Psychopathie

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Der Psychopath spricht von Gefühlen wie der Blinde von der Farbe. (Hervey Cleckley, 1941)

Psychopathie (griechisch psyche "Seele" und pathos "Leiden") ist eine Persönlichkeitsstörung, die der dissozialen Persönlichkeitsstörung (gemäß ICD-10) ähnlich ist und sich teilweise mit ihr überschneidet. Psychopathie zeichnet sich durch Gefühlskälte, Gewissenlosigkeit, oberflächlichen Charme, impulsives Verhalten und betrügerisch-manipulatives Verhalten aus. Diese Störung geht oft, aber nicht immer, mit straffälligem Verhalten einher. Psychopathie im heutigen Sinne wird vorrangig mit der Psychopathy Checklist (PCL-R) von Robert D. Hare gemessen. Hohe PCL-R-Werte deuten bei Straftätern auf ein hohes Rückfallrisiko und eine hohe Gewaltbereitschaft hin.

Begriffsgeschichte

Anfang des 19. Jahrhunderts beschrieb der französische Arzt Philippe Pinel erstmals gestörte Persönlichkeiten, denen es an Moral und Verhaltenskontrolle mangelte und bezeichnete diese Störung als "Manie sans délire" (1809). In der deutschsprachigen Psychiatrie unterschied Julius Koch Ende des 19. Jahrhunderts zwischen "angeborenen und erworbenen psychopathischen Minderwertigkeiten". Kurt Schneider benutzte den Begriff "psychopathischen Persönlichkeiten" (1923) für sämtliche Persönlichkeitsstörungen. Er war nicht auf Kriminalität und Dissozialität eingeengt, wenn er von Psychopathie sprach, sondern unterschied unter anderem auch selbstunsichere, depressive und stimmungslabile Psychopathen. Den Grundstein für das gegenwärtige Psychopathie-Konzept legte Hervey Cleckley mit seinem Werk The Mask of Sanity (1941). Er beschrieb 16 charakteristische Eigenschaften eines Psychopathen, auf denen Hare sein Psychopathy-Konzept aufbaute und es durch die PCL-R messbar machte. (In Bezug auf Psychopathy sensu Hare wird auch im Deutschen die englische Schreibweise verwendet.)

Psychopathy nach Hare

Im Jahre 1980 operationalisierte der Kanadier Hare den Psychopathiebegriff, indem er die Psychopathy Checklist entwickelte und 1991 die Psychopathy Checklist-Revised (PCL-R). Es handelt sich um ein sogenanntes Ratinginstrument, in dem 20 Persönlichkeitsmerkmale durch geschulte Untersucher bewertet werden. Zur Bewertung werden in einem halbstrukturierten Interview gewonnene Informationen sowie auch Informationen aus Akten herangezogen. Je nachdem, ob ein Merkmal nicht zutrifft, fraglich zutrifft oder zutrifft können die Punktwerte 0, 1 oder 2 vergeben werden. Das Ergebnis ist ein Summenscore zwischen 0 und 40. Obwohl es keinen allgemeingültigen Grenzwert für die Diagnose von Psychopathy gibt, empfiehlt Hare für den nordamerikanischen Kulturraum einen Grenzwert von 30 Punkten. Es gibt Hinweise darauf, dass der Grenzwert im europäischen Raum nach unten korrigiert werden muss. Konzeptuell geht man ohnehin davon aus, dass es sich bei Psychopathy nicht um ein kategoriales, sondern um ein dimensionales Merkmal handelt. Mehrere Untersuchungen konnten die prädiktive Aussagekraft hoher PCL-R-Scores bezüglich Gewaltbereitschaft und Rückfallrisiko belegen (vgl. Habermeyer 2006, 608). Eine Risikobeurteilung sollte sich jedoch nie allein auf den PCL-R-Score stützen, sondern immer in Kombination mit klinischen Methoden erfolgen (vgl. Urbaniok, 2007, 158).

Die Items des PCL-R lassen sich in zwei Faktoren aufgliedern. Im Jahre 2003 hat Hare diese Faktoren jeweils noch einmal in zwei Facetten unterteilt:

Faktor 1:

Facette 1: Interpersonell

  • Trickreich-sprachgewandter Blender mit oberflächlichem Charme
  • Übersteigertes Selbstwertgefühl
  • Pathologisches Lügen
  • Betrügerisch-manipulatives Verhalten

Facette 2: Affektiv

  • Mangel an Gewissen und Schuldbewusstsein
  • Flacher Affekt (hohl, unecht)
  • Mangel an Empathie (Kaltherzigkeit)
  • Übernimmt keine Verantwortung für eigenes Tun

Faktor 2:

Facette 3: Lebensstil

  • Gesteigertes Stimulationsbedürfnis (Kicks, Drogen, Sex etc.)
  • Impulsivität
  • Verantwortungslosigkeit
  • Parasitärer Lebensstil
  • Fehlen von realistischen Zielen

Facette 4: Antisozial

  • Geringe Verhaltenskontrolle
  • Frühe Verhaltensauffälligkeiten
  • Jugenddelinquenz
  • Widerruf einer bedingten Entlassung
  • Polytrope Kriminalität

Nicht zugeordnete Items: promiskes Sexualverhalten, viele kurzzeitige eheähnliche Beziehungen.

Der Faktor 1 bildet manipulatives Verhalten und das emotionale Kernsyndrom der Psychopathie ab. Personen, die auf dem Faktor 1 hohe Werte erreichen, werden auch als primäre Psychopathen bezeichnet. Der Faktor 2 dagegen erfasst impulsives und antisoziales Verhalten (sekundäre Psychopathen).

Ein alternatives Modell (Cooke & Michie)

In Schottland entwickelten David Cooke und Christine Michie (2001) ein Drei-Faktoren-Modell:

Faktor 1: arrogantes und auf Täuschung angelegtes zwischenmenschliches Verhalten,

Faktor 2: gestörte Affektivität,

Faktor 3: impulsive und verantwortungslose Verhaltensmuster.

Diese drei Faktoren entsprechen weitestgehend den ersten drei Facetten von Hare. Cooke & Michie verzichten jedoch auf einen vierten Faktor, der antisoziales Verhalten abbildet. Sie verstehen kriminelles Verhalten als Folge der ersten drei Faktoren und somit nicht als unabhängigen Faktor.

Im Jahre 2007 haben Cooke et al. mit dem CAPP (Comprehensive Assessment of Psychopathic Personality) auch ein alternatives Instrument zur Erfassung von Psychopathie entwickelt. Die Autoren versuchen, der Komplexität des Konstrukts gerecht zu werden und unterschiedliche Theorien zu integrieren. In einem semistrukturierten Interview werden Persönlichkeitsmerkmale und der Grad der Anpassung des Probanden erfasst. Im Gegensatz zur PCL-R soll die CAPP auch Veränderungen der Persönlichkeitsmerkmale messen. Die Erhebung ist allerdings sehr zeitaufwändig, und das Instrument ist aufgrund seiner Aktualität noch nicht ausreichend validiert.

Psychophysiologische Befunde

In der Psychophysiologie werden psychische Vorgänge über körperliche Funktionen gemessen. Es existieren zahlreiche empirische Untersuchungen, in denen psychophysiologische Funktionen von Psychopathen mit denen der Durchschnittsbevölkerung verglichen wurden. Einschränkend ist anzumerken, dass in den Studien nicht immer zwischen Psychopathen und Personen mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung unterschieden wurde. Die Ergebnisse der Untersuchungen zeigen, dass sich die Hautleitfähigkeit bei Psychopathen signifikant weniger verändert, d.h. sie sind weniger erregbar als andere Probanden. Auch eine festgestellte niedrigere Herzfrequenz ist in diesem Sinne zu interpretieren. Des Weiteren konnte gezeigt werden, dass Psychopathen weniger Furchtreaktionen zeigen als andere Personengruppen. Insgesamt zeigen die Studien, dass Psychopathen eine veränderte Emotionsverarbeitung haben; ihr Angstempfinden ist vermindert, die Schmerzempfindlichkeit herabgesetzt, ihr menschliches Einfühlungsvermögen ist deutlich reduziert, und sie sind beeinträchtigt in ihrer Fähigkeit, aus negativen Erfahrungen zu lernen (vgl. Müller 2011, 239). Daneben gibt es zahlreiche Hinweise auf Veränderungen in den präfrontalen Hirnarealen. Dort sind unter anderem die Fähigkeit zur Handlungssteuerung und die Regulation emotionaler Prozesse angesiedelt.

Wie entsteht Psychopathie?

Psychopathen fallen typischerweise schon im Kindesalter durch aggressives und delinquentes Verhalten auf. Auch ein Mangel an Furcht und physiologischer Erregbarkeit können zu dieser Zeit schon nachgewiesen werden. Seit den 1960er Jahren wird eine Triade von kindlichen Verhaltensweisen (Tiere quälen, Brandstiftung, Bettnässen) als Prädiktor für kriminelles Verhalten im Erwachsenenalter diskutiert (Stone 2009, 199). Genetischen Faktoren wird zumindest eine indirekte Beeinflussung von dissozialem Verhalten zugesprochen. Längsschnittuntersuchungen haben gezeigt, dass Probanden mit einer erniedrigten Funktion des Enzyms MAO-A ein deutlich höheres Risiko haben, dissoziales und gewalttätiges Verhalten zu entwickeln, wenn sie selbst Opfer kindlicher Misshandlungen waren. Jedoch erst das Zusammenwirken von geringer MAO-A-Aktivität und negativer Erfahrungen in der Kindheit erhöht das Risiko, selbst zum Täter zu werden. Terrie E. Moffitt fand in ihren Studien ähnliche Ergebnisse für Life-Course-Persistent offenders (LCP). Es ist also zumindest eine Überschneidung der beiden Gruppen Psychopaths (sensu Hare) und Life-Course-Persistent offenders (sensu Moffitt) anzunehmen. Auch dem Elternhaus kommt in der Entstehung von Psychopathie eine wichtige Bedeutung zu. Als Risikofaktoren werden angesehen: gewalttätiges Verhalten innerhalb der Familie, ein niedriger sozioökonomischer Status sowie ein elterliches Erziehungsverhalten, das durch Zurückweisung, Mangel an Aufsicht und geringer Involvierung geprägt ist.

Prävalenz von Psychopathie

Die Prävalenz von Psychopathie wird in der US-amerikanischen Bevölkerung auf 1 % geschätzt. Unter US-amerikanischen Gefängnisinsassen erfüllen ca. 25 % die PCL-R Kriterien für Psychopathy, 70-80 % erfüllen die Kriterien für eine antisoziale Persönlichkeitsstörung (vgl. Müller 2011, 238).

Therapie

Die Behandelbarkeit von Psychopathie ist dem gegenwärtigen Erkenntnisstand zufolge fraglich. Sie ist, wenn überhaupt, nur über langfristig angelegte Therapiekonzepte erfolgversprechend. Therapien, die darauf abzielen, Psychopathen echte Gefühle von Reue oder Anteilnahme zu vermitteln, sind kontraindiziert, sie können das Verhalten sogar verschlimmern. Es besteht die Gefahr, dass den Psychopathen in derartigen Therapieversuchen neue Rechtfertigungen für ihr Verhalten und neue Erkenntnisse über menschliche Schwächen vermittelt werden. In der Folge könnten sie womöglich ihre Fähigkeit zur Manipulation weiter verfeinern (vgl. Hare 2005, 172 f.). Aktuell liegen noch keine Therapieprogramme speziell für Psychopathen vor, allenfalls Leitlinien (Wong & Hare 2005). Hare empfiehlt Interventionen, die darauf abzielen, die Psychopathen davon zu überzeugen, dass ihr Verhalten nicht in ihrem eigenen besten Interesse ist und dass sie Verantwortung für ihr Verhalten tragen müssen. Gleichzeitig soll versucht werden, den Psychopathen zu zeigen, wie sie ihre Stärken und Fähigkeiten sozialverträglich einsetzen können.

Kritische Anmerkungen

Im deutschsprachigen Raum hat der Begriff Psychopathie eine negative Konnotation, die vor allen Dingen durch seinen Gebrauch im Nationalsozialismus zurückzuführen ist. Im Dritten Reich wurde der Begriff des Psychopathen synonym mit dem eines einem haltlosen Versagers gewertet. Selbst Menschen, die sich bloß Befehlen widersetzten, wurden als Psychopathen bezeichnet, und ihnen drohte Konzentrationslager, Zwangseinweisung in eine Heilanstalt und Sterilisation (vgl. Günther 2008, 13). Ein weiteres Problem ist das der Stigmatisierung. Emil Kraepelin sprach 1915 von "psychopathischen Persönlichkeitsstörungen" und lag mit seinem Begriff des "Entartungsverbrechers" schon nah bei Cesare Lombrosos Theorie des geborenen Verbrechers (vgl. Habermeyer 2006, 606). Aktuelle Studien zur Psychopathie legen nahe, dass tatsächlich genetische Einflüsse eine Rolle spielen bei der Entstehung von Psychopathie, Lombroso aber überbetonte biologische Ursachen für Geisteskrankheiten. Aufgrund seiner langen und schwierigen Geschichte sollte mit dem Psychopathiebegriff vorsichtig umgegangen werden. Zwar ist der heutige Psychopathiebegriff hilfreich in Bezug auf die Kriminalprognose von Straftätern, andererseits besteht nach wie vor die Gefahr der Stigmatisierung, zumal Psychopathie als kaum therapierbar gilt und mit einer negativen Legalprognose einhergeht.

Literatur

  • Günther, Katrin (2008): Diagnose "Psychopath" – Die Behandlung von Soldaten und Zivilisten in der Marburger Universitäts-Nervenklinik 1939-1945, Dissertation, Philipps-Universität Marburg 2008 http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2008/0366/pdf/dkg.pdf
  • Habermeyer & Herpertz (2006): Dissoziale Persönlichkeitsstörung, in: Der Nervenarzt, Springer Medizin Verlag, Heidelberg, 2006; 77, S. 605-617
  • Hare, Robert D. (2005): Gewissenlos – Die Psychopathen unter uns, Springer, Wien, 2005
  • Hartmann, Hollweg & Nedopil (2007): Quantitative Erfassung dissozialer und psychopathischer Persönlichkeiten bei der strafrechtlichen Begutachtung, in: Der Nervenarzt, Springer Verlag, 2001; 72, S. 365-370
  • Heinzen & Huchzermeier (2010): Die umfassende Beurteilung der Psychopathy-Persönlichkeit (Comprehensive Assessment of Psychopathic Personality, CAPP), in: Köhler, Denis (Hrsg.): Neue Entwicklungen der forensischen Diagnostik in Psychologie, Psychiatrie und Sozialer Arbeit, Schriftenreihe Forensische Sozialwissenschaften Band 1, SRH Hochschule Heidelberg, Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt, 2010, S. 197-210
  • Krippel, Fromberger, Stolpmann, Karim & Müller (2007): Psychophysiologische Untersuchungen bei forensisch relevanten Störungen am Beispiel der Psychopathie, in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, Springer, 2007; 1, S. 259-268
  • Kuska, Köhler & Hinrichs (2010): Was ist Psychopathy bei Jugendlichen?, in: Köhler, Denis (Hrsg.): Neue Entwicklungen der forensischen Diagnostik in Psychologie, Psychiatrie und Sozialer Arbeit, Schriftenreihe Forensische Sozialwissenschaften Band 1, SRH Hochschule Heidelberg, Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt, 2010, S. 117-149
  • Mokros, Andreas (in Druck): Psychopathy Checklist-Revised / Psychopathy Checklist: Screening Version, in: Rettenberger & Franqué (Hrsg.): Handbuch psychologischer Instrumente zur Kriminalprognose, Hogrefe, Göttingen
  • Müller, Jürgen (2011): Soziopathie und "Psychopathy", in: Psychiatrie und Psychotherapie up2date, Georg Thieme Verlag, 2011, S. 233-248
  • Simon, Robert I. (2011): Die dunkle Seite der Seele. Psychologie des Bösen., Verlag Hans Huber, Bern, 2011
  • Schmoll, D. (2012): Entscheidungsverhalten, Empathiefähigkeit und Moralität bei Psychopathy: Bieten die empirischen Befunde neue Aspekte im Hinblick auf die Beurteilung der Schuldfähigkeit?, in: Fortschritte der Neurologie Psychiatrie, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, 2012; 80, S. 193-200
  • Stone, Micheal H. (2009): The Anatomy of Evil, Prometheus Books, New York, 2009
  • Ullrich, Paelecke, Kahle & Marneros (2003): Kategoriale und dimensionale Erfassung von "psychopathy" bei deutschen Straftätern, in: Der Nervenarzt, Springer Verlag, 2003; 77, S. 1002-1008
  • Urbaniok, Noll, Rossegger & Endrass (2007): Die prädiktive Qualität der Psychopathy Checklist-Revised (PCL-R) bei Gewalt- und Sexualstraftätern in der Schweiz, in: Fortschritte der Neurologie Psychiatrie, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, 2007; 75, S. 155-159

Weblinks