Strukturelle Gewalt

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Der Begriff Strukturelle Gewalt wurde durch den norwegischen Soziologen und Friedens- und Konfliktforscher Johan Galtung (*24. Oktober 1930 in Oslo) als erweiterter Gewaltbegriff geprägt. Neben direkten und persönlichen Formen der Gewalt definiert er die Ungleichverteilung gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Verwirklichungsmöglichkeiten als gewaltsam.

„Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.“ (Galtung 1982: 9)

Zum Begriff

Der im Allgemeinen als Gewalt verstandene Begriff bezeichnet den Einsatz physischen oder psychischen Zwangs sowie anderweitiges, in destruktiver Absicht gewaltsames Einwirken auf Lebewesen und/oder Sachgegenstände. Diesen eng gefassten Gewaltbegriff erweitert Galtung durch eine komplexe Typologie der Gewalt, deren Kernaspekt die strukturelle Gewalt bildet. Diese ist in Bezug auf die Verwirklichungsmöglichkeiten eines jeden Menschen als prozesshaft,also im Gegensatz zur direkten Gewalt nicht als Vorfall zu verstehen.

Besteht eine vermeidbare Diskrepanz zwischen einem aktuellen und einem potentiellen Stand der Verwirklichung, so liegt Gewalt vor. Ist das Aktuelle nicht vermeidbar, auch wenn es sich auf einem niedrigen Niveau befindet, so liegt keine Gewalt vor. Beispielhaft nennt Galtung den Tod durch Tuberkulose. Im 18. Jahrhundert sei dieser aufgrund des medizinischen Entwicklungsstands nicht als Gewalt zu werten gewesen. Beim heutigen Entwicklungsstand und bestehenden therapeutischen Möglichkeiten hingegen läge nach Galtungs Definition Gewalt vor.

Dimensionen

Ausgehend von dieser Definition stellt Galtung eine differenzierte Typologie der Gewalt mit mehreren komplexen Dimensionen im Spannungsfeld zwischen Subjekt, Objekt und Aktion vor.

Die seines Erachtens wichtigste Dimension bezieht sich auf die Rolle des Subjekts, anhand derer er den Kernaspekt seines Gewaltbegriffs, die indirekte/strukturelle Gewalt ohne Akteur herausarbeitet und der direkten/personalen Gewalt durch einen Akteur gegenüberstellt. In seinen Ausführungen setzt Galtung den Begriff der Strukturellen Gewalt bisweilen mit sozialer Ungerechtigkeit gleich (vgl. Galtung 1982:33).

Weiter unterscheidet Galtung zwischen den Dimensionen physischer versus psychischer Gewalt, negativer versus positiver Einflussnahme (Bestrafung versus Belohnung), objektbezogener versus objektloser, intendierter versus nicht intendierter sowie manifester versus latenter Gewalt.

Bedürfnisse und Rechte

Um die abstrahierte Vorstellung von Gewalt in Form von „vermeidbarer Behinderung der menschlichen Selbstverwirklichung“ zu verdeutlichen, übersetzt Galtung die Idee der Selbstverwirklichung in unterschiedliche Bedürfniskategorien. Verletzungen der jeweiligen Bedürfniskategorien entsprechen unterschiedlichen Gewalttypen, die—mit Ausnahme der Kategorie des reinen Überlebens—alle in die Dimension der strukturellen Gewalt fallen, da sie ähnlichen Mechanismen unterliegen.

Kategorie Bedürfnisse und/oder Rechte Güter Gewalttyp Dimension und Mechanismen
Überleben Des Individuums—gegenüber Unglücksfall,Selbstmord des Kollektivs—gegenüber Angriff, Krieg Sicherheit Klassische Gewalt Direkte physische und/oder psychische Gewalt
Physiologisch Input: Ernährung, Luft, Wasser, Schlaf; Output: Bewegung, Ausscheidung Nahrung, Wasser Armut - Entzug des Lebensnotwendigen Strukturelle Gewalt
Mechanismen:
1.Ausbeutung
2.Durchdringung
3.Aufsplitterung
4.Ausschließung
Ökologisch Klimatisch: Klimaschutz; Körperlich: Krankheitsschutz, Gesundheit Kleidung, Obdach, Gesundheitswesen
Sozial Gemeinwesen: Liebe, Sex, Nachkommenschaft; Kultur: Selbstausdruck, Dialog, Erziehung Schulwesen
Freiheit Recht auf Aus- und Einreise, Recht auf Meinungsfreiheit (Meinungsäußerung und Information) Beförderung, Kommunikation Unterdrückung - Entzug der Menschenrechte
Politik Recht auf Gewissensbildung,Recht auf Mobilisierung, Recht auf Konfrontation Tagungen, Medien Parteien, Wahlen
Gesetzlich Recht auf angemessenes Rechtsverfahren Gerichte usw.
Arbeit Recht auf Arbeit Arbeitsstellen
Arbeit Bedürfnis nach Kreativität und Selbstausdruck in der Arbeit Entfremdung - Entzug höherer Erfordernisse
Beziehung zur Gesellschaft Bedürfnis, die eigenen Lebensumstände zu verstehen; Bedürfnis nach Aktivität; danach Subjekt zu sein und nicht nur Objekt/ Klient; Bedürfnis nach unprogrammierter Zeit, nach neuen—auch intellektuellen, ästhetischen—Erfahrungen
Beziehung zu anderen Bedürfnis nach Gemeinsamkeit, Zugehörigkeit, Freundschaft, Solidarität, Beistand
Beziehung zum Selbst Bedürfnis nach Wohlbefinden, Glück, Freude; Bedürfnis nach Eigenantrieb, Verwirklichung von Möglichkeiten; Bedürfnis nach einem Sinn des Lebens, nach (s)einer Zielsetzung
Beziehung zur Natur Bedürfnis nach Zugang zur Natur, Bedürfnis nach einer Art Partnerschaft mit der Natur

Tabelle: Grundbedürfnisse, Gewalttypen, Mechanismen der Gewalt (erweitert nach Galtung 1978:18-22)

Historie und Ergänzungen des Begriffs

Galtung stellte den Begriff der Strukturellen Gewalt erstmalig 1969 im Journal of Peace Research vor. In den siebziger Jahren avancierte er zum kontrovers diskutierten Leitbegriff der kritischen Friedensforschung.

„Mit diesem Begriff wurden die strukturell […] auch ohne Krieg massentödlichen und massenverelendenden gesellschaftlichen—also von Menschen zu verantwortenden, wenn auch nicht auf individuelles Verschulden zurückzuführenden—Verhältnisse in Ost und West gleichermaßen in kritischer Absicht etikettiert.“ (Jahn, Vorwort zu Roth 1988:4)

Diverse Autoren verweisen allerdings auf die deutlichen Parallelen des Begriffs und der dazu genannten Mechanismen zur Marxschen Kapitalismuskritik.

Die Prägung des Begriffs erfolgte, so der Politologe und Zeithistoriker Egbert Jahn, zu einer Zeit des geistigen Umbruchs. Der historische Kontext der intellektuell kritischen Auseinandersetzung mit dem Vietnamkrieg im Besonderen sowie mit dem Nord-Süd-Konflikt im Allgemeinen, ermöglichte dem neuen Schlüsselbegriff der kritischen Friedensforschung seinen Siegeszug. In den achtziger Jahren verblasste das Interesse, als der Begriff von den neuen sozialen Bewegungen als Legitimation für Gegengewalt angeführt wurde (vgl. Jahn, Vorwort zu Roth 1988:4-8).

Abb. erweiterter gewalt und friedensbegriff nach johan galtung.jpg

Positiver und Negativer Frieden

Galtungs erweiterter Gewaltbegriff schlägt sich in einem ebenfalls erweiterten Friedensbegriff nieder. Er sieht Gewalt als Gegenbegriff zum Frieden an und unterscheidet zwischen der Abwesenheit von direkter, personeller Gewalt, dem sogenannten negativen Frieden, und der Abwesenheit von personeller und struktureller Gewalt, dem sogenannten positiven Frieden. Als Begründer der kritischen Friedensforschung hebt sich Galtung mit seinem Fokus auf den positiven Frieden von der traditionellen Friedensforschung ab, die Frieden lediglich durch Abwesenheit von Krieg definiert. Ein nach Galtung elitärer Friedensbegriff, da er sich nur an dem Faktor orientiert der auch die Elite beeinträchtigen kann (Krieg), nicht aber an den Faktoren, von denen die Nicht-Elite betroffen ist (Armut, Unterdrückung, etc.) (vgl. Galtung 1978:23).

Kulturelle Gewalt

Zwei Jahrzehnte nach der Einführung des Begriffs der Strukturellen Gewalt ergänzt Galtung seinen Ansatzdurch die Einführung des Begriffs der Kulturellen Gewalt. Als solche bezeichnet Galtung symbolische Aspekte einer Kultur—wie beispielsweise Religion, Ideologie, Kunst und Wissenschaft—die als Legitimation oder Rechtfertigung für die Verwendung von Gewalt dienen können. Sie sorgt dafür, dass sich die Verwendung direkter und/oder struktureller Gewalt richtig oder zumindest nicht falsch anfühlt. Galtung betont dabei, dass keine Kultur per se gewalttätig ist, dass sie aber durch eine Anhäufung gewaltsamer Aspekte in eine gewalttätige Kultur übergehen kann (vgl. Galtung 1990).

Dreieck der Gewalt.jpg

Dreieck der Gewalt

Einhergehend mit der Einführung des Begriffs Kulturelle Gewalt verweist Galtung auf das Dreieck der Gewalt, welches sich aus den drei übergeordneten Kategorien der direkten Gewalt, strukturellen Gewalt und kulturellen Gewalt zusammensetzt. Es erlaubt sechs unterschiedliche Positionierungen, je drei mit einer Spitze nach oben und unten zeigend, wobei die unterschiedlichen Ausrichtungen unterschiedliche Interpretationen zulassen. Direkte Gewalt als obere Spitze des Gewaltdreiecks lässt kulturelle und strukturelle Gewalt als Basis erscheinen. Kulturelle Gewalt an der Spitze verdeutlicht Galtungs Gedanken der Legitimation direkter und struktureller Gewalt durch kulturelle Gewalt (vgl. Galtung 1990: 294).

Zusammenhang mit anderen Begriffen

Strukturelle Gewalt weist inhaltliche Verschränkungen mit den soziologischen Begriffen Zwang, Macht und Herrschaft auf. Galtungs Beschreibung der Bedürfnisse und Rechte orientiert sich an den Menschenrechten und dem schwer greifbaren Ideal der Gerechtigkeit.

Da strukturelle Gewalt nicht unbedingt als Gewalt wahrgenommen wird, ist sie nicht immer automatisch konflikthaft. Führt sie allerdings zum Konflikt, zeichnet sie sich durch eine asymmetrische Konfliktkonstellation aus.

Kritik

Abgesehen von der Kritik des Begriffs aufgrund seiner Instrumentalisierung zur Legitimation von Gegengewalt wird Galtungs Begriff der Strukturellen Gewalt theoretische Schwäche und subjektiver Moralismus vorgeworfen. Im Gegensatz zu Marx, der Dynamiken analysierte um Transformation zu ermöglichen, beschränke sich die kritische Friedensforschung auf die moralische Verurteilung sozialer und internationaler Ungleichheiten und Abhängigkeiten (vgl. Fetscher 1977:92).

Die Loslösung des Gewaltbegriffs vom direkten Handeln sozialer Akteure und die damit einhergehende Ausweitung des Gewaltbegriffs auf Kosten seiner Genauigkeit erfuhr vielseitige Kritik (vgl. Riekenberg 2008:175). Mit dem Hinweis darauf, dass die Soziologie unter Anstrengung Differenzierungen zwischen Begriffen wie Macht, Zwang, Gewalt oder Abhängigkeit hervorgebracht habe, die eventuell eine zutreffendere Bezeichnung der von Galtung adressierten Zustände erlauben, hinterfragt Michael Riekenberg Galtungs Wahl des Begriffs. Zudem erschwere die mangelnde Präzision des Begriffs die Operationalisierung für die empirische Forschung (Roth 1988:9).

Eine noch tiefer greifende Kritik des Begriffs sieht gar die Gefahr eines historischen Rückfalls unter das historisch erreichte, wenn die Gesellschaft nur als Gewaltzusammenhang begriffen und menschliches Handeln sowie jeder soziale Druck mit der Verletzung körperlicher Integrität gleichgesetzt werde. In dieser Gesellschaftskonzeption drohe der Verlust rechtstaatlicher Konturen (vgl. Callies 1978:59).

Der Soziologe Friedrich Tenbruck spricht dem Konzept der strukturellen Gewalt und der kritischen Friedensforschung im Allgemeinen die Wissenschaftlichkeit ab und erklärt sie zum Heilsglauben im Wissenschaftsgewand (vgl. Tenbruck 1975: 435).

Kriminologische Relevanz

Galtung verweist in seinem Aufsatz zu Typologien der Gewalt auf unterschiedliche Erklärungsansätze und Auswirkungen von Gewalt. Die kriminologische Relevanz der strukturellen Gewalt ergibt sich dabei aus einer seiner Hypothese:

„Strukturelle Gewalt führt zu direkter Gegengewalt führt zu direkter Gegen-Gegengewalt.“ (Galtung 1978:24)

Strukturelle Gewalt in Form von Unterdrückung oder Armut führe demnach früher oder später zur Revolte und der entsprechenden Gegenrevolte. Diese Hypothese lässt sich als Aufforderung zu einer Gewaltprävention im Sinne einer guten Sozialpolitik verstehen. Der französische Soziologe Loïc Wacquant (2009) beschreibt in seinem Buch „Bestrafen der Armen“, dass die neoliberale Kriminalpolitik eine andere Richtung eingeschlagen hat. Er verweist auf den Zusammenhang zwischen dem Abbau des Sozialstaates und der Ausweitung eines verstärkter strafenden Staates, der vor allem die sozialen Verlierer adressiert. Vor diesem Hintergrund gewinnt der Begriff der Strukturellen Gewalt neue Relevanz.

Literatur

  • Calliess, R.-P. (1978): Gewalt und Recht. In: K. Röttgers und H. Saner (Hrsg.), Grundlagenprobleme in der Diskussion der Gewaltphänomene. Basel: Schwabe & Co., S. 50-60.
  • Fetscher, I. (1977): Strukturelle Gewalt. Entstehung, Bedeutung und Funktion eines sozialwissenschaftlichen Modewortes, in: F. Engel-Janosi et al. (Hrsg.), Gewalt und Gewaltlosigkeit. Probleme des 20. Jahrhunderts, Wien: Verlag für Geschichte und Politik, S. 85-93.
  • Galtung, J. (1982): Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
  • Galtung, J. (1978): Der besondere Beitrag der Friedensforschung zum Studium der Gewalt: Typologien, in: K. Röttgers und H. Saner (Hrsg.), Grundlagenprobleme in der Diskussion der Gewaltphänomene, Basel: Schwabe & Co., S. 9-32.
  • Meyers, R. (1994): Begriff und Probleme des Friedens. Opladen: Leske+Budrich.
  • Riekenberg, M. (2008): Auf dem Holzweg? Über Johan Galtungs Begriff der „strukturellen Gewalt“ [Internet], Druckversion in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 5 , H. 1, Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen. [zitiert am 07.03.2016] URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2008/id=4655
  • Roth, M. (1988): Strukturelle und Personale Gewalt. Probleme der Operationalisierung des Gewaltbegriffs von Johan Galtung. Frankfurt am Main: HSFK.
  • Tenbruck, F. (1975): Frieden durch Friedensforschung?: Ein Heilsglaube unserer Zeit, in: M. Funke (Hrsg.), Friedensforschung—Entscheidungshilfe gegen Gewalt, München: List, S. 425-439.
  • Wacquant, L. (2009): Bestrafen der Armen: Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit. Opladen: Budrich.

Weblinks

  • Ziviler Friedensdienst Interview mit Johan Galtung:[1]
  • E-International relations Interview mit Johan Galtung vom 27.05.2014:[2]