Antisemitismusbegriff: Unterschied zwischen den Versionen

Zeile 43: Zeile 43:
=== Kritik des erweiterten Antisemitismus-Begriffs ===
=== Kritik des erweiterten Antisemitismus-Begriffs ===
Kritisch mit dem erweiterten A-Begriff haben sich neuerdings mehrere Autoren auseinandergesetzt.
Kritisch mit dem erweiterten A-Begriff haben sich neuerdings mehrere Autoren auseinandergesetzt.
* am Eingehendsten ist das Gutachten, welches Hugh Tomlinson, ein prominenter britischer Jurist (Q.C.), für eine Reihe jüdischer NGOs verfasst hat [http://freespeechonisrael.org.uk/wp-content/uploads/2017/03/TomlinsonGuidanceIHRA.pdf Hugh Tomlinson 2017]. Er unterscheidet dabei zwischen der eigentlichen Definition und den anschließend angegebenen beispielhaften Illustrationen. Die aus zwei Sätzen bestehende Definition hält er für unbestimmt ("vague and unclear"), weil sie auf eine "bestimmte Perzeption von Juden abstellt, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken "kann" (may). Das sei einerseits zu weit, weil es offen lässt, worin sich diese Perzeption oder Haltung noch ausdrücken kann. Andererseits sei dies zu eng, weil sie nicht ausdrücklich das Verhalten einbezieht "which, though not expressed as hatred of Jews is clearly a manifestation of antisemitisms". Was die angeführten Beispiele betrifft, so findet Tomlinson dass die meisten der genannten Aktivitäten "nicht als solche antisemitisch genannt werden können". Als echte Beispiele (im Sinne der Definition) lässt er nur gelten, den "Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Juden im Namen einer radikalen Ideologie" bzw. den "Vorwurf gegenüber den Juden als Volk oder dem Staat Israel, den Holocaust zu erfinden oder übertrieben darzustellen". Im übrigen betont er, dass die Arbeitsdefinition selbst keine rechtliche Bindungswirkung beanspruche. Jede Berufung von Regierungen auf die Arbeitsdefinition müsse sich ohnehin an den rechtlichen Grenzen der Meinungsfreiheit (etwa in Art. 10 EMRK) messen lassen.
* am Eingehendsten ist das Gutachten, welches Hugh Tomlinson, ein prominenter britischer Jurist (Q.C.), für eine Reihe jüdischer NGOs verfasst hat [http://freespeechonisrael.org.uk/wp-content/uploads/2017/03/TomlinsonGuidanceIHRA.pdf Hugh Tomlinson 2017]. Er unterscheidet dabei zwischen der eigentlichen Definition und den anschließend angegebenen beispielhaften Illustrationen. Die aus zwei Sätzen bestehende Definition hält er für unbestimmt ("vague and unclear"), weil sie auf eine "bestimmte Perzeption von Juden abstellt, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken "kann" (may). Das sei einerseits zu weit, weil es offen lässt, worin sich diese Perzeption oder Haltung noch ausdrücken kann. Andererseits sei dies zu eng, weil sie nicht ausdrücklich das Verhalten einbezieht "which, though not expressed as hatred of Jews is clearly a manifestation of antisemitisms". Was die angeführten Beispiele betrifft, so findet Tomlinson dass die meisten der genannten Aktivitäten "nicht als solche antisemitisch genannt werden können". Als echte Beispiele (im Sinne der Definition) lässt er nur gelten, den "Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Juden im Namen einer radikalen Ideologie" bzw. den "Vorwurf gegenüber den Juden als Volk oder dem Staat Israel, den Holocaust zu erfinden oder übertrieben darzustellen". Im übrigen betont er, dass die Arbeitsdefinition selbst keine rechtliche Bindungswirkung beanspruche. Jede Berufung von Regierungen auf die Arbeitsdefinition müsse sich ohnehin an den rechtlichen Grenzen der Meinungsfreiheit (etwa in Art. 10 EMRK) messen lassen. Auf dieser Grundlage haben eine Reihe kritisch-jüdischer Organisationen kurz vor dem Beschluss des Europaparlaments (am 24.5.2017) gegen eine Befürwortung der IHRA-Definition protestiert [https://mail.google.com/mail/u/0/?tab=wm#inbox/15c3be1a87cb6093].
* ähnlich, aber weniger ausführlich äußert sich [https://www.lrb.co.uk/v39/n09/stephen-sedley/defining-anti-semitism Stephen Sedley 2017], ein britischer Jurist (bis 2011 Richter am Court of Appeals England & Wales; jetzt Prof. in Oxford)). Die IHRA-Definition sei "unbestimmt" und außerdem rechtlich nicht bindend ("policy is not law"). Das Verbot von Veranstaltungen, wegen antizipierter Kritik von Israels Politik und Praxis der Land-Annexion, "cannot be validated by a policy, much less one as protean in character and as open in shape as the IHRA definition".
* ähnlich, aber weniger ausführlich äußert sich [https://www.lrb.co.uk/v39/n09/stephen-sedley/defining-anti-semitism Stephen Sedley 2017], ein britischer Jurist (bis 2011 Richter am Court of Appeals England & Wales; jetzt Prof. in Oxford)). Die IHRA-Definition sei "unbestimmt" und außerdem rechtlich nicht bindend ("policy is not law"). Das Verbot von Veranstaltungen, wegen antizipierter Kritik von Israels Politik und Praxis der Land-Annexion, "cannot be validated by a policy, much less one as protean in character and as open in shape as the IHRA definition".
* ähnlich auch [https://www.rubikon.news/artikel/eine-neue-antisemitismus-nichtdefinition Norman Paech 2017], in einer kurzen Anmerkung zum Beschluss der Bundesregierung. Die Bundesregierung habe dem Druck nachgegeben, "den Freunden der israelischen Regierung beizustehen, um die Kritik an der israelischen Politik noch wirksamer bekämpfen zu können". Paech äußert erhebliche Zweifel, "ob diese Begriffserklärung jetzt helfen wird", abgesehen davon, dass sie rechtlich nicht bindend sei. Über diese "politisch multiplexe Formel" werde "auch der Zentralrat und all die verbissenen Parteigänger der israelischen Besatzungspolitik enttäuscht sein...wenn sie sie einmal genauer gelesen haben". Eine wissenschaftliche Deinition würde dem "politischen Ziel, die Kritik an der israelischen Politik zu unterbinden, nicht dienen". Leider vezichtet Paech auf Hinweise, wie eine nützlichere Definition aussehen könnte.
* ähnlich auch [https://www.rubikon.news/artikel/eine-neue-antisemitismus-nichtdefinition Norman Paech 2017], in einer kurzen Anmerkung zum Beschluss der Bundesregierung. Die Bundesregierung habe dem Druck nachgegeben, "den Freunden der israelischen Regierung beizustehen, um die Kritik an der israelischen Politik noch wirksamer bekämpfen zu können". Paech äußert erhebliche Zweifel, "ob diese Begriffserklärung jetzt helfen wird", abgesehen davon, dass sie rechtlich nicht bindend sei. Über diese "politisch multiplexe Formel" werde "auch der Zentralrat und all die verbissenen Parteigänger der israelischen Besatzungspolitik enttäuscht sein...wenn sie sie einmal genauer gelesen haben". Eine wissenschaftliche Deinition würde dem "politischen Ziel, die Kritik an der israelischen Politik zu unterbinden, nicht dienen". Leider vezichtet Paech auf Hinweise, wie eine nützlichere Definition aussehen könnte.
* Im Zusammenhang von Reaktionen auf ihre empirische Untersuchung "Antisemitismus als Problem und Symbol" (2015) gehen [http://www.cco.regener-online.de/2017_1/pdf/ullrich-kohlstruck2017_dt.pdf Peter Ullrich und Michael Kohlstruck 2017] auf Antisemitismus-Definitionen, insbesondere auf die der EUMC/FRA ein. Dies sei keine "klare Definition, sondern ein eher zur Sensibilisierunggeeigneter Beschreibungsversuch ''möglicher'' (aber jeweils nicht zwingender) Ausdrucksweisen von Antisemitismus." Anders als Tomlinson, Sedley und Paech geht es ihnen nicht um die juristische Anwendbarkeit der Definition. sondern um ihre Praktikabilität in der Sozialforschung. "Wir vertreten die Position, dass Ereignisse und Handlungen als antisemitisch klassifiziert werden sollten, in denen sich ein 'negatives Verhältnis gegenüber dem Judentum bzw. gegenüber Jüdinnen und Juden als solchen dokumentiert. Dies trifft unseres Erachtens den inhaltlichen Kern der in der Forschung verbreiteten Antisemitismus-Begriffe (Nipperdey/Rürup 1972; Bergmann/Wywra 2011(". Der Antisemitismus könne dabei völlig offen artikuliert werden oder aber maskiert sein, "beispielsweise im antisemitischen Antizionismus oder anderen Varianten von Umwegkommunikation". Wenn man es aber nicht bei bloßen Motivunterstellungen belassen wolle oder (wie Salzborn 2010) von der apriorischen Annahme ausgehe, Antisemitismus bilde ein konstitutives Element der Moderne", müsse die empirische Forschung "Indikatoren benennen, an denen sich der antisemitische Gehalt intersubjektiv beobachten lässt". Die Autoren weisen auf den Vorschlag des Historikers Christoph Nonn (2008) hin, sich bei wissenschaftlichen Untersuchungen auf "antisemitische Akte" zu konzentrieren, da die Annahme von antisemitischen Mentalitäten problematisch sei.
* Im Zusammenhang von Reaktionen auf ihre empirische Untersuchung "Antisemitismus als Problem und Symbol" (2015) gehen [http://www.cco.regener-online.de/2017_1/pdf/ullrich-kohlstruck2017_dt.pdf Peter Ullrich und Michael Kohlstruck 2017] auf Antisemitismus-Definitionen, insbesondere auf die der EUMC/FRA ein. Dies sei keine "klare Definition, sondern ein eher zur Sensibilisierunggeeigneter Beschreibungsversuch ''möglicher'' (aber jeweils nicht zwingender) Ausdrucksweisen von Antisemitismus." Anders als Tomlinson, Sedley und Paech geht es ihnen nicht um die juristische Anwendbarkeit der Definition. sondern um ihre Praktikabilität in der Sozialforschung. "Wir vertreten die Position, dass Ereignisse und Handlungen als antisemitisch klassifiziert werden sollten, in denen sich ein 'negatives Verhältnis gegenüber dem Judentum bzw. gegenüber Jüdinnen und Juden als solchen dokumentiert. Dies trifft unseres Erachtens den inhaltlichen Kern der in der Forschung verbreiteten Antisemitismus-Begriffe (Nipperdey/Rürup 1972; Bergmann/Wywra 2011(". Der Antisemitismus könne dabei völlig offen artikuliert werden oder aber maskiert sein, "beispielsweise im antisemitischen Antizionismus oder anderen Varianten von Umwegkommunikation". Wenn man es aber nicht bei bloßen Motivunterstellungen belassen wolle oder (wie Salzborn 2010) von der apriorischen Annahme ausgehe, Antisemitismus bilde ein konstitutives Element der Moderne", müsse die empirische Forschung "Indikatoren benennen, an denen sich der antisemitische Gehalt intersubjektiv beobachten lässt". Die Autoren weisen auf den Vorschlag des Historikers Christoph Nonn (2008) hin, sich bei wissenschaftlichen Untersuchungen auf "antisemitische Akte" zu konzentrieren, da die Annahme von antisemitischen Mentalitäten problematisch sei.
Die unterschiedlichen Kritiken haben gemeinsam, dass
- sie die IHRA-Definition für "unbestimmt" halten (Sedley:"indefinite", Tomlinson "vague"). Diese Definition werfe eine Reihe von Fragen auf.
- dass die anschließend aufgelisteten Beispiele nur dann Anzeichen von Antisemitismus sind, wenn sich in ihnen eine Hass gegen Juden ausdrückt.
- sie darauf hinweisen, dass Definition & Beispiele am Recht auf Meinungsfreiheit bzw. Versammlungsfreiheit gemessen werden müssen (Art. 10 EMRK).
Auf dieser Grundlage haben eine Reihe kritisch-jüdischer Organisationen kurz vor dem Beschluss des Europaparlaments (am 24.5.2017) gegen eine Befürwortung der IHRA-Definition protestiert [https://mail.google.com/mail/u/0/?tab=wm#inbox/15c3be1a87cb6093].


== Antisemitismus-Vorwurf ==
== Antisemitismus-Vorwurf ==
1.005

Bearbeitungen