Repressives Verbrechen

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Den Ausdruck repressives Verbrechen benutzte erstmals Henner Hess für eine schwere Straftat, die zur Erhaltung, Stärkung oder - vor allem - Verteidigung einer privilegierten Position, insbesondere der Macht und des Besitzes, begangen wird (Hess 1976: 1).

Dabei ergeben sich folgende typische Fallgruppen:

(1) Straftaten vor-industrieller Oberschichten (z.B. Großgrundbesitzer) gegenüber Herausforderern ihrer Machtposition (Landreform-Aktivisten, freigelassene Sklaven)

(2) Straftaten von Unternehmern (von der Ermordung von Gewerkschaftlern bis zu Kartellabsprachen)

(3) Straftaten zum Ausschluss bestimmter Gruppen vom politischen Prozess (Wahlbetrug u.a.)

(4) Straftaten der Polizei (Polizeibrutalität, Folter, kaum verhüllte Morde)

(5) Terrorakte polizeinaher Organisationen (zur Etablierung oder Stabilisierung diktatorischer Regierungen)

(6) Verbrechen von Regierungen ("crimes of government")

(7) Kolonialverbrechen.

Besonders häufig sind repressive Verbrechen:

  • als Gegenschläge zu revoltierenden Verbrechen (die ihrerseits häufig Reaktionen auf legale Repressionsakte darstellen)
  • als illegale Ergänzung für die beschränkten Möglichkeiten legaler Repression (z.B. aufgrund rechtsstaatlicher Restriktionen)
  • nach der gesetzlichen Beschneidung von Privilegien (z.B. durch eine Bodenreform oder ähnliche Veränderungen der gesellschaftlichen Machtverhältnisse)

Täter sind:

  • gelegentlich die Interessierten selber
  • häufiger aber Angehörige deklassierter Schichten, die entweder selbst glauben, mit ihren Gewaltakten diejenigen zu treffen, die an ihrer desolaten Lage schuld sind ("Sündenbockmechanismus")

oder aber

  • ihre Beziehung zu den Privilegierten durch geldwerte Gefälligkeiten aufbessern und damit perspektivisch selbst sozial aufsteigen wollen.

Die Taten sind durch zwei Merkmale gekennzeichnet:

  • besondere Brutalität (zu erklären aus der Funktion der Einschüchterung bzw. Terrorisierung der Zielgruppe)
  • besondere Immunität gegenüber Strafverfolgung ("Impunität"; "Straflosigkeit"), insbesondere im Vergleich zur oftmals unbarmherzigen Sanktionierung revoltierender Verbrechen (zu erklären aus der weitgehenden Parallelität der Interessen mit denen maßgeblicher Leute im Staatsapparat).


Bedeutung für die kriminologische Theorie

Henner Hess zieht aus dem Konzept des repressiven Verbrechens folgende Konsequenzen für die kriminologische Theoriebildung:


(1) "Zunächst ist klar, dass mit der bisherigen Dunkelfeldforschung keine Aussagen über die wirkliche Schichtverteilung der Kriminalität zu machen sind - allenfalls über die Jugendkriminalität -, denn die Ergebnisse werden schon durch die in die Fragestellung eingehenden Variablen, aus denen repressives Verbrechen, white-collar crime im ursprünglichen weiten Sinne, organisiertes Verbrechen etc. ausgeschlossen bleiben, beschränkt." (Hess 1976: 16)


(2) "Ätiologische Aussagen über primäre Devianz (mag sie nun später als kriminell definiert werden oder nicht), die Armut, soziale Mängellage, Unterschicht-Milieu, kriminelle Subkulturen, Sozialisationsschäden etc. als generelle Ursachen postulieren, greifen zu kurz. Eine allgemeine kriminologische Theorie müßte nämlich imstande sein, die Ursachen und Entwicklungsbedingungen aller Formen des Verbrechens, einschließlich des repressiven, zu erklären. Das kann sie nur, wenn sie von der Voraussetzung ausgeht, dass Normbruch anthropologisch ohne weiteres möglich und in den Auseinandersetzungen um Macht, Besitz, Prestige etc. der Einsatz aller, auch illegaler Mittel soziologisch ohne weiteres verstehbar ist. Und zwar spielt dabei der Umfang, in dem jemand diese Güter besitzt, keine Rolle. Der Herrschende wie der Beherrschte, der Reiche wie der Arme sind zum Verbrechen motiviert, da alle vom Recht in dem Bestreben, diese Güter zu mehren, eingeschränkt werden." (Hess 1976: 17)

Literatur

Hess, Henner (1976) Repressives Verbrechen. Kriminologisches Journal 8: 1-22.