Welt ohne Gefängnisse: Unterschied zwischen den Versionen

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Doch der Anschein des Erfolgs ist trügerisch. So trügerisch wie der Boom des Sklavenhandels, der seiner Abschaffung vorausgegangen war. Manche Institutionen scheinen ausgerechnet dann noch einmal explosionsartig expandieren zu wollen, wenn sie das Ende nahen spüren - ähnlich wie Sterne, die sich bekanntlich kurz vor dem Sternentod noch einmal ganz gewaltig auszudehnen pflegen. Und ist es nicht eine erwiesene historische Tatsache, dass der Sklavenhandel über den Atlantik seinen Höhepunkt genau in den Jahrzehnten erlebte, die seiner Abschaffung unmittelbar vorausgingen? Wer die wahnsinnige Geschwindigkeit beobachtet, mit der das amerikanische Gefängnissystem alle bisherigen Dimensionen der Einsperrung wie ein Hürdenläufer überspringt, kann gar nicht anders, als an diese Beispiele zu denken. Dies auch deshalb, weil sich in den USA gerade wegen des Irrsinns der Gefängnis-Explosion immer mehr Nicht-Regierungs-Organisationen mit den Ursachen dieser Misere, mit ihren ökonomischen und menschlichen Kosten, mit Alternativen zum Gefängnis und mit Öffentlichkeitsarbeit gegen das Gefängnis befassen. Es ist diese Art der Selbst-Aufklärung und Selbst-Mobilisierung der Zivilgesellschaft, die schon früher die Weichen für große Veränderungen gestellt hatte und die es bald auch in bezug auf die Große Einsperrung tun könnte.  
Doch der Anschein des Erfolgs ist trügerisch. So trügerisch wie der Boom des Sklavenhandels, der seiner Abschaffung vorausgegangen war. Manche Institutionen scheinen ausgerechnet dann noch einmal explosionsartig expandieren zu wollen, wenn sie das Ende nahen spüren - ähnlich wie Sterne, die sich bekanntlich kurz vor dem Sternentod noch einmal ganz gewaltig auszudehnen pflegen. Und ist es nicht eine erwiesene historische Tatsache, dass der Sklavenhandel über den Atlantik seinen Höhepunkt genau in den Jahrzehnten erlebte, die seiner Abschaffung unmittelbar vorausgingen? Wer die wahnsinnige Geschwindigkeit beobachtet, mit der das amerikanische Gefängnissystem alle bisherigen Dimensionen der Einsperrung wie ein Hürdenläufer überspringt, kann gar nicht anders, als an diese Beispiele zu denken. Dies auch deshalb, weil sich in den USA gerade wegen des Irrsinns der Gefängnis-Explosion immer mehr Nicht-Regierungs-Organisationen mit den Ursachen dieser Misere, mit ihren ökonomischen und menschlichen Kosten, mit Alternativen zum Gefängnis und mit Öffentlichkeitsarbeit gegen das Gefängnis befassen. Es ist diese Art der Selbst-Aufklärung und Selbst-Mobilisierung der Zivilgesellschaft, die schon früher die Weichen für große Veränderungen gestellt hatte und die es bald auch in bezug auf die Große Einsperrung tun könnte.  


Vor allem aber ist es ungeheuer wichtig, sich nicht vom Zentrum des Imperiums blenden zu lassen. Wer immer nur auf Amerika und Europa blickt, dem entgeht das Wichtigste, was es im Augenblick zur Zukunft des Gefängnisse zu sehen gibt. Ich meine: die Bewegung zur "Restorative Justice". Diese Bewegung, die sich zunächst fast unbemerkt an den Rändern der alten angelsächsischen Kriminologie - in Australien, Neuseeland und Kanada - entwickelte, nimmt Abschied von den langweiligen Ritualen des Streits zwischen linker, liberaler und rechter Kriminalpolitik. Sie interessiert sich weder für das Ideal der fürsorglichen Behandlung noch für das neo-konservative oder neo-klassische Programm der just deserts.  Nicht umsonst entwickelte sich "Restorative Justice" in Gegenden, in denen es noch intakte Gemeinschaften der Urbevölkerung gab - und die ersten Impulse kamen denn auch von der Kulturanthropologie der 60er und 70er Jahre sowie von rechtssoziologischen Forschungen,die sich mit dem Konflikt der traditionellen Rechtsordnung mit dem kolonialen Recht befasst hatten. Aus dieser Perspektive entwickelte sich das Bild einer von dem traditionell "westlichen" Modell radikal abweichenden Art der Lösung von "kriminellen" Konflikten, die gleichwohl (und nach der Ansicht vieler Intellektueller sogar "besser") funktionierte.
Vor allem aber ist es ungeheuer wichtig, sich nicht vom Zentrum des Imperiums blenden zu lassen. Wer immer nur auf Amerika und Europa blickt, dem entgeht das Wichtigste, was es im Augenblick zur Zukunft des Gefängnisse zu sehen gibt. Ich meine: die Bewegung zur "Restorative Justice". Diese Bewegung, die sich zunächst fast unbemerkt an den Rändern der alten angelsächsischen Kriminologie - in Australien, Neuseeland und Kanada - entwickelte, nimmt Abschied von den langweiligen Ritualen des Streits zwischen linker, liberaler und rechter Kriminalpolitik. Sie interessiert sich weder für das Ideal der fürsorglichen Behandlung noch für das neo-konservative oder neo-klassische Programm der just deserts.  Nicht umsonst entwickelte sich "Restorative Justice" in Gegenden, in denen es noch intakte Gemeinschaften der Urbevölkerung gab - und die ersten Impulse kamen denn auch von der Kulturanthropologie der 60er und 70er Jahre sowie von rechtssoziologischen Forschungen,die sich mit dem Konflikt der traditionellen Rechtsordnung mit dem kolonialen Recht befasst hatten. Aus dieser Perspektive entwickelte sich das Bild einer von dem traditionell "westlichen" Modell radikal abweichenden Art der Lösung von "kriminellen" Konflikten, die gleichwohl (und nach der Ansicht vieler Intellektueller sogar "besser") funktioniert (vgl. Györy 2008).


Nach John Braithwaite ist Restorative Justice eine Form der Rechtsprechung, an der möglichst alle von einer Handlung betroffenen Personen teilnehmen und sowohl die Handlung selbst als auch deren Folgen für alle Betroffenen möglichst zwanglos besprechen. Es geht dabei um die Art und Weise der Wiedergutmachung des angerichteten Schadens sowohl in psychischer als auch in materieller Hinsicht. Es geht um den Gefühls- und den Materialschaden auf der Seite des Opfers wie auch um die Wiederherstellung des Status des Täters in der Gemeinschaft - und last not least geht es um die Wiederherstellung der sozialen Kohäsion, die durch die Handlung geschwächt wurde. Zentral ist dabei die moralische Beschämung des Täters: erst wenn der Täter sich für seine Tat schämt, wenn er das Unrecht und die Notwendigkeit der Wiedergutmachung einsieht und bereit ist, sich dafür auch selbst zu engagieren, wird es möglich, ihm eine Brücke zur Reintegration zu bauen (reintegrative Beschämung). Eine zweite wichtige Voraussetzung ist die Zwanglosigkeit der Kommunikation - das heißt aber auch: die  größtmögliche Distanz zu staatlichen Zwangspersonen wie Staatsanwälten oder Richtern. Schon das unterscheidet die Restorative Justice gravierend vom herkömmlichen Strafprozess. Tatsächlich ist aber praktisch alles anders - sogar das Ziel der Verhandlung. Ziel ist nicht eine abstrakte Bestrafung und die Wiederherstellung eines abstrakten Rechtsfriedens, sondern die positive Beendigung des Konfliktsfür die unmittelbar Beteiligten, die "caring community". Das Ziel ist nicht die Strafe und die Stärkung der staatlichen Autorität, sondern die Heilung von Verletzungen.
Nach John Braithwaite ist Restorative Justice eine Form der Rechtsprechung, an der möglichst alle von einer Handlung betroffenen Personen teilnehmen und sowohl die Handlung selbst als auch deren Folgen für alle Betroffenen möglichst zwanglos besprechen. Es geht dabei um die Art und Weise der Wiedergutmachung des angerichteten Schadens sowohl in psychischer als auch in materieller Hinsicht. Es geht um den Gefühls- und den Materialschaden auf der Seite des Opfers wie auch um die Wiederherstellung des Status des Täters in der Gemeinschaft - und last not least geht es um die Wiederherstellung der sozialen Kohäsion, die durch die Handlung geschwächt wurde. Zentral ist dabei die moralische Beschämung des Täters: erst wenn der Täter sich für seine Tat schämt, wenn er das Unrecht und die Notwendigkeit der Wiedergutmachung einsieht und bereit ist, sich dafür auch selbst zu engagieren, wird es möglich, ihm eine Brücke zur Reintegration zu bauen (reintegrative Beschämung). Eine zweite wichtige Voraussetzung ist die Zwanglosigkeit der Kommunikation - das heißt aber auch: die  größtmögliche Distanz zu staatlichen Zwangspersonen wie Staatsanwälten oder Richtern. Schon das unterscheidet die Restorative Justice gravierend vom herkömmlichen Strafprozess. Tatsächlich ist aber praktisch alles anders - sogar das Ziel der Verhandlung. Ziel ist nicht eine abstrakte Bestrafung und die Wiederherstellung eines abstrakten Rechtsfriedens, sondern die positive Beendigung des Konfliktsfür die unmittelbar Beteiligten, die "caring community". Das Ziel ist nicht die Strafe und die Stärkung der staatlichen Autorität, sondern die Heilung von Verletzungen.
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*Feest, Johannes & Bettina Paul (2008b) Abolitionismus. Einige Antworten auf oft gestellte Fragen. Kriminologisches Journal 40: 6-20.
*Feest, Johannes & Bettina Paul (2008b) Abolitionismus. Einige Antworten auf oft gestellte Fragen. Kriminologisches Journal 40: 6-20.


*Foucault, Michel (2004) Vigilar y Castigar. Nacimiento de la prisión. Mexico, D.F.: siglo XXI.   
*Foucault, Michel (2004) Vigilar y Castigar. Nacimiento de la prisión. Mexico, D.F.: siglo XXI.
 
*Györy, Csaba (2008) Ein pragmatischer Idealist: John Braithwaite. Unveröffentlichtes Manuskript Hamburg.   


*Knopp, Fay Honey / Barbara Boward / Mark Morris (1976) Instead of Prisons. A Handbook for Abolitionists. Syracuse/New York. Online: http://www.prisonpolicy.org/scans/instead_of_prisons/
*Knopp, Fay Honey / Barbara Boward / Mark Morris (1976) Instead of Prisons. A Handbook for Abolitionists. Syracuse/New York. Online: http://www.prisonpolicy.org/scans/instead_of_prisons/
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