Radbruchsche Formel

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Als Radbruchsche Formel wird eine von Gustav Radbruch nach 1945 entwickelte Konzeption verstanden. In ihrer heute zumeist gebräuchlichen Kurzform lautet sie: "Extremes Unrecht ist kein Recht". Die R. F. legitimiert den Strafrichter auf Basis eines erweitert legalistischen Verbrechensbegriffes dazu, auch positivrechtlich nicht kriminalisierte Handlungen in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen strafrechtlich abzuurteilen. Eine größere Rolle spielte die Radbruchsche Formel zunächst in der Nachkriegszeit bei der Ahndung nationalsozialistischen Unrechts sowie nach 1989 im Rahmen der sogenannten Mauerschützenprozesse.

Die Radbruchsche Formel ist bisher fast ausschließlich rechtsphilosophisch - im Rahmen der Debatte um einen naturrechtlichen bzw. positivistischen Rechtsbegriff - diskutiert worden. Denkbar erscheint jedoch ebenfalls ihre Eignung als ein analytisches Konzept zur Deutung verschiedener kriminologischer Phämomene: Die kriminologischen Forschungen zur Kriminalität der Mächtigen, zum Repressiven Verbrechen sowie zur Makrokriminalität| scheinen alle einen über den engeren legalistischen Rahmen hinaus erweiterten Kriminalitätsbegriff einzufordern.

Die Radbruchsche Formel

Die Radbruchsche Formel ist eine These, die, wie der Name schon vermuten lässt, von Gustav Radbruch, einem deutschen Rechtsphilosophen, entwickelt wurde. Geboren wurde dieser am 21. November 1878 in Lübeck, verstorben ist er am 23. November 1949 in Heidelberg. Die Radbruchsche Formel wurde erstmals 1946 in seinem Aufsatz “Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht” formuliert. Danach hat sich ein Richter im Konflikt zwischen dem positiven also dem gesetzten Recht und der Gerechtigkeit immer dann, aber auch nur dann, für die materielle Gerechtigkeit zu entscheiden, wenn das in Frage stehende Gesetz entweder als “unerträglich ungerecht“ anzusehen ist oder das Gesetz die Gleichheit aller Menschen aus Sicht des Interpreten „bewusst verleugnet“.

„Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“

- Gustav Radbruch: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. SJZ 1946, 105 (107).


Es geht also um die Lösung des Konflikts zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit. Hierzu eine kurze Begriffserklärung: Rechtssicherheit heißt, dass das geltende Recht klar, bestimmt und vor allem beständig ist. Das heißt, dass jeder Bürger darauf vertrauen kann, dass das geltende Recht tatsächlich gilt und nicht nachträglich geändert werden kann. Dieses so genannte Rückwirkungsverbot ist in Artikel 103 II des Grundgesetzes geregelt: Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

Radbruch bietet für die Lösung dieses Konflikts im Grunde zwei Formeln an: Zum einen die Unerträglichkeitsthese, zum anderen die Verleugnungsthese. Die Rechtssicherheit verdient immer dann Vorrang vor der Gerechtigkeit, wenn die Anwendung des geltenden Rechts nicht unerträglich ungerecht ist (Unerträglichkeitsthese). Die Rechtssicherheit verdient immer dann Vorrang vor der Gerechtigkeit, wenn nicht bei der Rechtssetzung die Gerechtigkeit bewusst verleugnet wurde (Verleugnungsthese).

Der Unterschied der beiden Thesen scheint vielleicht auf den ersten Blick nicht ganz klar, da die Anwendung sowohl des einen als auch des anderen Lehrsatzes zu dem selben Ergebnis, nämlich der Nichtanwendung des in Frage stehenden Gesetzes, führen. Und doch ist ein deutlicher Unterschied festzustellen: Die Unerträglichkeitsthese führt zur Nichtanwendung des Gesetzes, trotz prinzipieller Anerkennung als gültiges Recht. Die Verleugnungsthese führt zur Nichtanwendung des in Frage stehenden Gesetzes, da diesem das Recht-Sein im Ganzen abgesprochen wird. Das eine bezieht sich also auf Recht, dass, weil unerträglich ungerecht, nicht angewendet wird. Das andere auf Nicht-Recht, das auf Grund der bewussten Verleugnung der Gerechtigkeit bei der Rechtsetzung niemals Recht war.

„Wo also […] Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, können die so geschaffenen Anordnungen nur Machtsprüche sein, niemals Rechtssätze […]; so ist das Gesetz, das gewissen Menschen die Menschenrechte verweigert, kein Rechtssatz. Hier ist also eine scharfe Grenze zwischen Recht und Nicht-Recht gegeben, während wie oben gezeigt wurde, die Grenze zwischen gesetzlichem Unrecht und geltendem Recht nur eine Maßgrenze ist […].“

- Gustav Radbruch: Vorschule der Rechtsphilosophie. 2. Auflage, Göttingen 1959, S. 34.


Die Anwendung der Radbruchschen Formel in der Rechtsprechung

Was nun, wenn das gesetzte Recht und die materielle Gerechtigkeit in Widerspruch stehen? Vor diesem Problem stand die deutsche Rechtsprechung schon zweimal, bei der Bewältigung der NS-Vergangenheit und der DDR-Vergangenheit.

NS-Verbrechen

Die Radbruchsche Formel wurde erstmals im Zusammenhang mit der Aufarbeitung nationalsozialistischer Gewalttaten aufgegriffen. In den betreffenden Verfahren stellte sich die Frage, ob nationalsozialistische Gewalttäter durch nationalsozialistische Gesetze, Verordnungen oder Befehle gerechtfertigt waren. Zu den tragenden Entscheidungsgründen dieser Urteile gehört jeweils die Annahme, die staatlich angeordneten Verbrechen seien unter Anwendung der Radbruchschen Formel und wegen Missachtung der „gemeinsamen Rechtsüberzeugungen aller Kulturvölker“ von Anfang an nichtig gewesen, so dass die jeweiligen NS-Täter nicht durch diese „Unrechtsvorschriften“ gedeckt waren. So verurteilte der BGH am 12. Juli 1951 einen Bataillonskommandeur des Volkssturms, der einen Deserteur auf der Flucht erschossen hatte. Der Bataillonskommandeur berief sich zu seiner Rechtfertigung auf einen so genannten Katastrophenbefehl Heinrich Himmlers. Dieser Katastrophenbefehl habe jeden Waffentragenden berechtigt, Menschen auf der Flucht ohne weiteres zu erschießen. Der Bundesgerichtshof stützte sich zur Bekräftigung seines Urteils explizit auf Radbruch:

„Selbst wenn dieser Befehl als Gesetz oder Rechtsverordnung verkündet worden wäre, wäre er nicht rechtsverbindlich. Das Gesetz findet dort seine Grenze, wo es in Widerspruch zu den allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechtes oder zu dem Naturrecht tritt (OGHSt 2, 271) oder der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als »unrichtiges Recht« der Gerechtigkeit zu weichen hat. Wird der Grundsatz der Gleichheit bei der Setzung des positiven Rechts überhaupt verleugnet, dann entbehrt das Gesetz der Rechtsnatur und ist überhaupt kein Recht (Radbruch, SJZ 1946, 105 [107]). Zu den unveräußerlichen Rechten eines Menschen gehört, daß er nicht ohne Gerichtsverfahren seines Lebens beraubt werden darf. An diesem Rechtsgrundsatz hat sogar die Verordnung über die Errichtung von Standgerichten vom 15. Februar 1945 (RGBl I, 30) noch festgehalten. Danach kommt dem sogenannten Katastrophenbefehl keine Gesetzeskraft zu. Er ist keine Rechtsnorm; seine Befolgung wäre objektiv rechtswidrig“

– BGHZ 3, 94 (107).

Auch im Rahmen des so genannten Staatsangehörigkeitsbeschluss von 14. Februar 1968 ging es um die Frage der Verbindlichkeit einer formell korrekt erlassenen NS-Rechtsnorm für die deutschen Gerichte. Konkret ging es um § 2 der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941:


„§ 2. Ein Jude verliert die deutsche Staatsangehörigkeit a) wenn er beim Inkrafttreten dieser Verordnung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat, mit dem Inkrafttreten der Verordnung, b) wenn er seinen gewöhnlichen Aufenthalt später im Ausland nimmt, mit der Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts im Ausland.“

Bei diesem Prozess ging es um einen erbrechtlichen Fall, dessen Lösung davon abhing, ob die Ausbürgerung eines jüdischen deutschen Staatsbürgers auf Grundlage dieser Vorschrift rechtens gewesen war. Das Bundesverfassungsgericht verneinte diese Frage unter Bezugnahme auf die Gedanken der Radbruchschen Formel folgendermaßen:

„1. Nationalsozialistischen „Rechts“vorschriften kann die Geltung als Recht abgesprochen werden, wenn sie fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit so evident widersprechen, daß der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte, Unrecht statt Recht sprechen würde. […]

2. In der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 (RGBl. I S. 772) hat der Widerspruch zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß sie von Anfang an als nichtig erachtet werden muß.

– BVerfGE 23, 98 (Ausbürgerung I).

Mauerschützenprozesse

Bei den so genannten : Mauerschützenprozessen wurde die Radbruchsche Formel erneut relevant. Obwohl der BGH einen deutlichen Unterschied zwischen dem Unrechtsgehalt der Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze und dem nationalsozialistischen Massenmord sieht, hält er die Radbruchsche Formel auch in diesen Fällen für anwendbar. Es ging bei diesen Prozessen darum, ob der Rechtfertigungsgrund der den Grenzwächtern den Todesschuss erlaubte, Anwendung finden kann und/oder muss. Nach § 27 Abs. 2 S. 1 DDR-GrenzG war die „Anwendung der Schusswaffe gerechtfertigt, um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt.“ Damit läuft in den Mauerschützen-Verfahren alles auf die entscheidende Frage hinaus, ob die Todesschützen sich auf das Rückwirkungsverbot des Art. 103 II GG stützen können, so dass § 27 DDR-GrenzG Anwendung findet, sie damit gerechtfertigt und daher freizusprechen waren. „Das strikte Rückwirkungsverbot des Art 103 II GG findet seine rechtsstaatliche Rechtfertigung in der besonderen Vertrauensgrundlage welche die Strafgesetze tragen wenn sie von einem an die Grundrechte gebundenen demokratischen Gesetzgeber erlassen werden An einer solchen besonderen Vertrauensgrundlage fehlt es wenn der Träger der Staatsmacht für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts die Strafbarkeit durch Rechtfertigungsgründe ausschließt in dem er über die geschriebenen Normen hinaus zu solchem Unrecht auffordert, es begünstigt und so in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise missachtet. Der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 II GG muss dann zurücktreten

- BverfGE 95, 96

In einem anderen Urteil hielt das BGH das Rückwirkungsverbot des Art. 103 II GG für nicht betroffen, da es keinen Vertrauensschutz auf die Unverbrüchlichkeit einer bestimmten Staatspraxis gewähre. - BVerfGE 23, 98 (Ausbürgerung I).

Kritik an der bundesdeutschen Rechtsprechung

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Anwendung der Radbruchschen Formel im Rahmen der NS- Verbrechen für richtig erachtet wird. Kritik wurde aber vor allem bei den Mauerschützenprozessen laut. Die Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze seien nicht mit dem nationalsozialistischen Massenmord zu vergleichen und das grundrechtlich verankerte Rückwirkungsverbot des Art.103 II GG hätte in diesen Fällen Gültigkeit haben müssen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat jedoch im Frühjahr 2001 entschieden, dass die Gerichte in Deutschland gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 7 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht verstoßen haben. Eine Staatspraxis wie die Grenzpolitik der DDR, die eklatant vor allem das Recht auf Leben als das höchste Gut auf der internationalen Werteskala der Menschenrechte missachtet habe, werde nicht vom Schutz des Art. 7 Abs. 1 EMRK erfasst. Bei rechtsstaatlicher Auslegung habe sich schon zur Tatzeit eine strafrechtliche Verantwortlichkeit nach dem Recht der DDR ergeben.

Die Radbruchsche Formel und der Verbrechensbegriff

Nach dem Rechtspositivismus ist Recht die Summe aller positiven Normen, also aller von einem Gesetzgeber in einem förmlichen Verfahren erlassenen Gesetze. Verbrechen ist somit alles was gesetzlich als Verbrechen normiert ist. Im Naturrecht geht man davon aus, dass es Rechtsnormen gibt, die nicht von Menschen geschaffen sind sondern z.B. von Gott kommen oder aus der Natur oder der menschlichen Vernunft; diese Normen stehen über denen der Menschen. Danach gibt es zwei Formen von Verbrechen, zum einen die moralisch verwerflichen Delikte (mala delicta per se), zum anderen die schlicht verbotenen Delikte (mala prohibitat). Vor allem wenn es um die Aspekte der Rechtssicherheit und der Gerechtigkeit geht, kann man für beide Positionen Vorteile und Nachteile anführen. Räumt man der Rechtssicherheit Vorrang vor der Gerechtigkeit ein, kann nur der Rechtspositivismus zufrieden stellen. Man kann sich immer blind darauf verlassen, dass das jeweils aktuelle positive Gesetz auch wirklich das Recht ist, an das man sich zu halten hat, und dass nicht nachträglich etwas anderes gilt. Definiert man das Naturrecht mit Radbruch wie folgt,

„Unter Naturrecht ist das Recht zu verstehen, das sich aus der menschlichen Natur ableitet und das aus der menschlichen Vernunft erkennbar ist. Es ist daher für alle Zeiten gültig”,

- Gustav Radbruch: Fünf Minuten Rechtsphilosophie erschienen als Merkblatt für Studenten 1945, und in der Rhein-Neckar-Zeitung (Heidelberg) vom 12. September 1945

kann man auch dem Naturrecht zwar im Grunde die Rechtssicherheit nicht absprechen, da es danach für alle Zeiten und jedes Gemeinwesen Geltung hat. Jedoch hat sich in der Vergangenheit oft gezeigt, dass Könige, Diktatoren und Despoten, die sich auf Naturrecht beriefen, darunter höchst unterschiedliche Dinge verstanden. Letztlich haben sie mit ihren Ansichten positives Recht geschaffen und behauptet, das habe Gott oder die Natur so gewollt, das sei also Naturrecht. Nimmt man nun die Gerechtigkeit als alleinigen Maßstab hat der Rechtspositivismus den Nachteil, dass, egal was im menschlichen Gesetz steht, sei es noch so ungerecht, ja sogar „himmelschreiendes Unrecht", wirksames und gültiges Recht ist. Zwar ist auch das Naturrecht nicht zwingen immer gerecht, es hat dann aber nicht die unumstößliche Gültigkeit eines positivistischen Rechts. Wo ist nun der von Radbruch verwendete Verbrechensbegriff einzuordnen? Radbruch sagt in seiner Formel: Wegen der Rechtssicherheit muss selbst ein ungerechtes positives Gesetz gültig sein. Es gibt aber Ausnahmen, nämlich wenn das Gesetz extrem ungerecht ist oder wenn es nicht mal versucht, Gerechtigkeit zu erzeugen. Damit steht Radbruch im Grunde zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus. Er erkennt das positive Recht als gültig an, geht aber von einem Grundkern des Naturrechts aus, der ebenfalls Geltung hat. Ein kurzes Beispiel zur Unterscheidung von Rechtpositivismus und Naturrecht: Ein Grenzsoldat schießt auf flüchtende Bürger und tötet sie. Nach positivem DDR-Gesetz durfte er das, also wäre er nach dem Rechtspositivismus straffrei. Naturrechtlich kommt es auf die eigene Ansicht des urteilenden an: Gibt es ein überpositives Recht, das die Berufung auf das DDR-Gesetz insoweit unwirksam machte? Die bundesdeutsche Justiz stellte sich auf folgenden Standpunkt: Die Radbruchsche Formel ist richtig, denn bei allen Zweifeln daran, was das Naturrecht besagt, kann man doch einen allgemein anerkannten Kern herausschälen, z.B. das Verbot zu töten.

Aktualität

Auch heute im 21. Jahrhundert hat die Radbruchsche Formel nicht an Aktualität verloren. Die Frage nach Recht und Gerechtigkeit stellt sich immer, auch international, wenn es um die Bewältigung der Vergangenheit eines Unrechtsregimes geht. Bei der Einfachheit und Universalität der Radbruchschen Formel birgt sie jedoch auch eine gewisse Unsicherheit, vor allem wenn es um die Anwendung des Völkerrechts geht. Ob nun unsere Auffassung von Gerechtigkeit richtiger ist als andere kann und will die Radbruchsche Formel nicht entscheiden. Auch Radbruch ist sich dieser Unsicherheit bewusst, und schreibt in der fünften Minute seiner Fünf-Minuten-Rechtsphilosophie: Die Lösung [bei Zweifeln an der Gerechtigkeit des Rechts] bleibe der »Stimme Gottes« überlassen, »welche nur angesichts des besonderen Falles im Gewissen des Einzelnen zu ihm spricht«.

Anwendung der Radbruchschen Formel im Ausland

Siehe dazu: : Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht

Weblinks

Literatur

Einschlägige Veröffentlichungen Radbruchs

  • Fünf Minuten Rechtsphilosophie (1945). In: Ralf Dreier und Stanley L. Paulson (Hrsg.): Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie (Studienausgabe), 2. Auflage, Heidelberg 2003.
  • Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. In: Süddeutsche Juristenzeitung. 1946, S. 105–108.

Sekundärliteratur

  • Adachi, Hidehiko: Die Radbruchsche Formel: eine Untersuchung der Rechtsphilosophie Gustav Radbruchs. Baden-Baden 2006, ISBN 978-3-8329-2028-9.
  • Alexy, Robert: Mauerschützen. Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit. Hamburg 1993, ISBN 978-3-525-86282-7.
  • Alexy, Robert: Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zu den Tötungen an der innerdeutschen Grenze vom 24. Oktober 1996. Hamburg 1997, ISBN 978-3-525-86293-3.
  • Luf, Gerhard (2008) Zur Verantwortlichkeit des Rechtspositivismus für 'gesetzliches Unrecht'. Überlegungen zur 'Radbruch-These', in: ders., Freiheit als Rechtsprinzip. Wien: Facultas 73-94.
  • Dreier, Horst: Gustav Radbruch und die Mauerschützen. Juristenzeitung 1997, S. 421 ff.
  • Paulson, Stanley, Dreier, Ralf: Einführung in die Rechtsphilosophie Radbruchs. In: Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie, Studienausgabe. 1. Auflage. Heidelberg 1999, S. 235–250.
  • Seidel, Knut: Rechtsphilosophische Aspekte der „Mauerschützen“-Prozesse. Berlin 1999, ISBN 978-3-428-09748-7.
  • Vest, Hans: Gerechtigkeit für Humanitätsverbrechen? Nationale Strafverfolgung von staatlichen Systemverbrechen mit Hilfe der Radbruchschen Formel. Tübingen 2006, ISBN 978-3-16-149103-0.