Polizeigewahrsam

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Die folgende Ausarbeitung zum Thema Polizeigewahrsam: Die polizeiliche Ingewahrsamnahme erfolgte anhand eines aktuellen Polizeigesetzes, dem Hessischen Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG), welches exemplarisch aus den Polizeigesetzen des Bundes und der Länder ausgewählt wurde. Obwohl es seit 1978 ein Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes (MEPG) von Gerd Heise und Reinhard Riegel existiert, wurde eine Vereinheitlichung der Polizeigesetze nie verwirklicht. Aus Gründen der Nachvollziehbarkeit und Praxisnähe wurde statt des theoritschen MEPG das aktuelle HSOG herangezogen.


Ingewahrsamnahme i.S. des § 32 HSOG ist die aus Gründen der Gefahrenabwehr mit hoheitlicher Gewalt erfolgte Entziehung der Freiheit einer Person, durch die diese gehindert wird, sich fortzubegeben. (OVG Münster, Urteil vom 7.6.1978, Deutsches Verwaltungsblatt 1979, 733)


Rechtsgrundlagen/Rechtliche Voraussetzungen der polizeilichen Ingewahrsamnahme

Das Grundgesetz

Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 Grundgesetz besagt, dass in das Grundrecht der Freiheit der Person unverletzlich ist. In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.

Artikel 104 Absatz 1 und 2 Grundgesetz normiert weiterhin, dass in die Freiheit der Person nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin beschriebenen Formen beschränkt werden kann.

Durch § 10 HSOG kommt der Gesetzgeber dem Zitierungsgebot für die Eingriffe in die Grundrechte nach. Hiernach darf aufgrund des HSOG in die Freiheit der Person eingegriffen werden.


§ 32 HSOG regelt den polizeilichen Gewahrsam. Die Behandlung der in Gewahrsam genommenen Personen ist in § 34 HSOG, die zulässige Dauer des Gewahrsams ist in § 35 HSOG normiert. § 33 HSOG regelt die für den Gewahrsam erforderliche richterliche Entscheidung.

Die Ingewahrsamnahme i.S.v. § 32 HSOG ist keine bloße Freiheitsbeschränkung. Sie stellt eine Freiheitsentziehung nach Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 und Artikel 104 Grundgesetz dar und greift damit in ein Grundrecht ein. Inhalt und Zweck der Maßnahme ist ein Eingriff in die Freiheit der Person, die durch den Gewahrsam entzogen wird. In ein solches Grundrecht darf nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes eingegriffen werden. Ein solches Gesetzt stellt das Hessische Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) dar.

Zellentrakt eines Polizeipräsidiums

Verschiedene Arten des Gewahrsams

Das Schutzgewahrsam

Die Ingewahrsamnahme nach § 32 Abs. 1 Nr. 1 HSOG ist nur zum Schutz der betroffenen Person für Leib oder Leben (z.B. aufgrund von Tatsachen droht hinreichenden Wahrscheinlichkeit eine Körperverletzung oder der Tod eines Menschen) zulässig. Unerheblich ist, ob die Gefahrensituation schuldhaft oder schuldlos durch die Person oder durch andere Personen oder Sachen entstanden ist.

Entscheidend ist, ob durch die Wahl einer anderen Maßnahme das Ziel erreicht werden kann, so dass keine Gefahr mehr für Leib oder Leben der Person besteht. Will der Person in Gewahrsam genommen werden, liegt kein Eingriff in ein Grundrecht vor und somit ist auch diese Maßnahme auch keine Freiheit entziehende Maßnahme.

Das Sicherheitsgewahrsam

Die Ingewahrsamnahme ist nach § 32 Abs.1 Nr. 2 HSOG zulässig, wenn sie unerlässlich ist, um die betroffene Person an der unmittelbar bevorstehenden Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit mit erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu hindern.

Es muss sich um Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Bedeutung handeln (z.B. Belange des Umweltschutzes). Straftaten und Ordnungswidrigkeiten müssen tatbestandsmäßige und rechtswidrige Handlungen sein; auf die Schuldfähigkeit der betroffenen Person kommt es nicht an (das polizeilich-präventive Einschreiten setzt kein Verschulden voraus). Die Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeiten muss unmittelbar bevorstehen oder mit deren Ausführung bereits begonnen haben.

Das Unterbindungsgewahrsam

Im Falle einer Ingewahrsamnahme nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 HSOG i.V.m. § 35 Abs. 1 Nr. 4 HSOG ist eine Dauer von bis zu sechs Tagen zulässig. Die Erforderlichkeit einer richterlichen Entscheidung bleibt hiervon jedoch unberührt. Das Unterbindungsgewahrsam ist in der Eingriffsqualität unterhalb der Untersuchungs-, Straf- oder längerfristigen Abschiebehaft anzusiedeln.

Die Durchsetzung einer Maßnahme nach dem HSOG

Durch die Ingewahrsamnahme soll eine Maßnahme nach § 31 Absatz 1 Nr. 3 HSOG durchgesetzt werden. Die Ingewahrsamnahme stellt jedoch keine Zwangsanwendung i.S.v. §§ 47 ff HSOG dar. Sie ist vielmehr eine eigenständige Standardmaßnahme und greift, wenn der Verfügung nach § 31 HSOG nicht nachgekommen wird und diese nicht vollstreckt werden kann (z.B. durch Abdrängen im Rahmen einer Demonstration).

Innenansicht einer Gewahrsamszelle

Das Verbringungsgewahrsam

Unter Umständen kann auch eine Verbringung des Betroffenen an einen anderen Ort zulässig sein (Verbringungsgewahrsam). Hierbei dürfen die Nachteile für den Betroffenen jedoch nicht Gefahren für den Betroffenen ergeben. Der Verbringungsgewahrsam stellt eine Mindermaßnahme zur eigentlichen Ingewahrsamnahme dar. Die Polizei hat auch gegenüber einem Betroffenen eine Verbringungsgewahrsam eine Garantenstellung.

Die Verwaltungsvorschrift zu § 32 HSOG lässt einen Verbringungsgewahrsam indirekt nur in Verbindung mit der Durchsetzung nach einer Maßnahme nach § 31 HSOG zu.

Der Schutz privater Rechte

Zum Schutz privater Rechte kann eine Ingewahrsamnahme durch die Polizei erfolgen, wenn der Gläubiger einen Anspruch glaubhaft machen kann, ein Richter nicht erreicht werden kann und Fluchtgefahr des Schädigers besteht, d.h. er sich dieser dem berechtigten Zugriff entziehen will. Andere, mildere Mittel zum Schutz privaten Rechtes dürfen nicht zur Verfügung stehen.

Hier sind erhebliche Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit zu stellen. So dürfen erst ab einen Betrag von 5.000 € und Aussicht für ein erfolgreiches Gesuch auf persönlichen Arrest bestehen. Die Polizei wird nur tätig, um das weitere Verfahren zu gewährleisten. Dementsprechend ist Voraussetzung, dass der Gläubiger ein Gesuch auf persönlichen Arrest beim zuständigen Amtsgericht stellen wird und will. Der Antrag bei Gericht ersetzt die Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung nach § 33 Abs. 1 HSOG.

Nach Ausschöpfung aller anderen rechtlichen Möglichkeiten kann ausnahmsweise nur eine Entscheidung rechtmäßig sein. Die schädigende Person muss in Gewahrsam genommen werden (Ermessensreduzierung auf null).

Pritsche in einer Gewahrsamszelle

Die Ingewahrsamnahme Minderjähriger (Zuführungsgewahrsam)

Während sich § 1 Satz 1 Nr. 1 Gesetz zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit (JÖSchG) nur auf jugendgefährdende Orte beschränkt und lediglich die zwangsweise Zuführung zu dem Erziehungsberechtigen ermöglicht, kann die Freiheit Minderjähriger nach § 32 Abs. 2 HSOG entzogen werden, wenn sich diese der Obhut der Sorgeberechtigten entzogen haben. Das ist der Fall, wenn der Minderjährige (das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet - § 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)) sich eine gewisse Dauer ohne Wissen oder gegen den Willen der Sorgeberechtigten entfernt hat und diesen der Aufenthaltsort nicht bekannt ist. Eine konkrete Gefahr für oder durch den Minderjährigen ist nicht erforderlich.

[Exkurs: Das Sorgerecht steht bei ehelichen Kindern den Eltern (§ 1626 Abs. 1 Satz 1 BGB), bei nichtehelichen Kinder der Mutter (§ 1705 BGB) und bei Pflegekindern dem Vormund (§§ 1793, 1800 BGB) zu.]

Die Zuführung zum Sorgeberechtigten oder Jugendamt liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Polizei. Bei Vorbehalten des Minderjährigen gegen die Sorgeberechtigten, bei Gewährung einer freiwilligen Erziehungshilfe oder bei Anordnung einer Fürsorgeerziehung ist eine Überstellung an das Jugendamt angezeigt.

Die Ingewahrsamnahme von Entwichenen

§ 32 Abs. 3 HSOG betrifft Personen, die aus dem Vollzug der

  • Untersuchungshaft (richterlicher Haftbefehl nach § 114 Strafprozessordnung (StPO), 72 Jugendgerichtsgesetz (JGG) – Unterbringungsbefehl nach § 126 a StPO, § 72 Abs. 3 JGG)
  • Rechtskräftige Freiheitsstrafe (§§ 38, 39 StGB, §§ 17, 18, 19 JGG)
  • Freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung im Krankenhaus (§ 63 Strafgesetzbuch (StGB)), Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) oder Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB)


entwichen sind oder die sich ohne Erlaubnis außerhalb der Justizvollzugsanstalt aufhalten.

Innenansicht einer Gewahrsamszelle

Die Formalitäten

Verhältnismäßigkeit

Die Verhältnismäßigkeit ist in § 4 HSOG geregelt. Bei jedem Einschreiten der Polizei muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Maßstab des Handelns sein. Gleichzeitig sind Maßnahmen nur solange zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder sicht zeigt, dass er nicht erreicht werden kann (zeitliche Dauer).

Dieser Grundsatz hat Verfassungsrang.


Ermessen, Wahl der Mittel

Ermessenserwägungen sind in § 5 HSOG normiert und betreffen sowohl die Frage eines Einschreitens wie auch – bei mehreren Möglichkeiten – die Wahl des Einschreitens und der Mittel, wobei diese dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht widersprechen dürfen. Die Ermessenserwägungen haben sachlich und zweckgerichtet zu sein.


Verantwortlichkeit

Eine Ingewahrsamnahme nach § 32 Abs. 1 Nr. 1 HSOG erfolgt zum Schutz der betroffenen Person. Dabei ist es unerheblich, ob sie verantwortlich für die Gefahrenursache ist oder nicht.

Adressat der Ingewahrsamnahme nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 – 4 HSOG kann nur der Handlungsstörer nach § 6 HSOG sein Andere Adressaten scheiden grundsätzlich aus. In den Absätzen 2 und 3 ergeben sich die Adressaten direkt aus den gesetzlichen Normen des HSOG: Minderjährige – Abs. 2, oder Entwichenen – Abs. 3).

Verlangt eine gefährdete Person in Gewahrsam genommen zu werden, so liegt keine Freiheit entziehende Maßnahme vor, mithin ist auch der § 32 HSOG nicht anzuwenden.

Die Richterliche Entscheidung

Unverzüglichkeit der richterlichen Entscheidung

Es ist unverzüglich, d.h. ohne vermeidbare Säumnis, eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit und über die Fortdauer der Freiheitsentziehung nach § 31 Abs. 1 und 2 HSOG herbeizuführen. Eine Entscheidung ist lediglich bei der Freiheitsentziehung nach § 32 Abs. 3 HSOG (Entwichene) entbehrlich. Die richterliche Entscheidung sollte bereits vor der Freiheitsentziehung eingeholt werden, wenn dadurch der Erfolg der Maßnahme nicht gefährdet wird. Eine richterliche Entscheidung setzt nach dem Bundesfreiheitsentziehungsgesetz die Vorführung und mündliche Anhörung voraus.

Wird die Freiheit einer Person ohne vorherige richterliche Entscheidung entzogen, so ist, falls nicht die Voraussetzungen des § 33 Abs. 1 Satz 2 HSOG vorliegen, die Entscheidung ohne schuldhafte Verzögerung herbeizuführen. Eine schuldhafte Verzögerung liegt insbesondere nicht vor, wenn das zuständige Gericht aus Gründen, die nicht von der Polizeibehörde vertreten sind, nicht tätig werden kann.

Die Gründe für das Nicht-Tätigwerden des Gerichts müssen schriftlich festgehalten werden. Ein Hinweis auf den Dienstschluss des Gerichts reicht nicht aus.

Ausnahmen der richterlichen Entscheidung

Einer Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung bedarf es nicht, wenn anzunehmen ist, dass die richterliche Entscheidung erst nach dem Wegfall des Grundes der Maßnahme ergehen würde. In diesen Fällen hat auch eine Weitergabe an das Amtsgericht zu unterbleiben.

Normalerweise muss immer eine richterliche Entscheidung angestrebt werden; auch wenn eine Vorführung z.B. wegen Trunkenheit nicht angebracht erscheint. Je nach Entscheidung des beteiligten Richters muss die betroffene Person vorgeführt und richterlich angehört werden oder es reicht eine mündliche oder schriftliche Übermittlung des Sachverhalts zur Entscheidungsfindung aus.

Literatur

  • Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (mit Verwaltungsvorschrift zum HSOG)
  • Gerhard Hornmann, HSOG Kommentar
  • Helmut Köhler, Bürgerliches Gesetzbuch (66. Auflage)
  • Hans-Peter Bull und Veith Merle, Allgemeines Verwaltungsrecht mit Verwaltungslehre
  • Gerd Heise und Reinhard Riegel, Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes
  • Arne Winkelmann, York Förster, Bernd Belina und Dietmar Kammerer, Gewahrsam: Räume der Überwachung

Weblinks