetane vergißt. Ehrlichkeit hat hier ihre zwiespältige Bedeutung, ist die Verzeihung nämlich angestrebt, so wird sie verhindert durch die zwanghafte Berufung auf das ehrlich Angetane. Es gibt vielleicht keine Gesetzgebung auf der Erde, welche die Lüge ursprünglich bestraft. Darin spricht sich aus, daß es eine in dem Grade gewaltlose Sphäre menschlicher Übereinkunft gibt, daß sie der Gewalt vollständig unzugänglich ist: die eigentliche Sphäre der »Verständigung«, der Sprache. Erst nachträglich hat das Recht, indem es den Betrug unter Strafe stellte, die Sphäre der zivilen Unterredung gestört.
  • Der proletarische Generalstreik dagegen setzt sich die einzige Aufgabe der Vernichtung der Staatsgewalt. Nicht Eroberung, materieller Gewinn oder ähnliches ist sein Ziel, keine Konzessionen, sondern der Entschluß, nur eine gänzlich veränderte Arbeit, eine nicht staatlich erzwungene wieder aufzunehmen. Man mag diese Form des Streiks anarchistisch nennen. Er ist also gerade durch seine radikale Kompromißlosigkeit reines Mittel, weder rechtsetzend noch rechtserhaltend und somit nicht gewaltsames Mittel.
  • In nationalen Konflikten findet sich in der Form der Diplomatie ein gewaltfreies Mittel. In der jahrtausendealten Geschichte von Staaten hat sich die Diplomatie als ein Mittel gewaltloser Übereinkunft herausgebildet. Nur gelegentlich besteht die Aufgabe der Diplomaten in der Modifikation von Rechtsordnungen. Im Wesentlichen haben sie analog zur Übereinkunft zwischen Privatpersonen im Namen ihrer Staaten friedlich und ohne Verträge von Fall zu Fall deren Konflikte beizulegen. Diese Methode der Lösung steht grundsätzlich höher als die der Schiedsgerichte, denn sie befindet sich jenseits aller Rechtsordnung und also aller Gewalt. Im ganzen Bereich der Gewalten, der von Naturrecht und positivem Recht umrissen wird, findet sich keine, welche von der angedeuteten Problematik jeder Rechtsgewalt frei wäre. Nicht immer korrespondieren die berechtigten Mittel mit den gerechten Zwecken. Vielmehr können sie auch im Widerspruch liegen. Geht doch die Entscheidung über die Berechtigung der Mittel aus schicksalhafter Gewalt hervor (aus dem historischen Sieg), während andererseits die Zwecke situationsgebunden gesehen werden müssen, denn Zwecke, welche für eine Situation gerecht und allgemeingültig sind, sind dies für keine andere, wenn auch in ihren Beziehungen noch so ähnlichen Lage.
  • Die Überwindung des Bannkreises aller bisherigen durchs Recht verordneten weltgeschichtlichen Daseinslagen ist zunächst unter völligem und prinzipiellem Verzicht auf jede Gewalt unvollziehbar, es ergibt sich also die Frage nach anderen Arten von Gewalt, wie alle Rechtstheorie sie ins Auge faßt. Ein naheliegendes Beispiel zeigt die alltägliche Lebenserfahrung. Der Zorn ist ein sehr sichtbarer Ausbruch der Gewalt, welche aber hier nicht Mittel ist für einen vorbestimmten Zweck, sondern Manifestation. Die Gewalt bricht aus und beruhigt sich auch sehr schnell wieder. Der Zornige manifestiert sich selbst, er behauptet sein Leben. Der Ursprung des Rechts selbst im Verlauf der Manifestationen von Gewalt ist der Mythos. Die frühgeschichtliche Herausforderung des 'Schicksals' durch den Menschen, der Anspruch auf Macht über dieses, zeigt den Zusammenhang von Macht und Rechtsetzung, denn Recht bedeutet Absicherung des Gewonnenen und so wird das Recht, solange es besteht, Vorrecht der Könige, der Mächtigen sein. Der Zweck der Rechtsetzung bleibt somit eine pervertierte Ausnutzung der Gewalt als Recht im Namen der Macht.
  • Folgenschwerste Auswirkung der mythischen Rechtsetzung ist die Setzung der Grenze, so wie der Friede die immer wieder neue Grenze setzt zu den Kriegen im mythischen Zeitalter. Gesetze und umschriebene Grenzen bilden das Übertretbare, den Ort, an dem der Ahnungslose der Strafe verfällt. Daß dies Zufall ist und nicht Notwendigkeit, wird von den Rechthabern nicht erkannt, bei ihnen heißt das Schicksal, was noch der Satz belegt, Unkenntnis der Gesetze schützt vor Strafe nicht.

Weit entfernt, eine reinere Sphäre zu eröffnen, zeigt die mythische Manifestation der unmittelbaren Gewalt sich im tiefsten mit aller Rechtsgewalt identisch und macht die Ahnung von deren Problematik zur Gewißheit von der Verderblichkeit ihrer geschichtlichen Funktion, deren Vernichtung damit zur Aufgabe wird. Die reine unmittelbare Gewalt aber, die der mythischen Gewalt Einhalt zu gebieten vermöchte, ist die göttliche. Ist die mythische Gewalt rechtsetzend, so die göttliche rechtsvernichtend, setzt jene Grenzen, so vernichtet diese grenzenlos, ist die mythische verschuldend und strafend zugleich, so die göttliche entstrafend, ist jene drohend, so diese einfach schlagend, jene blutig, so diese auf unblutige Weise letal.

  • Wie das Recht sich selbst erhält, ist seine Gewalt, als mythische, Gewalt über das bloße Leben um ihrer selbst willen, die göttliche reine dagegen Gewalt über alles Leben um des Lebendigen willen (das beste wesentliche Leben ist hier Grund der Gewalt). Die erste fordert Opfer, die zweite nimmt sie an.
  • Wenn der göttliche, momentane Vollzug der Gewalt also für jeden einzelnen auch die tödliche Gewalt freizugeben scheint, so sei auf dieses Gebot verwiesen: »Du sollst nicht töten!« Dieses Gebot steht vor der Tat und ist Richtschnur für den, der handeln will. Die Gemeinschaft oder ein einzelner kann in ungeheuren Fällen diese Verantwortung auf sich nehmen, wie es schon die Tötung in Notwehr zugibt. Entscheidend ist hier, das Gebot und Entschluß aus dem Wunsch nach Gerechtigkeit hervorgehen. Das Leben ist nämlich nicht das minimale der bloßen Kreatur, sondern das optimale in Glück und Gerechtigkeit, die Seele des Lebendigen. Und so läßt sich zum Unterdrücker sagen: »Töte ich nicht, so errichte ich nimmermehr das Weltreich der Gerechtigkeit.« So heilig und ehrwürdig die Seele des Menschen ist, so wenig ist es sein leibliches, durch Mitmenschen verletztliches Dasein. Die Frage ist also nicht, was das Gebot und die Gewalt am Opfer bewirken, wie es die Verurteilung der vollbrachten Tat durch das Recht glauben machen will, sondern was sie an Gott und am Täter selbst bewirken.
  • Die Kritik der Gewalt ist die Philosophie ihrer Geschichte, d.h. die Idee des Endes aller Gewalt. In der Durchbrechung des Kreislaufs von rechtserhaltender und rechtsetzender Gewalt, der Abschaffung des Rechts samt der Gewalten, auf die es angewiesen ist wie sie auf jenes, zuletzt also der Staatsgewalt, begründet sich ein neues geschichtliches Zeitalter. Wie bewiesen, ist aber auch jenseits des Rechts der Bestand der Gewalt als reine unmittelbare gesichert, so ist damit erwiesen, daß und wie die revolutionäre Gewalt möglich ist, wie die höchste Manifestation reiner Gewalt durch den Menschen zu nennen ist. Dies ist die Gewalt, die der Rechtsgewalt Einhalt zu gebieten vermag, ohne neue Rechtsverhältnisse zu erzeugen. So, wie das Recht die festschreibende Verewigung der Gewalt bewirkt, ist die reine unmittelbare Gewalt, die entstrafende und entsühnende, die göttliche, diejenige, die das Ende aller Gewalt zu markieren vermag. Nicht gleich möglich noch auch gleich dringend ist aber für Menschen die Entscheidung, wann reine Gewalt in einem bestimmten Falle wirklich war. Denn nur die mythische, nicht die göttliche, wird sich als solche mit Gewißheit erkennen lassen, es sei denn in unvergleichlichen Wirkungen, weil die entstrafende Kraft der Gewalt für Menschen nicht zutage liegt. Von neuem stehen der reinen göttlichen Gewalt alle ewigen Formen frei, die der Mythos mit dem Recht bastardierte. Sie vermag im wahren Kriege genauso zu erscheinen wie im Gottesgericht der Menge am Verbrecher. Verwerflich aber ist alle mythische Gewalt, die rechtsetzende, welche die schaltende genannt werden darf. Verwerflich auch die rechtserhaltende, die verwaltete Gewalt, die ihr dient. Die göttliche Gewalt, welche Insignium und Siegel, niemals Mittel heiliger Vollstreckung ist, mag die waltende heißen. Das Soziale ist in seinem jetzigen Stande Manifestation gespenstischer und dämonischer Mächte, allerdings oft in ihrer höchsten Spannung zu Gott, ihrem aus sich selbst Herausstreben. Göttliches manifestiert sich in ihnen nur in der revolutionären Gewalt. Nur in der Gemeinschaft, nirgends in den »sozialen Einrichtungen« manifestiert sich Göttliches gewaltlos oder gewaltig. (In dieser Welt ist höher: göttliche Gewalt als göttliche Gewaltlosigkeit. In der kommenden göttliche Gewaltlosigkeit höher als göttliche Gewalt.) Dergleichen Manifestation ist nicht in der Sphäre des Sozialen, sondern der offenbarenden Wahrnehmung und zuletzt und vor allem der Sprache, zuallererst der heiligen zu suchen. Die heilige Sprache ist die Manifestation reiner göttlicher Gewaltlosigkeit. Die Suche nach der offenbarenden Wahrnehmung wird somit zur Aufgabe.


Weblinks

  • Benjamin, Walter (1921) Zur Kritik der Gewalt, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik (pdf) [[1]]

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